Am Ende

Von Britta Stuff

Eine Tochter pflegt ihre sterbende Mutter. Nicht weil sie es will, sondern weil sie es muss. Sie lebt ein Leben zwischen Liebe, Aufopferung und Hass.

Egal, was kommt, bitte gib mich nie ins Heim.

Ja, Mutter.

Versprich's mir.

Ich versprech's.

Drei Ampeln, zweimal rechts, einmal links.

Früher fuhr die Tochter oft mit dem Fahrrad, das schafft sie heute nicht mehr. Sie nimmt das Auto.

Sie ist jetzt 63 Jahre alt.

Um 17 Uhr ist sie da, jeden Tag.

Du hast mich ins Heim gesteckt.

Mutter, das ist dein Zuhause.

Ich bin im Heim.

Mutter!

Du hast deine eigene Mutter ins Heim gesteckt.

Halt die Klappe, Mutter.

Die Verwandlung der Mutter beginnt vor drei Jahren mit einem Oberschenkelhalsbruch. Da ist sie 89 Jahre alt. Noch ein Bruch. Kleine Schlaganfälle. Steife Glieder. Die Hüfte. Das Herz. Ein Puls, von dem einem schlecht wird. Sie wird immer weniger.

Heute ist sie ein anderes Wesen.

Es kann sich nicht bewegen, zumindest nicht allein. Es kann kaum noch sprechen, nicht mehr allein essen, nur wenig hören. Es kann nur noch leben. Sie nennt es Mutter oder Alte.

Kau endlich.

Kau.

Schluck das Brot schon runter.

Heul nicht rum, schluck.

Sie wohnen nicht zusammen. Das würde sie nicht aushalten. Die Mutter fände das toll. Sie kann nie genug Gesellschaft haben.

Viermal am Tag kommt jemand. Drei Stunden am Tag ist jemand bei ihr. Drei Mal eine Pflegekraft, zum Waschen, Windelnwechseln, Füttern. Einmal die Tochter. Sie füttert dann ein Brot, eine Klappstulle, ohne Rinde. Sie schneidet sie in vier kleine Stücke und schiebt eins nach dem anderen in den Mund. Das dauert eine Stunde.

Die Wohnung ist noch immer die gleiche: Die Schrankwand, die Bilder, der Teppich. Im Wohnzimmer ein bisschen Kunst: Landschaften, Kupferstiche. Im Schlafzimmer die Fotos: der Vater, Fotostudio. Sie sieht ihn auf dem Spiegelschrank. Es kamen über die Jahre ein paar Dinge dazu: das Pflegebett, die Dekubitus-Matratze, der Badewannenlift, ein Toilettenstuhl.

Es ist überhaupt vieles besser geworden in den letzten Monaten. Als die Mutter noch telefonieren konnte, rief sie im Fünf-Minuten-Takt an. Sie wollte nichts, nicht mal reden. Sie wollte nur anrufen.

Als die Mutter noch zur Toilette konnte, wollte sie dauernd aufs Klo, obwohl sie nicht musste. Am Anfang bringst du sie noch, aber dann, sagt die Tochter.

Als sie noch gut reden konnte, stritten sie dauernd. Am Anfang sagst du ja noch Stuhlgang statt Scheiße, um ihr einen Gefallen zu tun, aber dann.

Die Mutter heult dauernd.

Der Tochter ist das Wesen lieber.

Bitte bring mich zur Toilette.

Mutter, du musst nicht.

Doch, ich muss, nur noch einmal.

Mutter, du warst schon dreimal.

Nur noch einmal, ich versprech's.

Geh mir nicht auf die Nerven.

Die Tochter macht einen Kurs, die Mutter braucht Marcumar fürs Herz, die Kasse zahlt, die Tochter muss lernen, wie man mit einem Blutverdünner umgeht, vor allem mit jemandem, dessen Blut wegen des Medikaments nicht gerinnt. Die Mutter soll nicht verbluten.

Die Tochter lernt überhaupt vieles.

Wickeln ist eigentlich einfach, die Mutter wiegt nur noch 55 Kilo. Aber sie kann nicht mehr mithelfen, sie kann sich nicht bewegen. Zur Seite drehen, Unterlage drunter, sauber machen, alles wie bei einem Baby, nur dass die Tochter selbst nie eins hatte.

Sie war ihr körperlich noch nie so nah.

Man kriegt den Geruch nicht mehr weg. Man fährt nach Hause, stinkend. Nach der Mutter. Das haftet an einem.

Das ist aber nicht das Schlimmste. Der Hass haftet auch an einem, man nimmt ihn mit nach Hause. Er ändert seine Richtung, gegen sich selbst.

Warum war ich wieder so?

Warum kann ich nicht meine Fresse halten?

Lieber Gott, hilf.

Du kannst so viel zum lieben Gott beten, wie du willst, der hilft dir nicht.

Der Bruder ist ein guter Mann, aber er hat's leichter. Er wohnt ein paar Autostunden entfernt. Einmal im Monat kommt er vorbei und sagt manchmal so was wie: Das geht so nicht, sie muss in ein Heim.

Die Tochter hat's aber doch versprochen.

Die Mutter ist natürlich nicht immer eine Alte gewesen. Sie war mal jung, schön, stark, hatte Träume, aber die kennt die Tochter nicht. Man muss sich als Kind ja nicht mit der Gefühlswelt der Eltern beschäftigen. Aber die Mutter hatte ein Leben, hat ein Papierwarengeschäft geführt, der Vater war Elektroschweißer. Kleine Verhältnisse, aber gigantische Kindheit. Die Mutter war eine Kämpferin, hat die Tochter gegen alles und jeden verteidigt. Die Mutter hat der Tochter Kleider genäht, Dutzende Kleider, für die kleine Prinzessin, die eigentlich lieber im Matsch spielen wollte. Die Mutter hatte genaue Vorstellungen davon, wie Menschen sind, und brachte der Tochter bei: Trau keinem.

Und so wurde die Mutter die beste Freundin der Tochter. Die, der man alles sagt. Die Mutter hatte immer viel Geduld mit der Tochter, die war wie der Vater: lustig, wild, beliebt.

Die Tochter erzählt ihr schon lange nichts mehr. Die Mutter hat immer alles kaputt gemacht. Ich gönn's dir doch, hat sie gesagt, wenn die Tochter in Urlaub wollte, oder ins Theater. Ich gönn's dir! Geh! Und ruft sie dauernd an. Sie stirbt. Ja klar, ausgerechnet jetzt.

Mach den Mund endlich auf.

Mach ihn auf.

Mir doch egal, dann bleibst du halt ohne Zähne.

Sie schlägt sie nicht. Einmal nur setzt sie die Mutter sehr fest auf den Toilettenstuhl, und die Mutter weint. Gott, hilf! Seither geht die Tochter zur Selbsthilfegruppe. Da sind andere. Die hassen es auch, nur dass sie es niemandem sagen. Das Windelnwechseln, dass es nie genug ist, immer zu wenig, die hassen es, jeden Tag jemanden vor ihren Augen sterben zu sehen. Diese ganze Enge. So wenig Dank. Was ist mit dem eigenen Leben? Hat man da kein Recht drauf? Aber so was kann man ja keinem sagen. Dass man einen Sterbenden hasst.

Du kotzt mich an, Mutter.

Die Tochter steht morgens auf und wartet auf den Anruf der Pflegerin. Mutter lebt noch. Dann geht sie zum Sport, McFit, mehr kann sie sich nicht leisten. Dann arbeitet sie, von zu Hause aus, sie ist Buchhalterin, es reicht zum Leben. Dann geht sie zur Mutter.

Die Mutter, die immer vor dem Vater sterben wollte, klebt an diesem schrecklichen Leben. Aber die Tochter kennt das schon, dass man nicht loslassen kann. Die Tochter hatte einen Mann, der kam mit zwei Kindern in die Ehe. Ich bin ja so froh, dass du nicht so eine Glucke bist, so eine mit Kümmer-Gen. Die Zeit ging so vorbei, ohne eigene Kinder, eine tolle Zeit, sagt die Tochter. So einen gibt es nur einmal. Mit Ende 40 verließ er sie. Du Mistkerl, ich find doch jetzt keinen mehr, sagte sie.

Die Mutter wird nur noch verwaltet. Die meiste Zeit starrt sie aus dem Fenster, in einen Baum, als suche sie da die Antwort auf eine nie laut gestellte Frage. Ich hab wieder den ganzen Tag gedacht, sagt sie dann. Und wenn die Tochter fragt, was denn, sagt die Mutter: Ach, nichts. Oder: Ich war heute den ganzen Tag traurig. – Warum denn? – Ich weiß nicht.

Warum nur kann sie nicht einmal sagen: Kind, danke, dass du das alles machst? Danke, dass ich zu Hause sein darf. Warum ist sie nie zufrieden? Die Tochter denkt: Wenn die Mutter sie wirklich so lieben würde, wie sie es immer sagt, dann würde sie ihr das nicht antun. Zum Glück hat die Tochter niemanden, dem sie das antun kann, sagt sie. Sie wird allein sterben.

Liebt sie die Mutter noch? Sie muss.

Wart mal ab, bis du alt bist. Dann siehst du, wie das ist.

Mutter, droh mir nicht. Ich bin dann im Heim. Dreibettzimmer.

Sechsmal hat sie schon den Bruder angerufen: Ich glaub, Mutter stirbt. Komm. Sie hat wer weiß wie oft abends schon die Kleider hingelegt und das Auto draußen gelassen. Irgendwann macht man das nicht mehr.

Vor ein paar Wochen ruft die Pflegerin an. Der Mutter geht's schlecht. Ein Samstag. Sie fährt hin, die Mutter liegt apathisch da. Was mache ich? Sie ruft den Notdienst an. Die sagen: Wenn eine Gefahr fürs Leben besteht, müssen Sie die Feuerwehr anrufen. Sie ruft den Notarzt an, der kommt. Wasser in der Lunge. Ihre Mutter muss ins Krankenhaus. Die Tochter sagt: kein Krankenhaus.

Der Arzt versteht.

Er sagt: Dann bleiben Sie mal hier, es kann sein, dass sie heute noch stirbt.

Sie ruft den Bruder an, die Pflegekraft kommt noch mal. Dann ist sie mit Mutter allein. Sie liegt auf dem Sofa, die ganze Nacht, sie hört die Mutter röcheln. Sie kann die Augen nicht schließen, keine Ahnung warum. Und so starrt sie in die Dunkelheit. Morgens um sechs hört die Mutter auf. Sie atmet wieder ganz normal. Die Tochter fährt nach Hause. Sie hat das eigentlich ganz gut überstanden.

Ach, Mutter.

Die Tochter beginnt mit dem Ausmisten. Sie wirft nach und nach die Sachen der Mutter weg, die niemand mehr gebrauchen kann. Natürlich nur das, was die Mutter vom Bett aus nicht sehen kann. Sie geht zu einem Beerdigungsinstitut und plant das Begräbnis.

Was für Musik mag Ihre Mutter gern?

Egal, sie hört's doch eh nicht mehr.

Hör sofort auf zu heulen, Mutter.

Sie sieht sich da selbst in dem Bett. Die Augen. Die Nase. Sogar die Füße. Die Mutter hat Ähnlichkeit mit ihr. Manchmal denkt sie: Oh Gott, die Lider, ich muss mich liften lassen. Sie sagt es nicht vorm Spiegel, sie sagt es vor der Mutter. Sie ist ihr Spiegel.

Sie ist in letzter Zeit in einem Tal, gefühlsmäßig, sagt die Tochter. Wenn die Alte nicht mehr da ist, ist sie selbst dann die Alte?

Manchmal geht sie nicht hin. Aber dann fühlt sie sich schlecht. Liegt sie gut? Hat sie Wasser in den Armen? Atmet sie?

Na, hast du dich wieder vollgeschissen?

Sie weint nicht mehr.

Das hat sie mit dem Vater sein gelassen. Als der Vater krank war und im Rollstuhl saß, sich nicht mehr bewegen konnte, als klar war, dass er bald sterben wird, setzte sie sich, eine Frau von Ende 50, auf seinen Schoß, gekrümmt wie ein Kind und heulte.

Seither kommt nichts mehr.

Sie sagt, das sei wie Arzt sein. Man kann nicht immer mitfühlen. Da wird man verrückt.

Wenn die Enge ganz schlimm ist, geht sie zum Vater. Er hat einen schönen Feldstein, den halben Tag Sonne.

Er war am Schluss dement, hatte Wahnvorstellungen, da waren Chinesen, die immer seine Bilder abgemalt haben in der Wohnung. Die Tochter pflegte ihn, das waren auch ein paar Jahre, bis er dann ins Heim kam. Dafür hat sich die Mutter sehr geschämt. Der eigene Mann im Heim.

Mit dem toten Vater zu reden, verbietet sich natürlich, sie ist ja nicht bescheuert. Das hatte sie ihm schon gesagt, als sie ihn das letzte Mal sah: Nun, Vater, ist nichts mehr mit reden. Nun gehe ich mal.

Da sein, bisschen an den Blumen zuppeln, das reicht.

Mutter, von mir aus kannst du auch leben, bis du 100 bist, mir egal.

Sie lebt mit der Katze.

Macht dir das Spaß? Mich so zu quälen?

Nein, Mutter.

Wenn sie abends geht, macht sie ihr den Fernseher an, mit Ausschalt-Timer, 20:45 Uhr.

Ich geh dann mal, Mutter.

Bleib!

Zu Hause schaut sie meist ein bisschen fern. Manchmal geht sie aus, mit einer Freundin, natürlich ohne es der Mutter zu sagen. Die Tochter liebt Musik, die Oper und das Ballett. Besonders liebt sie Vladimir Malakhov, den Chef des Staatsballetts, er tanzt wunderbar, sagt sie, und sie hasst es, dass manche fordern, dass er nicht mehr auftreten solle, jetzt, wo er alt ist. Er tut ihr leid.

Casta Diva, aus der Oper "Norma", wenn sie wirklich nicht mehr kann.

Sie geht meist früh schlafen. Dann starrt sie noch ein bisschen. Drei Kilometer entfernt liegt die Mutter. Beide ganz allein. Vielleicht starrt sie auch?

Manchmal hört sie: Der und der starb im Kreis seiner Familie in den Armen seiner Frau. Wo gibt's so was? Leben die alle auf einem anderen Planeten?

Sie kann so schlecht abschalten in letzter Zeit.

Wie wird die Mutter sterben? Wer wird sie finden? Muss sie leiden? Was wird dann sein? Wie wird sie aussehen? Sie will nicht, dass sie leidet. Will sie, dass sie stirbt?

Manchmal massiert die Tochter die steifen Gelenke der Mutter. Oder sie streicht ihr über den Kopf. Die Tochter sieht, dass die Mutter sich freut, wenn sie da ist. Nur am Blick.

Schön.

Sie stirbt am 14. Oktober, 92 Jahre alt, in den Armen von niemandem. Der Pfleger ruft die Tochter an: Ihre Mutter ist tot.

Drei Ampeln, zweimal rechts, einmal links.

Die Tochter weint. Sie wäscht die Mutter, zieht sie hübsch an, kämmt sie.

Keine Widerworte, zum ersten Mal seit Jahren.