Und das ist auch schlecht so

Von Hajo Schumacher und Benjamin von Stuckrad-Barre

Das finale Interview: Politiker nutzen solche Gelegenheiten üblicherweise, um ihr Vermächtnis zu formulieren. Doch Klaus Wowereit wäre nicht er selbst, wenn er täte, was alle von ihm erwarten.

Klaus Wowereit, 10. Juni 2001: "Ich bin schwul, und das ist auch gut so."

Heute, dreizehneinhalb Jahre später, würde er es wohl in etwa so formulieren: Manche Menschen, Frauen wie Männer, und zwar weltweit, haben in Bezug auf ihre sexuelle Orientierung sicherlich sehr unterschiedliche Optionen, und es ist selbstverständlich nicht die Aufgabe, das hier und heute zu bewerten, wobei man dazu jetzt einiges sagen könnte, aber man weiß ja nur zu gut, was dann hinterher draus gemacht wird.

Das ungefähr ist der Sound des Regierenden Bürgermeisters in seinen letzten Amtstagen. Nein, es war keine gute Idee, ausgerechnet mit Klaus Wowereit über Klaus Wowereit sprechen zu wollen.

Er sitzt da, auf dem Sofa in seinem Amtszimmer, es handelt sich um ein Ledersofa, aber das Wort "Leder" allein ist natürlich auch schon wieder heikel. Doch, doch - denn wir befinden uns in einer Welt der Paranoia, einem verminten Sperrgebiet absichtsvoller Missverständnisse. Kurzum: in der Politik.

Zwei Journalisten, ein Fotograf, ein Diktiergerät - vier potentielle Feinde also. Seinen Körper hat Wowereit in maximaler Abwehrhaltung aufs Sofa gefaltet, Beine verschränkt, die Standard-Pose all seiner Abschiedsinterviews.

Wowereit pflegt das politische Schweigen

Als Zeuge in eigener Sache ist er befangen. Um sich nicht selbst zu belasten, darf ein Zeuge schweigen; Wowereit macht Gebrauch von diesem Recht, jedoch in der spezifischen Form des politischen Schweigens, nämlich dem wortreichen Nichtssagen, in dieser Fertigkeit hat er mit den Jahren eine beachtliche Perfektion erlangt.

Klaus Wowereit lässt in diesen Tagen nochmal alle vor, auch und speziell jene, die ihn in den letzten Jahren massiv kritisiert und verspottet haben. Das Ritual heißt "Bilanz-Interview". In der Regel versuchen Politiker in solchen finalen Sitzungen, ihr Bild für die Nachwelt in schmeichelndes Licht zu tauchen, ein Vermächtnis zu formulieren. Wowereit formuliert ein graues Nichts.

Spaß scheint ihm gar nichts mehr zu bereiten, schon aus Prinzip, denn auch Spaß steht auf dem Index. Spaß, den er mittlerweile "Freude" nennt, weil das unverfänglicher und weniger schlagzeilentauglich ist, Freude also bereitet ihm, so scheint es, allenfalls noch die Ratlosigkeit, die seine Ausweichmanöver erzeugen. Triumphierend und nicht ohne Herablassung blickt er, wenn er gerade wieder besonders routiniert und bar jeglicher Emotion eine Frage pariert hat.

Leidenschaftlich sind nur Anfänger, die an "Change" glauben

Wenn er sich also ganz offensichtlich nicht einlassen möchte, wozu dann diese große Abschiedstournee? Geht es ihm darum, Frieden zu machen?

War ja nie Krieg, sagt er - und grinst. Aber das Grinsen kann man später nicht abtippen, transkribieren lässt sich von diesem Gespräch einfach nur rhetorische Luftpolsterfolie. Infragestellen jeder Frage, die totale Verweigerung. Seine Lieblingsantwort: "Nee." Weil Ablehnung in der Politik immer auch Autorität bedeutet. Leidenschaftlich sind nur Anfänger, die an "Change" glauben.

Was regiert den Berliner Bürgermeister mittlerweile? Misstrauen. Wie kaum ein anderer Politiker ist er, nicht ohne eigenes Zutun, medial zunächst vergrößert, dann verkleinert und verprügelt worden, mal zu Recht, manchmal auch nur einfach so, weil es mal wieder an der Zeit war.

Sprechend sagt er gar nichts mehr, sein Blick wirkt starr und vermittelt höchstens: Ich weiß, ihr wisst - aber von mir kriegt ihr nichts mehr. Ich habe euch alles gegeben, ihr aber habt mir alles genommen. Er will nicht mehr.

Die Pensionsansprüche werden für Debatten sorgen

Natürlich ist Krieg, auch wenn derzeit eine kurze Feuerpause herrscht wegen Weihnachten und seines Abschieds. Spätestens aber, wenn es um die Pensionsansprüche Wowereits geht, wird das Feuer wieder eröffnet. Wowereit weigert sich standhaft, auch nur ungefähre Andeutungen zu machen, wie er ab dem 1. Januar 2015 bezahlt wird, obgleich die Zahlen öffentlich zugänglich sind. "Das werden Sie ja in verschiedenen Zeitungen noch haarklein ausgerechnet sehen."

Weiß er doch, wie Deutschland über den Ehrensold von Christian Wulff debattiert hat. Die Kommentarlinie der diesbezüglichen öffentlichen Meinung in seinem Fall ist absehbar: Milliarden beim Flughafen versenken, aber sich lebenslänglich die Taschen vollmachen. Er wird sich ungerecht behandelt fühlen. Der Krieg geht weiter. Er weiß das. Und er hat es satt.

Sein durch beträchtliche Verwundungen übersensibilisiertes Frühwarnsystem scheint in jedem Wort eine Unterstellung zu erkennen, in jeder Frage eine Anmaßung, in jedem Gedanken eine Falle. Zusammenhänge, aus denen man etwas reißen könnte, um es anschließend zu skandalisieren, liefert er vorsichtshalber gar nicht erst. Er weiß doch, wie das läuft.

Jede Stimmung, die man ihm fragend anbietet, ob Ernsthaftigkeit, Sachlichkeit, Sentimentalität oder Albernheit, lässt er an sich abperlen. Durchgängig im selben Ton spricht Wowereit, dieser Ton will wohl Gelassenheit vermitteln, klingt jedoch depressiv, teilnahmslos, müde. Wowereit weicht aus ins Ungefähre, "natürlich hat man seine Erfahrungen gemacht".

Vorgezogenene Single-Auskopplung des Sommermärchens

Als er noch "ich" sagen konnte, gelang ihm ein kennedyhafter Aufschlag, "...und das ist auch gut so", so betrat er die politische Bühne, und die ganze Welt war hingerissen. Vieles hatte man den Deutschen zugetraut, nicht aber einen wie Wowereit. Endlich war Berlin wieder wer, diesmal aber jemand Sympathisches. Vorübergehend befriedete er die chronische Identitätskrise der Deutschen, er war die vorgezogene Single-Auskopplung dessen, was 2006 "Sommermärchen" genannt wurde.

Wowereits Coming-out wirkte auch als Schutzschild, eine Weile lang schien er unverwundbar. Jedes böse Wort hätte im Verdacht der Diskriminierung gestanden. Er war nun unser aller "Wowi", und die Verniedlichung des Namens, man kennt das von den Helden des Sports, symbolisiert zumeist den Todeskuss massenmedialer Vereinnahmung: Jogi, Schweini, Bobbele. Oder Poldi - gute Laune auf der Ersatzbank, zu lang dabei, um noch rechtzeitig zurücktreten und vermisst werden zu können. Wowereit ist der Poldi der deutschen Politik. So heftig geliebt und umarmt, bis ihm und uns die Luft wegblieb.

Die zunächst außerordentlich hohen Beliebtheitswerte schufen nichts anderes als eine immense Fallhöhe für den gängigen Verlauf solcher Romanzen zwischen öffentlichem Personal und Öffentlichkeit - nur wer geliebt und idealisiert wird, eignet sich zu anschließender Demontage. Dieser Mechanismus hat in Wowereits Fall eine folgerichtig tragische Spezialpointe: Seit seiner Rücktrittsankündigung steigen seine Beliebtheitswerte wieder.

Langweiler werden höchstens respektiert, jedoch niemals geliebt. Wowereit und auch das Publikum aber wollten mehr und befeuerten gleichermaßen ein Missverständnis mit Dramagarantie. Zwar kann man von Langweiler auf gemäßigt volksnah umschulen, zu besichtigen etwa an Angela Merkel. Umgekehrt aber geht es nicht. Einmal Wowi, immer Wowi.

Dann kam Wowereits Leichtsinnsfehler

Im naiven Vertrauen auf eine lebenslängliche Sympathiewelle unterlief Wowereit früh ein Leichtsinnsfehler: das berühmte Foto mit rotem Damenschuh und Schampus-Pulle. Dieses Bild blieb. Endlich hatte die verklemmte Homophobie ihr Beweismittel. Wowereit gleich "Party", und dieses seither reflexhaft assoziierte Wort insinuierte Orgien aller Art.

Dieses läppische Foto prägte sein Image, diente als monströse Projektionsfläche für Millionen verschwiemelter Fantasien: So sind se, die Schwulen, die faulen Berliner, die Sozis, wenn se an der Macht sind, Bruder Leichtfuß, perverse Dekadenz - und die Zeche zahlt der Länderfinanzausgleich. Das Stereotyp vom "Partymeister" traf einen damals noch verletzbaren Wowereit, der stolz war, morgens meist als Erster im Büro zu sitzen, was nur leider niemand mehr glauben wollte, gab es doch kein Foto, das ihn zeigte, wie er eine Flasche stilles Wasser in einen Leitzordner leerte. Dass sich der Hoflieferant des Boulevards fortan über die Boulevardisierung beschwerte, kam nicht so richtig überzeugend.

Damals begann die Verpanzerung des Klaus Wowereit, die ihn zwar schützte, aber auch auf verhängnisvolle Weise desensibilisierte. Selbst bei ihm Wohlgesonnenen verfestigte sich der Eindruck, dass er zwischen persönlicher Kritik und objektiven Problemen Berlins nicht mehr zu unterscheiden wusste.

Ein ungeheuerlicher Verdacht: Der, den wir Wowi nannten - es hat ihn nie gegeben!

Jetzt die Avantgarde der Verweigerung

Vielmehr bot er für jegliche Definition von Berlin die perfekte Illustration: Er verkörperte, personifizierte, ja, er war Berlin. Charmant, schlagfertig, amüsant, gerissen - wurschtig, pampig, arrogant, schnell beleidigt. Weltweit als Idee beliebt, national als Flughafen-Depp verspottet.

Wowereit, als Avantgarde gestartet, ist auch am Ende seiner politischen Laufbahn noch einmal Avantgarde, und zwar in seinem konsequenten Verweigern von Politik und Haltung. Auf sehr konkrete Fragen antwortet er Dinge wie: "Meinen Kompass brauchen Sie gar nicht kennenzulernen, weil mein Kompass funktioniert." Oder: "Wir haben in Berlin eine Zuständigkeitssituation, die kompliziert ist." Oder: "Gesellschaftlich hat sich das Benutzen von Cannabis verändert."

Normalerweise werden Politiker-Interviews zunächst geführt, dann verschriftlicht und anschließend autorisiert, das heißt: der Politiker gibt seine Worte zur Veröffentlichung frei. Es wird verhandelt, zugespitzt, verschleiert, abgeschwächt. Bei Klaus Wowereit ist all das nicht nötig, denn dieser Prozess findet bereits in seinem Kopf statt, noch bevor er ein Wort gesprochen hat. Heraus kommt eine abwaschbare Formelsprache, ein wortreiches Einerseits-andererseits, also absolut nichts, das - aus Sicht der Medien - zitierfähig beziehungsweise - aus Wowereits Sicht - kampagnenfähig, beziehungsweise - aus Lesersicht - interessant wäre. Ausschließlich solche Worte und Bilder stellt er noch zur Verfügung, die keinerlei Mehrdeutigkeit, Risiko oder zumindest Haltung beinhalten. Die sich zu nichts ge- und also auch zu nichts missbrauchen lassen.

Wir erleben in Reinform: Positionsverweigerung zwecks Unangreifbarkeit, hundertprozentiges Emotionsmanagement statt Intuition, die vollkommene Neutralisierung des Menschen durch das Amt, die Maschinalisierung des Klaus Wowereit. Was, bitte, ist hier los? Was ist passiert mit diesem Mann, der obamagleich die Hoffnung schürte, zumindest der Stil von Politik werde sich ändern? Warum ist seine Sprache nun leerer als die der Kanzlerin?

Warum seine Scheißegal-Attitüde demonstrativer als die Gerhard Schröders? Warum sind Wortwechsel mit ihm so überflüssig wie Putin-Interviews, wo alle Beteiligten wissen, dass ein Treffen alleiniglich des Bildes halber inszeniert wird und die Tonspur surreal ist? Zwar sieht dieser Mensch auf dem Sofa aus wie jener - man mag es kaum noch aussprechen - "Wowi", doch der, den wir kannten oder zu kennen meinten, hat schon lange diesen Körper verlassen. Vor uns sitzt seine Hülle und redet in Hülsen.

Kein Durchkommen. Wenn man Wowereit am Ende seiner Amtszeit so reden hört, denkt man plötzlich, ach, wenn das so ist, dann gibt es ja auch nicht viel zu vermissen, wenn der programmatisch uncharismatische Michael Müller bei der Berlinale mit George Clooney über das Brandenburger Tor oder das Wetter sprechen muss.

Chancenlos gegen den unerbittlichen Mahlstrom

Es ist erschreckend: Die Politik hat selbst Klaus Wowereit kleingekriegt, diesen einst mutigen, frechen, fröhlichen Kraftprotz. Chancenlos gegen den unerbittlichen Mahlstrom aus Akten, Konferenzen, Blitzlicht, Paragrafen, Brüssel, Vorlagen, Etats, Filterkaffee, Entscheidungsebenen, Partei, Gremien, Realität, Medien und noch mal Akten.

Ein letzter Versuch, zu ihm durchzudringen. Gefragt, welcher Abschiedsmoment denn bislang der anrührendste gewesen sei, antwortet Wowereit dann aus Versehen doch einmal konkret, lässt für einen Moment die Deckung sinken: Als sein Sekretariat von seinem Rücktritt erfahren habe, ja, das sei besonders emotional gewesen, dabei seien auch Tränen geflossen.

Doch sein Sprecher sagt im Hinausgehen, diese Sache mit den Tränen im Sekretariat, die müsse er beim Autorisieren natürlich herausstreichen.

Natürlich. Es ist zum Heulen. Aber das darf man nicht aus dem Zusammenhang reißen.