Den Tod fürchtet man nicht mehr

Von Werner Schwab

Vom Leben mit der unheilbaren Krankheit Parkinson in Pflegestufe 3 - Eine persönliche Zwischenbilanz.

Morgens um sieben Uhr nehme ich vier Tabletten, die auf dem Nachttisch bereitliegen. Meine Arme und Beine zittern. Langsam beginnen die Medikamente zu wirken.

Ich kann, wenn auch unter Schmerzen, aufstehen, mich auf den bereitstehenden Rollator setzen und mit Hilfe meiner Frau im Bad die Morgentoilette verrichten. Allein ist mir das, wie auch vieles andere, seit etwa einem halben Jahr nicht mehr möglich. Aus dem Krankenhaus bin ich vor einiger Zeit entlassen worden. Zu der mehrmonatigen Behandlung gehörte auch ein zweiwöchiges künstliches Wachkoma, in dem mein Ich verschwunden war, und ich niemanden mehr erkannte, selbst meine Frau und meine Kinder nicht.

"Pflegestufe 3!" Das steht in einem Schreiben meiner Krankenkasse, das zu Hause liegt. Man hat mich auf Drängen meines Hausarztes, der Neurologen und verschiedener Professoren in diese Stufe eingegliedert. Mich wundert das nicht. Denn ich habe akzeptieren müssen, dass meine Krankheit unheilbar ist. So unheilbar wie zum Beispiel Alzheimer. Ich kann nicht mehr alleine gehen, mich nicht mehr alleine anziehen und duschen, nicht mehr Freunde besuchen und kaum mehr als einige Worte mit der Hand schreiben. Ich gehöre noch zu den Glücklichen dieses Leidens, die nicht hilflos im Bett liegen müssen und sich kaum mehr bewegen können. Ich habe Parkinson. Und werde damit leben müssen. Wie zum Beispiel Box-Weltmeister Muhammed Ali alias Cassius Clay und der einstige CDU-Hoffnungsträger, der Stuttgarter OB Manfred Rommel.

Die eigene Würde bewahren

Vor Jahren hatten meine Beine die Botschaft gesandt. Sie hatten zu zittern begonnen. Ich konnte nicht mehr richtig gehen. "Schlurfe nicht", mahnte mich meine Frau. Es half nichts. Mein Gehirn hatte bereits begonnen, nach Belieben meinen bewussten Willen zu ignorieren. Ich musste das Skilaufen und das Bergwandern aufgeben. Noch dachte ich nichts Schlimmes, sondern wir meinten, es könne sich um eine Kreislaufstörung oder etwas Ähnliches und leicht Heilbares handeln. Bis mir mein Hausarzt bei der jährlichen Kontrolluntersuchung das Urteil mitteilte: "Sie haben Parkinson". Der Neurologe bestätigte es.

Nach einiger Zeit wurde ich in eine neurologische Universitätsklinik eingeliefert, wo in monatelangen Experimenten die richtige Dosierung der Medikamente erforscht wurde, die mir bis heute so weit geholfen hat, dass ich nicht bewegungslos im Bett liegen muss. Ich kann mit Hilfe des Pflegepersonals duschen und Dinge verrichten, die ohne die Pillen, Tropfen und Tabletten nicht möglich wären.

Ich sage hin und wieder meiner Frau und meinen Kindern, ich hätte Frieden gemacht mit meinem Schicksal. Ich wünschte, dem wäre so. Aber immer wieder kommt das Gefühl, als bestimme jemand über mich, der aussieht wie ich, aber doch ein anderer ist.

Auch Patienten der Pflegestufe 3 mühen sich, ihre Würde zu wahren. Auch ich. Aber ich habe Angst, sie eines Tages zu verlieren. Zu enden als ein sich windender, zuckender Mensch, ähnlich einer sich häutenden Schlange. Oder wie ein Klotz, steingeworden, kaum mehr fähig, mich zu rühren und selbstständig die Tabletten zu nehmen, die Pillen und Tropfen zu schlucken, die Massage zu ertragen.

Oftmals helfen Levopoda und Lyrica. Das sind Medikamente, die den Tremor, also das Zucken der Muskeln, verringern, manchmal aufsteigende Schmerzen lindern und die Erstarrung von Gliedmaßen verhindern oder wenigstens verlangsamen. Aber sie können nicht verhindern, dass meine Muskeln ohne Vorwarnung zu zittern beginnen und dann erstarren. Mein Gesicht wird zu einer Maske, die aus kalt gewordener, harter Bronze gemacht ist, und kann nichts mehr ausdrücken, weder Freude noch Trauer, weder Liebe noch Besorgnis wegen der Mühen, die ich meiner Frau, meinen Kindern und den wenigen Freunden mache, die mir geblieben sind. Wie werden sie sich wohl verhalten, wenn ich eines Tages die Fähigkeit ganz verliere, meine Gefühle zu zeigen? Schon seit Monaten brauche ich immer mehr Zeit, meine Gedanken in verständliche Worte zu fassen, und der Parkinson hat mich auch schwerhörig gemacht. Meine Hände können zwar noch Gabeln, Messer und Tassen halten, aber mehr als einige Worte kann ich nicht mehr schreiben. Immerhin gibt es heute Computer, so dass sich manche von uns hier noch verständlich machen können, wenn eine Pflegekraft uns an den Schreibtisch gebracht hat. Aber was wird sein, wenn auch das nicht mehr geht? Es steht mir bevor. Noch hilft es, wenn meine Frau mit einer Hand die meine, ob links oder rechts, fasst, beim Essen oder wenn Gäste da sind, um das Zittern zu beruhigen. Aber was wird sein, wenn auch das nicht mehr geht?

Ein normaler Tag mit Parkinson

Pflegestufe 3. Es ist acht Uhr morgens. Ich bin geduscht, angezogen und mit dem Rollator an den Esstisch gebracht worden. Noch brauche ich nicht gefüttert zu werden wie so viele meiner Leidensgenossen. Ich kann das Brot, den in Kefir gebrockten Zwieback und den Kaffee allein zum Mund führen. Vor Monaten war das noch anders, aber meine Ärzte haben einen Punktsieg über Mister Parkinson errungen. Ich sitze in einem Spezialsessel und lese die Schwäbische Zeitung. Eine Pflegekraft kommt, und eine Heilgymnastikerin macht mit mir Übungen mit Armen und Beinen, um deren Beweglichkeit zu erhalten. Bis zum Mittagessen lese ich. Was soll ich auch anderes tun, da ich an meinen Sitz gefesselt bin. Kriminalromane helfen über die Leere hinweg, aber auch Gedichte. Und obwohl ich meinen Frieden mit Gott noch nicht gemacht habe, lese ich hin und wieder in der Bibel.

Das Mittagsmahl ist bereitet. Das Fleisch ist klein geschnitten. Als Getränk gibt es klares Wasser. Alkohol, selbst Bier, ist tabu. Herr Parkinson könnte mir Schluckbeschwerden verpassen, mich erstarren lassen wie eine Statue oder einen ausgestopften Affen. Aber hin und wieder probiere ich einen Aperitif, der den Namen Löwenzahnblütenwein trägt und mir erstaunlicherweise keine Beschwerden bereitet. In ihrer Einförmigkeit sind sich Vormittag und Nachmittag gleich, und ebenso die Mahlzeiten. Besuche sind selten geworden. Ich bin kein amüsanter Gastgeber, aber das ist mir gleich. Das Fernsehen schalte ich nur zu den Abendnachrichten ein, Parkinson hat mich schwerhörig gemacht.

Angst vor dem Morgen

An den Abenden haben ich und viele meiner Leidensgenossen Angst vor dem kommenden Morgen, auch wenn wir hoffen, an ihm ohne neue und zusätzliche Beschwerden aufwachen zu können. Ich muss wieder Medikamente einnehmen, auch Tropfen, die die zusätzlich nach des Tages Müdigkeit auftretenden Schmerzen lindern sollen.

Eine Pflegekraft oder meine Frau bringen mich gegen 21 Uhr im Rollator zu Bett. Die Nacht wird wie immer unruhig. Die Beine zittern, der Rücken schmerzt, die Arme erstarren, ich wälze mich hin und her und warte auf 22 Uhr, wo ich die erste Lyrica von dreien nehmen kann, die das Leiden beenden und das Schlafen fördern. Im Beipackzettel las ich, die Tablette solle nur in schweren Fällen, unter anderem bei Krebs, genommen werden. Aber das ist mir egal, solange es hilft und mich in den Schlaf wiegt. Denn in den Nächten ist das Wachsein schlimm. Ich hadere mit meinem Schicksal. Suizidgedanken überfallen mich, und ich weiß nicht, wie ich handeln würde, wenn ich in diesen Stunden genügend Morphium hätte. Gibt es einen Trost? Vielleicht dieser: Den Tod fürchtet man nicht mehr. Er ist wohl kein Freund, aber er kann einen erlösen. Man hat gelernt, dem Ende nicht nur ohne Kummer entgegenzusehen, sondern es willkommen zu heißen. Der große Schweizer Dichter Conrad Ferdinand Meyer schrieb, als habe er es selbst erlebt: "Heut ist der erste leidensvolle Tag, / Da ich mich nicht vom Lager heben mag./ ... Fernab die Welt. Im Reiche meines Blicks / An nackter Wand allein das Kruzifix. / An hellen Tagen liebt in Hof und Saal / Ich nicht das Bild des Schmerzes und der Qual; / Doch Qual und Schmerz ist auch ein irdisch Teil, / Das wusste Christ und schuf am Kreuz das Heil. / Je länger ich's betrachte, wird die Last / Mir abgenommen um die Hälfte fast, / Denn statt des einen leiden unser zwei / Mein dorngekrönter Bruder steh mir bei."

Man möge uns verzeihen, wenn wir oft den Dank an unseren Nächsten nicht oder nicht richtig zu formulieren wissen. Zu diesen Nächsten gehört der Hausarzt, der uns regelmäßig besucht, der Pflegehelfer, der auch nachts herbeieilt, wenn wir aus dem daheim aufgestellten Krankenhausbett gefallen sein sollten, und natürlich all die, die unsere immer wieder auftretende Schroffheit schlicht ertragen. Die uns beistehen in unseren Nöten und unserem kranken Egoismus. Und in manchen bitteren Nächten ohne Schlaf, doch auch am Tag hoffen wir, selbst wenn wir nicht an ein bewusstes Weiterleben nach dem Tode glauben sollten, dass uns noch einmal vor dem Tod das Gefühl der wahren Ruhe geschenkt werde - trotz der vielen Enttäuschungen. Dass das in Erfüllung gehen möge, was der Heilige Augustinus in die Worte gekleidet hat: "Unruhig ist mein Herz, bis es ruht in dir, mein Gott!". ... Schön wär's.

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Werner Schwab wurde 1929 in Köln geboren. Nach dem Krieg machte er Abitur am Ravensburger Spohn-Gymnasium, studierte in Aix-en-Provence und volontierte bei der Schwäbischen Zeitung. Nach einer kurzen Etappe bei den Nürnberger Nachrichten kam er als politischer Redakteur zurück zur Schwäbischen Zeitung. 30 Jahre lang, bis zu seinem Ruhestand 1994, leitete er das Ressort Politische Nachrichten. Werner Schwab ist ein Literatur-Besessener. In den 1950er-Jahren publizierte er in den Frankfurter Heften. Nebenbei: Schwab ist einer der besten Karl-May-Kenner Deutschlands. Er lebt heute in der Nähe von Freiburg.