Einer fehlt

Von Sara Reinke

Vater, Mutter und zwei Kinder: Das ist die Familie Häger. Es gibt aber noch ein drittes Kind. Thore - der Jüngste - starb, bevor er leben konnte. In Gedanken ist er trotzdem immer dabei.

Einer fehlt

Es hätte Thores Leben sein sollen. Hier, in dieser Vierzimmerwohnung über zwei Etagen mit Holzofen im Wohnzimmer und gemütlichem Chaos in der Küche. Mit einer sieben Jahre älteren Schwester und einem drei Jahre älteren Bruder, die Eltern seit der Schulzeit ein Paar. Der Vater Industriekaufmann, die Mutter Pharma-Beraterin, am Wochenende machen sie mit der ganzen Familie Fahrradtouren. Mit der ganzen Familie, in der nun immer einer fehlt: Thore. Er starb am 6. April 2011, fünf Monate, bevor er geboren werden sollte.

Linnéa hatte sich so sehr noch ein Geschwisterkind gewünscht. Seit in einer befreundeten Familie das dritte Kind zur Welt gekommen war, war Brüderchen Philipp der Siebenjährigen nicht mehr genug. Doch gerade weil sie so quengelte, beschlossen Christiana und Jens Häger, den Kindern nicht zu sagen, dass Nummer drei schon unterwegs war. "40 Wochen Wartezeit, das ist diesem Alter unerträglich lang", fand Mutter Christiana. Von der Schwangerschaft war bei ihr noch nicht viel zu sehen, da würde es doch reichen, wenn Linnéa und Philipp vielleicht im letzten Drittel davon erführen. Doch soweit sollte es nicht kommen. Die Kinder, die die Eltern vor allzu großer Vorfreude hatten bewahren wollen, mussten plötzlich eine ganz andere Nachricht verarbeiten.

"Thore" war sowas wie ein Arbeitstitel. Dass es ein Junge werden würde, hatte Christiana Häger gleich gespürt. Mit welchem Selbstverständnis das Kind in ihrem Bauch von Anfang an Raum einzufordern schien - das musste ein kräftiges Kerlchen werden. Thore, vom nordischen Donnergott Thor, schien da ein passender Name zu sein. Zumindest einer, über den sie und ihr Mann mal diskutieren konnten. Es war ja noch viel Zeit.

Auf dem Esstisch im Wohnzimmer breitet die 43-Jährige all die Unterlagen aus, die belegen, dass es Thore gegeben hat. Mutterpass, Ultraschallbilder, auch zwei Fotos sind darunter. Die Hebamme hat sie aufgenommen, kurz nach der Geburt. Für Jens Häger, der seinen toten Sohn nie gesehen hat. Für Christiana Häger, als Erinnerung. Und für Linnéa und Philipp, später einmal, vielleicht. Jens Häger konnte die Bilder nicht ansehen. Christiana Häger hat einmal draufgeguckt und sie dann ganz unten in den Unterlagen über Thores viel zu kurzes Leben versteckt. Als sie die Fotos jetzt noch einmal betrachtet, rollen ein paar Tränen über ihre Wangen. Aber ihre Stimme bleibt fest.

Die Bilder zeigen ihre eigenen Hände, zusammengelegt, als wolle sie Wasser aus einem Bach schöpfen. Darin, klein wie ein verletzter Vogel, Thore. 150 Gramm leicht. Die Haut noch durchsichtig, der Kopf durch die Geburt verformt, viel zu klein, viel zu leicht, aber doch ein fertiges Kind. Auf den Ultraschallbildern sah man ihn schon am Daumen nuckeln.

Christiana und Jens Häger hatten gerade mit Blick auf den Familienzuwachs ein größeres Auto bestellt. Irgendwann würden sie zu fünft auch eine neue Wohnung brauchen. Aber erstmal ginge es wohl so. Der Wickeltisch stand noch von Philipp im Schlafzimmer, ein paar der alten Strampler könnten sicher auch nochmal Verwendung finden. "Ich war nur noch nicht dazu gekommen, die Kisten alle durchzugehen und neue Sachen zu kaufen", sagt Christiana heute. "Zum Glück."

Denn dann kam dieses Wochenende, an dem sie sich irgendwie schlapp fühlte. "Mama ist ein bisschen krank", erklärte sie den Kindern und wunderte sich selbst: Kopf- und Gliederschmerzen, Müdigkeit, eigentlich ist sie gar nicht anfällig dafür. Aber diesmal hatte es sie voll erwischt. Grippe halt, dachte sie. Sie würde sich ein paar Tage krankschreiben lassen. Nur sicherheitshalber machte der Arzt auch einen Ultraschall. Danach blieb kaum mehr Zeit zum Denken.

Noch bevor der Arzt etwas sagte, hatte Christiana Häger selbst erkannt, dass da was nicht stimmte. Da, wo Thores Herz hätte schlagen sollen, war nichts zu sehen. Der Mediziner bat sie in einen anderen Raum, da war sie schon erstarrt vor innerer Gewissheit. Ein besseres Ultraschallgerät kam zum Einsatz, der Arzt rief eine Kollegin dazu. Doch so konzentriert sie auch den Monitor fixierten, das Ergebnis blieb das gleiche: der kleine Donnergott war tot. Seit wenigen Stunden wohl erst, die Nabelschnur pulsierte noch. Aber der winzige Körper, den sie versorgen sollte, brauchte die Nahrung nicht mehr. Einfach gestorben, ohne erkennbaren Grund. Und doch unwiderruflich.

Im Geburtsregister des Standesamtes hat das dritte Kind der Familie Häger keine Spuren hinterlassen. Denn bis vor Kurzem lag die juristische Wahrnehmungsgrenze für totgeborene Kinder bei 500 Gramm Geburtsgewicht. Alles darunter war in aller Brutalität der medizinischen Sprachgepflogenheiten "organischer Abfall". Eine namenslose Fehlgeburt, ein Irrtum der Natur, den es schnellstmöglich zu verbrennen und vergessen galt.

Auf zahlreichen Internetforen schlugen deshalb die Wellen der Empörung hoch. Mütter, die ein "still geborenes" oder "Sternenkind" zur Welt gebracht haben, möchten wenigstens einen Namen haben, um den sie trauern können. Paare wünschen sich einen Ort, an dem sie Kerzen anzünden und Kuscheltiere niederlegen können. Und über eine Zukunft nachdenken, die zur Vergangenheit wurde, bevor sie Gegenwart war.

Wie groß, wie alt, wie schwer ein tot geborenes Kind sein muss, bevor man es vermissen darf - wer will das entscheiden? Sollte die Grenze nicht lieber da liegen, wo ein ungeborenes Kind in den Gedanken der Familie schon einen festen Platz gehabt hat? Viele aufwändig gestaltete, manchmal lyrische, immer bunte Erinnerungsseiten im Internet erzählen Geschichten von Kindern, die es juristisch nie gegeben hat. Mütter, die schon das Mobile über das Gitterbett gehängt hatten, als in der Schwangerschaft plötzlich etwas schief ging, tauschen sich mit solchen aus, die zwei-, drei-, viermal ihr Kind verloren haben, als es noch kaum mehr war, als ein großer Zellhaufen. "Pia - mit Sternchen und Halb-Acht", unterschreibt eine zweifach verhinderte Mutter ihren Beitrag im Forum. Und man kann nur mutmaßen, ob "Halb-Acht" ein erwartungsvoll vergebener Kosename für ein ungeborenes Kind war, das den Bauch der Mutter bereits in eben dieser Position hängen ließ. Oder ein nachträglich gewählter Ersatzname für eines, das den achten Schwangerschaftsmonat nur zur Hälfte überlebte. Wer will da noch wissen, was dieses Kind gewogen hat?

Einem Ehepaar aus Hessen ist es zu verdanken, dass die 500-Gramm-Regelung jetzt aufgehoben wurde. Seit Mitte Mai können Eltern selbst entscheiden, ob sie ihr früh verlorenes Kind auch dann beim Standesamt registrieren und regulär bestatten lassen wollen, wenn es diese Gewichtsgrenze nicht erreicht.

Für Thore kam diese Entscheidung zu spät. Sein Name steht nicht im offiziellen Geburtsregister, nicht auf einem Grabstein. Aber auf einem Ring, den Christiana Häger sich hat anfertigen lassen, zur Erinnerung an das Kind, das sie nie kennenlernen durfte.

† 6. 4. 2011 Thore *7. 4. 2011

lautet die eingravierte Inschrift. Sie haben lange diskutiert, welches Datum vorne stehen soll. Und sich dann für die chronologisch richtige Reihenfolge entschieden. Auch wenn sie einem schon beim Lesen widerstrebt.

An dem Tag, als Christiana Häger mit der vermeintlichen Grippe zum Arzt ging und mit der schlimmsten aller Diagnosen wiederkam, dauerte es lange, bis sie sich soweit beruhigt hatte, dass sie ihren Mann anrufen konnte. Ob er mal kommen könnte, es gehe ihr nicht gut. Mehr wollte sie am Telefon nicht sagen. Jens Häger ist ein ruhiger Typ, der, wenn ihn etwas überfordert, immer nur noch stiller wird. Christiana Häger ist eher eine, der es hilft, ganz viel zu reden. In 25 gemeinsamen Jahren haben sie viele kleine und größere Katastrophen zusammen durchgestanden. Jeder auf seine Art. Schon bei der Geburt von Tochter Linnéa war einiges schiefgelaufen, das Leben des Kindes hing über Wochen am seidenen Faden. Wäre es bei Philipp ähnlich gelaufen, hätten sie vielleicht gar kein drittes Kind geplant. Nun aber traf sie dessen Tod mit voller Wucht. Am selben Tag noch fuhren sie ins Krankenhaus, noch ein Ultraschall, immer noch kein Wunder. Stattdessen eine nüchterne Terminabsprache und die Frage, was mit dem toten Kind passieren solle.

"Organischer Abfall", diese Bezeichnung wird Christiana Häger nie vergessen. Sie stellte sich vor, wie ihr kleiner Sohn zusammen mit herausgenommenen Blinddärmen und Mandeln in einem großen Eimer landet. Und griff, ohne viel nachzudenken, dankbar nach der einzigen Alternative: einer Sternenkinder-Bestattung. Dass der nächste Termin erst drei Monate später war, stand auf dem schnörkellosen Infoblatt verzeichnet, das man ihnen in der Klinik gab. Aber richtig realisiert haben sie das in diesem Moment nicht.

Sie fuhren nach Hause, völlig zerschlagen, Christiana legte sich ins Bett. "Das ganze Adrenalin war plötzlich weg, ich wollte nur noch schlafen." Am nächsten Tag fuhr sie allein ins Krankenhaus. Jens Häger musste die Kinder hüten oder war jedenfalls froh, dass er das so sagen konnte. Drei Stunden bis drei Tage könnte die medikamentös eingeleitete Geburt des toten Kindes dauern, hatte die Oberärztin ihnen erklärt. Da musste ja einer zuhause bleiben. "Wenn ich darauf bestanden hätte", sagt Christiana, "wäre er mitgekommen. Aber es war in Ordnung so." Es gab ohnehin nichts mehr, was ihr hätte helfen können.

Die Geburt hat sie in furchtbarer Erinnerung, aber fast noch mehr die Stunden danach. Als sie nach dreieinhalb Stunden Wehen und Schmerzen für nichts und wieder nichts allein in einem Krankenzimmer lag und sich einfach leer fühlte. Doppelt leer. Als Pharma-Beraterin hat die 43-Jährige viel mit Psychia-tern und Psychologen zu tun. Auch ihr eigenes medizinisches Wissen ist groß. Sie erkennt eine Depression, wenn sie sich leise anschleicht. Bei ihr polterte sie ohne anzuklopfen in den Raum. Genau in diesem Moment.

Sie hatte noch Abschied genommen von Thore, ihn in den Händen gehalten, eine Kerze angezündet. Hebamme und Ärztin waren dabei, haben ihr hinterher eine Karte gebastelt. Vorne sind Blumen abgebildet. Keine Glückwunschkarte, aber auch keine Kondolenzkarte. Auf der Rückseite ein Fußabdruck von Thore: kaum größer als der Daumennagel einer Männerhand.

Drei Wochen sollte es danach dauern, bis Christiana Häger überhaupt wieder am Leben teilhaben wollte. Emotionslos, empathielos, desinteressiert, ließ sie bis dahin den Alltag an sich vorbeiziehen. Linnéa und Philipp waren es, die sie daran hinderten, ganz in ihre düstere Gedankenwelt abzutauchen. Und die langen Gespräche mit allen, die sich ernsthaft für sie interessierten. Das ist es, was sie anderen rät, die in eine ähnliche Situation geraten. Und allen, die diesen Menschen helfen möchten. Darüber reden. Immer wieder, wenn es sein muss. Verletzend waren die, die alles nicht so schlimm fanden. "Wozu braucht das Kind einen Namen?" oder "Ihr habt doch noch zwei andere" waren für die trauernde Mutter die schlimmsten Kommentare.

Als sie schon wieder arbeiten ging, lag Thore noch immer in irgendeinem Kühlhaus. Bis zum 2. Juli musste die Familie warten, bis sie endlich so etwas wie einen Abschluss finden konnte. Inzwischen hatten die Eltern auch Linnéa und Philipp erzählt, was passiert war. Philipp, drei Jahre alt, beruhigte die Vorstellung, dass der geliebte Opa, von Beruf Tischler, nun im Himmel nicht mehr allein war. "Vielleicht bauen die beiden was zusammen", sagte er. Linnéa, sieben Jahre, war sauer. Nicht wegen des verhinderten Geschwisterchens, sondern auf die Eltern. Warum hatten sie dem kleinen Bruder nur einen Vornamen gegeben und nicht zwei, wie sonst in der Familie üblich?

Auf dem Nordfriedhof kauert Christiana Häger jetzt an einem kleinen Massengrab. 16 Sternenkinder sind hier am gleichen Tag in einer ökumenischen Zeremonie bestattet worden. Wenn sie die Eltern richtig gezählt hat. Christiana und Jens Häger kannten vorher niemanden von den anderen Sterneneltern und haben auch jetzt keinen Kontakt. Die einzige Gemeinsamkeit besteht in einem blau-bemalten Kindersarg, kleiner als ein Umzugskarton, in dem 16 Zukunftsträume begraben liegen. Zur Melodie von "Weißt du, wieviel Sternlein stehen?", flossen am Tag der Beerdigung Tränen, danach kamen offenbar die meisten Eltern nie wieder her. Der Großteil des Grabschmucks stammt von Thores Familie. Bei schönem Wetter fahren sie oft alle zusammen mit dem Fahrrad her. Linnéa rast dann ohne hinzugucken auf dem Radweg lang, immer muss man Angst haben, dass sie stürzt. Aber was ist schon ein aufgeschürftes Knie?

Manchmal fragen sich die Eltern, ob Thore so geworden wäre wie seine große Schwester. Oder vorsichtiger, besonnener, wie sein Bruder Philipp. Oder noch wieder ganz anders? "Am Anfang konnte ich es kaum aushalten, Mütter mit ihren Babies zu sehen", sagt Christiana Häger. Inzwischen aber macht es ihr nichts mehr aus, wenn sie einer Familie mit drei Kindern im passenden Alter begegnet. "Guck mal", sagt sie dann zu ihrem Mann, "so wäre es bei uns jetzt auch." Eine wehmütige Beobachtung, aber in ihr schwingt keine Verbitterung mit. Ein weiteres Kind hatten sie nach Thore nicht gewollt. Er ist nicht da, wo er sein sollte, aber in Gedanken gehört er trotzdem zur Familie. Als Linnéa in der Schule einmal einen Stammbaum zeichnen sollte, malte sie den Namen des zweiten Bruders ganz selbstverständlich dazu. T