Das tollere Ich

Von Julia Friedrichs

Weniger schlafen, produktiver arbeiten, besser leben: Wie Menschen sich mithilfe der Technik selbst optimieren.

Brian Fabian Crain, Programmierer und Doktorand der Psychologie, 27 Jahre alt, braucht nur Sekunden, um das schlechte Gewissen seines fehlbaren Gegenübers zu aktivieren. Er nippt am grünen Tee, Kaffee lehnt er ab. Sein blonder Fünftagebart ist perfekt gestutzt, das Gebiss strahlend weiß, der Körper schlank und durchtrainiert. Crains Ziel ist es, ein besserer Mensch zu sein. Wie, das beschreibt der Berliner so: "Mehr und besser arbeiten, gesünder sein und glücklicher, eine gute Beziehung führen und die Zeit besser verbringen. Kurz: Ich will mir bewusst sein, wie ich lebe."

Wie schön das klingt!

Wer möchte nicht gesünder, bewusster und glücklicher sein? Im Unterschied zur bräsigen Masse versucht Crain aber jeden Tag ernsthaft, sich an diese immer perfektere Version seiner selbst Zentimeter für Zentimeter heranzuarbeiten.

Crain ist ein Selbstoptimierer. Und damit ein Prototyp des modernen Individuums. Er weiß, dass die Gegenwart ihm tausend Möglichkeiten bietet. Und er ist entschlossen, aus seinem Dasein das Maximum herauszuholen. Damit er seinem Ziel nicht untreu wird und sich selbst entwischt, kontrolliert er sich rund um die Uhr mithilfe seines ganz persönlichen Überwachungstrupps, bestehend aus kleinen Maschinen: Sensoren, die er am Körper trägt, Programmen auf seinem Laptop, Apps auf dem Smartphone.

Wenn Crain sich bewegt, zählt ein kleiner Stick am Bund seiner Jeans jeden Schritt: 5200 hat er heute schon getan. Zwischen 8000 und 18.000 Schritten liegt sein tägliches Soll. Immerhin an die 14 Kilometer. Dieser Stick, sagt er, motiviere ihn, mehr zu laufen.

Auch die Arbeit unterliegt der Quantitätskontrolle: Wenn er sich an den Schreibtisch setzt, öffnet Crain ein Programm, das er "Produktivitäts-Log" nennt. Jede halbe Stunde notiert er, was er gemacht hat, und bewertet die eigene Effizienz. Grafiken zeigen ihm, wie viel er in der letzten Woche geschafft hat. Wie viel im letzten Monat. Wie viel im ganzen Jahr. Das Programm, sagt er, bringe ihn dazu, konzentrierter zu arbeiten.

Selbst über die Freizeit legt Crain sich Rechenschaft ab, dazu nutzt er einen Internetdienst. Der kontrolliert, ob er einmal pro Woche fastet, ob er tatsächlich jeden Monat ein Buch liest und verlässlich jeden zweiten Tag Türkisch lernt, wie er sich das vorgenommen hat. Immer und überall kann er die Diagramme einsehen, die seine gesetzten Ziele mit dem Geleisteten abgleichen.

Wenn Crain am Abend ins Bett geht, ist immer noch nicht Ruhe: Er legt sich ein schwarzes Stirnband um. Dieses misst seine Gehirnaktivität und sendet die Daten auf sein Handy. Am Morgen begrüßt ihn eine Grafik seines Schlafmusters: Montag, steht dann da, 73 Minuten Traumphase, 120 Minuten Tiefschlaf, 156 Minuten Leichtschlaf, 5 Mal aufgewacht. Der Schlafmesser, erzählt er, habe ihm geholfen, seine Schlafdauer auf durchschnittlich fünfeinhalb Stunden pro Nacht zu senken. Er schläft jetzt offenbar schneller.

"Das alles hilft mir in meinem Leben extrem", sagt er. "Wenn ich sehe, dass ich meine Ziele erreiche, macht mich das glücklich. Früher hatte ich immer ein gewisses Schuldgefühl, weil ich dachte, ich arbeite nicht genug oder ich verschwende meine Zeit. Und jetzt, da es messbar ist, kann ich mich endlich kontrollieren."

Brian Fabian Crain ist nicht nur ein Selbstoptimierer. Er ist auch ein Selbstvermesser oder "Self-Tracker", wie er es nennen würde. Man könnte ihn obendrein als Trendsetter bezeichnen. Denn langsam, aber stetig erreicht eine Bewegung das alte Europa, die vor sechs Jahren im Silicon Valley, Kalifornien, ihren Ausgang nahm. "Quantified Self - Selbsterkenntnis durch Zahlen" nennt sie sich. Und sie vereint zwei große Trends unserer Zeit: den Wunsch nach menschlicher Perfektion mit dem Glauben an die Segnungen digitaler Technologie. Gary Wolf, einer der Gründer von Quantified Self, schreibt in der New York Times: "Normalerweise schlägt man einfach nur wild um sich beim Versuch, etwas in seinem Leben zu verändern. Beginnt man aber, verlässliche Daten über sich selbst zu sammeln, ändert sich alles."

Die Idee, sich selbst mithilfe von Protokollen zu kontrollieren, ist uralt: Auch Goethe hatte eine Art Zwang zur Tagesbilanz

Und auch der Berliner Crain hält sich für einen Pionier bei der Erfüllung des alten Menschheitstraums, die Kluft zwischen Wollen und Handeln zu überwinden. Gut vorstellbar, dass Crains Verhalten demnächst die Norm sein wird. Noch mag es vielen fremd erscheinen, den eigenen Körper, den Geist, ja den Schlaf obsessiv zu überwachen. Noch lauscht man einem wie Crain zwar voll Bewunderung, doch am Ende eher irritiert und verstört. Aber was, wenn Crain wirklich Avantgarde ist?

Die Optimierungspraxis sei an die Stelle der alten Glaubenslehren getreten, sagt der Philosoph Peter Sloterdijk. Er nennt dieses permanente Nach-oben-Streben "Vertikalspannung". Nachdem alle Ideologien ausgedient hätten, bleibe dem freien Menschen bloß mehr diese eine große Metaidee: Mach das Beste aus dem eigenen Leben. Manche lehnen dieses Prinzip als pure Leistungsideologie ab. Sie fürchten, der Mensch könnte sich den Gesetzen von Markt, Effizienz und Anpassung - kurz: einer totalitären Kontrolle - bedingungslos unterwerfen. Andere sehen in permanenter Selbstüberwachung und Selbstverbesserung eine letzte Bastion des Individuums: Die Hoheit über den eigenen Körper und das eigene Tun sei in einer unüberschaubaren Welt mit ihren unkontrollierten Dynamiken das letzte Feld persönlicher Autonomie. Wieder andere bejubeln die Chancen und Herausforderungen der Disziplinierung und beschwören ungeahnte Fähigkeiten, die der Mensch entwickeln könnte, stünde ihm nicht die eigene Willenlosigkeit und Trägheit im Wege.

Die Idee, sich selbst mithilfe von Protokollen zu kontrollieren, ist uralt: Auch im 37-jährigen Goethe erwachte 1796 eine Art Zwang zur Tagesbilanz. Mehr als 35 Jahre lang notierte er Tag für Tag den Fortschritt seiner Werke, aber auch mit wem er wann zum Essen, zum Tee oder zum Gespräch beisammensaß und welche Spazierwege er zur Erholung abschritt. Über den - völlig willkürlich ausgewählten - 30. Juni 1810 erfährt man: "Wanderjahre. Mittags bei Hofrat Joel, in Gesellschaft von Fürst Moritz Liechtenstein, Kinsky, Graf Colloredo, Polizeikommissär Hoch. Paket nach Lauchstädt an meine Frau durch Herrn von Helldorf, mit Schokolade, Pfeffermünze und einem Glase nebst Brief. Spazieren." In diesem Stile füllte Goethe Tausende von Seiten. Bis das Protokoll sechs Tage vor seinem Tod im Jahr 1832 mit den schlichten Worten endet: "16. März: Den ganzen Tag wegen Unwohlseyns im Bette zugebracht."

Der dritte amerikanische Präsident Thomas Jefferson führte 56 Jahre lang penibel Buch über seine Ausgaben: "Herrn Byrne bezahlt für sechs Wochen Rasur", steht da. Selbst am 4. Juli 1776, dem Tag also, an dem die Kolonien die von ihm selbst verfasste Unabhängigkeitserklärung verabschiedeten, nahm Jefferson sich Zeit, aufzuschreiben, dass er einige Münzen für ein Thermometer und ein Paar Handschuhe ausgegeben habe.

Auch der Gedanke, ein Massenpublikum zu solcherlei Treiben anzuhalten, ist nicht neu: Am 1. April 1927 brachte der Münchner Psychologe und Ökonom Gustav Großmann das Buch Sich selbst rationalisieren. Lebenserfolg ist erlernbar auf den Markt. Es gilt als Pionierwerk des standardisierten Selbstmanagements und erscheint mittlerweile in der 28. Auflage. Großmann empfiehlt darin dringend die Anschaffung eines von ihm selbst vertriebenen orangefarbenen Lederheftchens, des sogenannten "Glückstagebuchs". Darin möge der Erfolgsuchende jeden Tag penibel im Vorhinein planen und rückblickend protokollieren.

Planen, beobachten, überprüfen - das ist auch heute noch die Grundidee der meisten Programme zur Selbstmaximierung. 17.000 Anhänger soll Großmann persönlich gecoacht haben. Nicht schlecht. Aber das sind alte Zahlen - Zahlen aus einem versunkenen, dem analogen Zeitalter. Nutzerzahlen, über die die Generation der digitalen Selbstoptimierer nur angestrengt lächeln kann. Allein in den USA sind es mittlerweile 35 Millionen Menschen, die computergesteuert am eigenen Ich basteln. Die allermeisten davon männlich.

Goethe, Jefferson und Großmann verfassten ihre Pläne und Tabellen auf Papier - einem limitierten Datensammler also. Zwar füllten sie Regale mit Heften und Büchern, mit der Zeit aber verblichen doch all die mühsam gefertigten Protokolle. Goethe, Jefferson und Großmann kannten keine Excel-Tabellen, die ihre Fortschritte auswerten konnten. Hatten keinen Zugriff auf Tages- und Wochenanalysen, konnten sich nicht mit anderen austauschen, und - ganz wichtig - sie konnten sich nicht mit anderen vergleichen. Das alles ist erst möglich, seit uns Maschinen zu Diensten sind: Sensoren, die Messungen übernehmen. Smartphones, die Daten aufsaugen. Algorithmen, die den Zahlenwust in Kurven umdeuten, und Rechner, die diese in Terabyte gebannte Selbstbespiegelung konservieren.

Das digitale Tagebuch Daytum zum Beispiel lässt sich per Smartphone und PC füttern. Der Gründer Nicholas Felton veröffentlicht die Leistungsschau seines eigenen Lebens seit 2005 online in immer ausgefeilteren Grafiken. Ein schmaler Auszug aus seiner Jahresbilanz 2012: Felton besuchte 496 verschiedene Orte. Er aß in 103 Restaurants, am häufigsten im Fuki Sushi im kalifornischen Palo Alto. Er notierte Gespräche mit 488 Menschen, besonders oft redete er mit einer Dame namens Olga. Seine tägliche Produktivitätsrate lag bei 49,3 Prozent, am meisten schaffte er mittwochs. Er machte 2801 iPhone-Fotos mit zwei verschiedenen Handymodellen, wobei sein meistfotografierter Tag der 5. Juni war. Und er schlief in diesem Jahr 2814 Stunden - fast immer allein. Ob seine Gespräche mit Olga liebevoll waren, seine Produktivität sinnvoll und das Essen im Fuki Sushi sein Geld wert war, ist irrelevant. Und auch, ob er gerne alleine schläft. Nur die Quantität zählt. Inzwischen gibt es Anbieter digitaler Tagebücher zuhauf: Day One ist eine der begehrtesten Apps des vergangenen Jahres.

Auch Jeffersons Haushaltsbuch hat einen digitalen Nachfolger: das Programm Mint. Zehn Millionen Nutzer hat die Firma inzwischen. Sie alle treibt der Wunsch, den schon der Präsident hegte: die eigenen Finanzen auf Heller und Cent zu kontrollieren. Wer dem Programm Zugang zu Kontoauszügen und Kreditkartenrechnungen gewährt, dem zeigt es laufend an, ob er durchschnittlich mehr ausgibt, als er einnimmt, und wie viel er für Kleidung, Essen und Miete zahlt. Wie eine gestrenge Hauswirtschafterin schickt Mint dem User mahnende Kurznachrichten aufs Handy, wenn etwa die Kosten für Restaurantbesuche das Limit zu sprengen drohen. Andererseits kommen Belobigungen, wenn er auf einen Urlaub gespart hat. Auf Wunsch errechnet Mint sogar, ob der Nutzer mehr ausgibt als andere, die ähnlich viel verdienen oder in derselben Stadt wohnen. Was den Nutzer offenbar nicht beunruhigt, ist, dass er zum gläsernen Menschen geworden ist und nur hoffen kann, dass seine Daten nicht den Falschen in die Hände fallen.

Am beliebtesten aber sind jene Kontrollprogramme, die versprechen, beim Fit-, Schön- oder Gesundwerden zu helfen. Lose it!, eine beliebte Abnehm-App, feiert online die 22 Millionen geschmolzenen Pfunde seiner Nutzer. Auf der Seite Nike+ vergleichen sich inzwischen zehn Millionen Menschen miteinander. Ihre abgearbeiteten Kilometer werden von Sensoren in den Sportschuhen gemessen, die Fitnesspunkte von Aktivitätsmessern in Armbändern oder Uhren gezählt.

Der steigende Bedarf an digitalen Werkzeugen, die dem Menschen bei der eigenen Bändigung helfen, sei eine logische Reaktion auf eine Zeit, "in der es mehr Versuchungen gibt denn je", schreibt der amerikanische Psychologe Roy Baumeister in seinem Bestseller Die Macht der Disziplin. Der Mensch sei schlicht überfordert. Am Arbeitsplatz locken das Maileingangsfach, das Videospiel oder die Newsseite zur Zerstreuung. Im Supermarkt winken all die fetten, zuckrigen, bunten Waren. Zu Hause die unzähligen Freizeitoptionen. Baumeister hat an der Florida State University in zahlreichen Experimenten erforscht, unter welchen Bedingungen der Wille des Menschen erlahmt. Er glaubt: Das permanente Entscheiden, das ständige Widerstehen erschöpft uns. Der Wille, so Baumeister, sei wie ein Muskel, der langsam ermüdet, wenn er überstrapaziert wird. Nur durch beharrliches Training lasse er sich langfristig stärken.

In Baumeisters Diagnose zeigt der entfesselte Kapitalismus seinen Januskopf: Er produziert ein Übermaß an käuflichen Verführungen und verkauft den Menschen gleichzeitig die Kandare für ihre eigene Disziplinierung. Verdient wird in jedem Fall.

Für alle, die sich keinen persönlichen Mentalcoach leisten können, erscheinen diese Selbstdisziplinierungsprogramme wie ein Segen. Auch Roy Baumeister glaubt, dass Menschen, die ihren Willen stählen, "nicht nur produktiver", sondern letztlich "auch glücklicher" seien. Und, mehr noch, dass die kleinen digitalen Helfer die ganz großen Probleme lösen: zwanghaften Konsum, Verschuldung, Gewalt, Versagen in Schule und Arbeit, Sucht, Fehlernährung, Unbeweglichkeit. All diese Leiden haben, so Baumeister, eine gemeinsame Ursache: den Mangel an Selbstdisziplin. Die digitalen Wunderwaffen könnten uns, hofft Baumeister, von der Geißel der inneren Schwäche erlösen. Und dann erzählt er noch die Erfolgsgeschichte des amerikanischen Schriftstellers Drew Magary, an der jeder Puritaner seine Freude hätte: Magary wog sich täglich und stellte sein Gewicht bei Twitter ein. Die Kombination aus digitaler Kontrolle und drohender öffentlicher Blamage führte zu einem Gewichtsverlust von 25 Kilogramm in fünf Monaten.

Auf dem Tisch eines Hamburger Cafés häufen sich Sensoren, Gurte und Mess-Sets. Sie gehören Philipp Kalwies und Arne Tensfeldt, beide 31. Beide im Anzug. Beide das blonde Haar kurz rasiert. Beide schwören seit Jahren auf die Selbstoptimierung. Gerade hat Tensfeldt seinen Körper wieder auf Linie gebracht: Während der Schwangerschaft seiner Frau hatte auch er zugenommen. Zehn Kilogramm sollten nun weg. Tensfeldt wollte jeden Tag 500 Kalorien mehr verbrennen als verzehren. "Diese Differenz ergibt einen errechenbaren Gewichtsverlust pro Zeiteinheit. Schon zu Beginn meines Abnehmprojekts konnte ich daher genau festlegen: In drei Monaten würde ich mein erwünschtes Gewicht erreicht haben." Ein Sensor an seiner Jeans zählte von da an seine Schritte und rechnete sie in verbrauchte Kalorien um. Tensfeldt wog alles, was er aß und trank, ab, eine App errechnete den Nährwert. Ein Programm im Handy summierte die beiden Tageswerte. Drohte er sein Ziel zu verfehlen, erschien auf seinem Display ein Tachodiagramm, das ihm anzeigte: Du bist im roten Bereich. Nicht mehr weiteressen! Arne Tensfeldt zieht sein Smartphone aus der Tasche. Stolz zeigt er eine blaue, stetig abfallende Kurve. "Mein Wert ist planmäßig gesunken", sagt er. "Auf 80 Kilo, das hatte ich mir vorgenommen."

"Ding. Dong. Gewonnen", sagt Philipp Kalwies. "Man engineert mit den Geräten seinen Body. Man optimiert die Prozesse. Ein Controlling. Wie in der Betriebswirtschaft." Er öffnet ein Etui, das auf dem Tisch liegt. "Blutzuckermessung", sagt er. "Ein hervorragendes Mittel, das ich lange exzessiv genutzt habe." Ein Stich in den Finger, und Kalwies' Blut tropft auf ein Teststäbchen. Eine Zahl leuchtet auf dem Display: 5,6. "Auweia, das ist ultraviel", sagt er. Der Wert sollte zwischen vier und fünf liegen. "Der Kaffee!", er zeigt auf die Tasse vor sich. Seit Monaten verfolgt er gebannt, wie sich seine Ernährung auf den Blutzuckerspiegel auswirkt. Seine Erkenntnis: Kaffee treibt den Wert nach oben. "Ich will einfach wissen, was in mir passiert", sagt er. "Mein Ziel ist es, so viele Daten wie möglich über mich selbst zu sammeln." Das klingt nach dem Forscherdrang einer narzisstischen Generation. Die Anteilnahme gilt vor allem dem eigenen Ich, der Körper wird zum Fetisch, die Konzentration bleibt am Mann. Am Kaffeetisch nimmt plötzlich eine Frage Platz: Was wäre wohl los, kämen all der Erfindungsreichtum, all die Fantasie, all die Kraft, das Geld und die Zeit, die Selbstoptimierer in sich selbst investieren, anderen zugute? Ding. Dong. Verloren.

Am meisten hat ihn überrascht, dass er täglich eine Dreiviertelstunde auf Bus und Bahn wartet. "Lost time!"

Arne Tensfeldt hat gerade mit fünf verschiedenen Zeitmessern experimentiert und seinen Tag lückenlos dokumentiert. Er weiß jetzt: Wie viel Zeit hat er mit Arbeit verbracht? Mit Pausemachen? Mit der Familie? Mit der Körperpflege? Am meisten hat ihn überrascht, dass er täglich eine Dreiviertelstunde auf Bus und Bahn wartet. Lost time! Seither steht er nicht mehr bloß rum, sondern schreitet den Bahnsteig auf und ab und dreht ein paar Runden an der Haltestelle. "Wenn ich das konsequent mache, habe ich wieder mehr Kalorien verbrannt und meine Zeit effizienter genutzt." Er strahlt. "Effizienz ist wesentlich", sagt Kalwies. "Effizienz ist dein Zielerreichungsgrad." - "Nichts hat mich so motiviert wie das Gefühl, Vorgänge optimal steuern zu können", sagt Tensfeldt. Beide sehen sehr zufrieden aus. Nur: Welche Ziele werden hier verfolgt? Warum liest der eine an der Haltestelle nicht ein Buch? Vielleicht weil man Gewicht leicht messen kann, nicht aber den Zuwachs an Weisheit. Die entzieht sich den Kategorien der Effizienz.

Christian Reber, 27, Programmierer aus Brandenburg, hat aus der Selbstoptimierung ein Geschäft gemacht. Mit Freunden hat er vor drei Jahren die Firma 6Wunderkinder gegründet. Ihr Ziel: ein Programm, mit dem jeder sein Leben organisieren kann. Eine Art digitales Selbstmanagement. "Man unterscheidet heute nicht mehr zwischen Privatleben und Beruf", sagt Reber. "Er will nur noch wissen: Wo sind meine Aufgaben? Was habe ich zu tun? Bin ich produktiv oder nicht?" Es sieht so aus, als ob Reber und Co. mit diesem Gedanken goldrichtig lagen: "Holy cow, we're millionaires!", feierten sich die Wunderkinder nach 275 Tagen, da hatte ihre Wunderlist schon "one million users" und wuchs schneller als Twitter. Inzwischen haben 4,5 Millionen Menschen das digitale Selbstmanagementprogramm heruntergeladen. Und Christian Reber, der aussieht wie viele junge Männer in Berlin - grünes Shirt, kurze Hose, Sneakers -, ist Geschäftsführer eines Unternehmens, in das allein die Investorengruppe Atomico 4,2 Millionen Dollar pumpt.

Reber sitzt auf dem Sofa im Besprechungsraum. Er schwitzt. Es ist eng. Die Firma wächst zu schnell. Eigentlich sollte sie schon längst auf das Gelände einer umgebauten Brauerei umgezogen sein, aber das Gebäude ist nicht rechtzeitig fertig geworden. Etwas, wofür man hier kein Verständnis hat. Wie fast alle in seiner Firma hat auch Christian Reber ein Armband mit Sensor am Handgelenk. Die Bändchen sind offenbar eine Art Erkennungsmerkmal der neuen Leistungsträger.

"Das Ziel jedes Einzelnen muss sein, mehr zu schaffen, produktiver zu werden", sagt Reber. "Der Arbeitsmarkt ändert sich, Unternehmen werden effizienter, Menschen werden durch Maschinen ersetzt." Da müsse der Mensch eben besser werden, um mithalten zu können. Wir alle werden bald wie Tagelöhner arbeiten, glaubt Reber: "Du hast deine App, siehst ein Job-Offer und loggst dich ein." In solch einem Leben haben Defizite keinen Platz. Genauso wenig wie Schwerfällige, Langsame - und Nachdenkliche. Wo werden sie bleiben, die Langeweile, die sinnlose Kreativität, die Webfehler und Künstlerpausen des Lebens, aus denen Neues und Großes entsteht?

Und wo bleibt die Revolte gegen diese Vernutzung? Längst beherrschen wir die kleinen Rechner nicht mehr, sie beherrschen uns. In diesem Februar hat die Berliner Sparkasse über 300 Mitarbeiter mit digitalen Schrittzählern ausgestattet. 10.000 Schritte am Tag sollen ihre "Fitness steigern und die Krankheitsquote senken". Auch das Jobcenter in Brandenburg an der Havel verteilte Schrittzähler zur Mobilisierung von 18 Langzeitarbeitslosen. Die amerikanische Apothekenkette CVS verlangt in Zukunft von Mitarbeitern, die eine betriebliche Krankenversicherung abschließen, deren Gewichtsdaten, Blutzuckerspiegel- und Körperfettwerte. Wer sich weigert, zahlt 50 Dollar mehr im Monat.

Aviva, die sechstgrößte Versicherung der Welt, gewährt Autobesitzern, die ihren Fahrstil von einer App kontrollieren lassen, 20 Prozent Rabatt. Und die AOK Nordost kooperiert als erste deutsche Krankenkasse mit einer Plattform, auf der die Nutzer Bewegungsmodus, Ernährung, Schlaf und Stress vermessen und in einen "Health Score" umrechnen. Vor allem junge Versicherte sollen so "zu einem gesunden Lebensstil angehalten werden".

Der Schweizer Peter Ohnemus, Gründer und CEO der Firma Dacadoo, die die Plattform ins Leben gerufen hat, kommt auf einen Health Score von 632, etwas besser als der Durchschnitt. Zwei Stunden und 50 Minuten hat er in den letzten sieben Tagen trainiert. Nicht überragend. Das mag daran liegen, dass Ohnemus viel unterwegs ist: Schweden, England, Frankreich, Niederlande, China und immer wieder Deutschland. Überall, sagt er, interessiere man sich für seine Plattform. Akut verhandelt er mit größeren deutschen Betrieben, die ihre Mitarbeiter mit Bonusprogrammen auf die Vermessungsplattform locken wollen. "Wir sollten nicht unterschätzen, wie schnell der Markt sich bewegt", sagt er.

Das Gesundheitssystem werde von den Kosten all der faulen, fettleibigen Kunden in die Knie gezwungen. Diabetes, Herzprobleme, künstliche Gelenke: "Die können wir uns nicht länger leisten." Digitale Gesundheitskontrolle werde in Zukunft nicht "nice to have", sondern "need to have" sein. Aber was geschieht mit denen, die sich nicht vermessen lassen wollen? Werden sich die Dicken und Faulen nicht wehren? "Sie werden es nicht können", sagt Ohnemus voll Zuversicht.

Und die Daten? Die Unmengen an Informationen über Schlaf, Gewicht und Sport? Über Leistung, Tagespläne, Lebensziele? Wer liest mit?

Und die Daten? Die Unmengen an Informationen über Schlaf, Gewicht und Sport? Über Leistung, Tagespläne, Lebensziele? Wer liest mit?

"Keiner kriegt unsere Daten", sagt der AOK-Partner Peter Ohnemus. "Die sind mit der gleichen Sicherheitsebene verschlüsselt wie bei Atomkraftwerken."

"Die Daten unserer Nutzer sind sicher", beruhigt auch Christian Reber, Chef der Berliner Wunderkinder. "Wir verkaufen die nicht. Wir lesen die nicht."

Mag sein. Fragt sich bloß, wie sicher digitale Daten überhaupt sein können. Hat nicht der NSA-Skandal die Welt gerade eines Besseren belehrt? Wie lange lassen sich die Begehrlichkeiten nach all den gespeicherten Informationen über unsere Schwächen in Schach halten?

Mitte 2011 konnte man die Profile der Nutzer der Aktivitätsmesser-App Fitbit ganz simpel mit Google finden. Alle Daten waren irrtümlich auf "öffentlich" gestellt. Selbst die "sexuelle Aktivität" wurde auf ihren Kalorienverbrauch hin abgeklopft: "passiv, leichte Anstrengung" oder "aktiv, hoher Kraftaufwand". Manche Patientenplattformen und Schlafvermesser weisen in ihren Geschäftsbedingungen darauf hin, dass sie Daten ihrer Nutzer - anonymisiert - an Forschungseinrichtungen, Pharmafirmen oder Gerätehersteller verkaufen. Und Daytum, das digitale Tagebuch, verlangt von allen, die ihre Daten geheim halten wollen, vier Dollar im Monat. "Wenn einer Privatsphäre haben will, muss er dafür zahlen", sagt der Gründer Nicholas Felton lapidar. Die Vorzeichen haben sich umgedreht, Privatheit kostet.

Zurück zu unserem ersten Gesprächspartner, dem Doktoranden Brian Fabian Crain und seinem Traum vom besseren Leben. Er hat inzwischen seinen grünen Tee ausgetrunken und denkt schon weiter: Gerade hat er ein neues Programm heruntergeladen. Damit will er jeden Buchstaben, den er auf seiner Computertastatur tippt, archivieren. Wo ist denn da der Nutzen? "Ich weiß es nicht", sagt er. "Aber ich glaube, es ist immer gut, Daten erst einmal zu sammeln. Vielleicht werden sie irgendwann wertvoll sein."