Oh Mann

Von Marcus Jauer

Christian Wulff ist so vielfach gescheitert wie kaum eine öffentliche Person vor ihm. Er hat sein Leben auf Sicherheiten gebaut, jetzt ist er ganz auf sich gestellt. Was es heutzutage heißt, ein Mann zu sein.

Wir wissen nicht, wo Christian Wulff sich gerade befindet, aber wir haben eine genaue Vorstellung davon, wie es dort aussieht. Wir kennen das Bild aus unzähligen amerikanischen Filmen. Ein Mann sitzt in einem Sessel, auf einem Sofa oder der Kante eines Bettes, die Vorhänge sind zugezogen, seit Tagen schon. Er sitzt einfach und schaut und begreift, dass sich die Fundamente seines Lebens auflösen. Er hat seinen Job verloren, seine Karriere ist ruiniert, der Ruf dahin, er hat Schulden, und nun läuft auch noch seine Ehefrau, die immer als ein wenig zu schön für ihn galt, durch die Stadt und spricht über ihn, und es ist nicht nett, was sie sagt.

Noch nie ist jemand vor aller Augen so umfassend gescheitert wie Christian Wulff. Beruflich, gesellschaftlich, finanziell und privat. Normalerweise genügt ein Flop auf nur einem dieser Felder, um das Leben eines Mannes ins Wanken zu bringen. Und doch liegt die Ironie seines Scheiterns nicht darin, dass Christian Wulff, dessen hervorragendste Eigenschaft immer die Durchschnittlichkeit gewesen ist, gleich vierfach den Albtraum erlebt, vor dem jeder Durchschnittsmann sich fürchtet. Die Ironie liegt darin, dass Christian Wulff jetzt, wo er nicht mehr der erste Mann im Staate ist, zeigen kann, was es heißt, im Leben einer zu sein.

Das war von ihm sicher anders geplant, wenn nicht sogar genau umgekehrt gedacht. Die wichtigsten Schritte im Leben von Christian Wulff waren drauf angelegt, genau dies zu vermeiden: seinen Mann stehen zu müssen. Dass diese Strategie unter Männern verbreitet ist, nimmt seiner jetzigen Lage nichts von ihrer Ausweglosigkeit, verleiht ihr zugleich aber etwas Beispielhaftes. Natürlich sind wir nicht Christian Wulff, aber Christian Wulff ist einer von uns.

Mit sechzehn tritt er in die Partei ein und wird, was noch heute viele Männer zu werden anstreben, das Geschöpf einer Organisation. Ob sich diese Existenz in einer Partei, einem Konzern, einer Verwaltung oder einer Redaktion vollzieht, spielt keine Rolle, sie bietet überall denselben Vorteil. Sie beantwortet die wichtigen Fragen des Lebens, ohne dass man sich mit ihnen beschäftigen müsste. Die Organisation sagt einem, wer man ist, nennt es Funktion und druckt es auf Visitenkarten. Sie sagt einem, was man soll, vergibt einen Aufgabenbereich, verteilt Arbeit, fragt Ergebnisse ab, und sie sagt einem, was man aus sich machen kann, weil sie eine Hierarchie anbietet, die einem zeigt, wo unten und oben ist und an welcher Position zwischen diesen beiden Punkten man sich befindet.

Die Organisation verleiht Bedeutung, man ist der Mann von der Bank, vom Werk, vom Amt, von der Zeitung. Sie verleiht Sinn, man macht Rendite, baut Autos, erstellt Bescheide, schreibt Artikel, und sie ermöglicht all das in einer fast schon unwirklichen Sicherheit, mit regelmäßigem Gehalt, berechenbarer Rente, und sollte man doch einmal krank sein oder einen dummen Fehler machen, beruhigt einen das Gefühl, dass das Schicksal des Ganzen letztlich doch nicht von einem allein abhängt. Die Organisation behandelt ihre Männer wie eine Mutter ihre Söhne, sie vertraut, sie verzeiht, sie erzieht durch Vorbild, mit einer Ausnahme vielleicht, sie bereitet einen nicht darauf vor, sie jemals zu verlassen. Das ist für den Einzelnen der größte Nachteil einer Organisation, dass sie ihm sein Denken auf ein Leben darin beschränkt und mit der Angst versieht, es könne außerhalb von ihr keines geben.

Von heute aus wirken die neun Jahre, in denen Christian Wulff dreimal versucht hat, Ministerpräsident von Niedersachsen zu werden, wie das Beharren eines Mannes, dem die Idee fehlte, was er sonst werden könnte. Er wurde es dann doch noch, als Gerhard Schröder nach Berlin weitergezogen war. Schröder war ein Mann, der es wie Helmut Kohl und Joschka Fischer verstanden hatte, sich die Organisation zum Instrument zu machen. Bei Christian Wulff war es immer andersherum.

Von heute aus erscheint auch der Andenpakt, jene sagenumwobene Männerseilschaft unter CDU-Junioren, dem er mit Anfang zwanzig beitrat, nur wie die Verabredung von ein paar ängstlichen jungen Männern, die sich in einem Flugzeug über den Anden einander versprachen, nie gegen einen der Ihren zu kandidieren oder dessen Rücktritt zu fordern. Eine Art Lebensversicherung, damit keiner von ihnen jemals die Organisation verlassen muss, selbst um den Preis, dass es keiner von ihnen - Wulff, Koch, Pflüger, Böhr, Wissmann oder Oettinger - bis ganz nach oben schafft, und so war es ja dann auch.

Als es darum ging, die Partei von ihrem Übervater Kohl zu befreien, wagte das Angela Merkel, eine Frau aus dem Osten, die in einem Zeitungsartikel mit ihm abrechnete, ohne dass sie wissen konnte, dass ein Zeitungsartikel für seinen Sturz schon genügte. Christian Wulff dagegen gab, als es darum ging, ob er selbst Kanzler werden wolle, ein Interview und sagte, Kanzler traue er sich nicht zu.

Er wurde dann Bundespräsident, ein Amt, das weniger Verantwortung mit ähnlicher, wenn nicht sogar größerer Anerkennung verband. Das traute er sich zu.

Christian Wulff hat sich fünfunddreißig Jahre lang durch den politischen Apparat bewegt, er ist unten über die Schülerunion eingetreten und oben im Bundespräsidialamt wieder herausgekommen. Nimmt man das Schloss, in dem er abtrat, mal beiseite, zeigt sich eine Organisationsbiographie wie viele, mit der ihr eigenen Mischung aus Sicherheitsdenken, Seilschaft und Ängstlichkeit. Und doch wirkt sie heute, nur ein halbes Jahr nach ihrem Ende, bereits, als entstamme sie einer anderen Zeit.

Wohin man schaut, sind heute Systeme im Umbruch begriffen. Das waren sie schon immer, aber noch nie, so scheint es, waren es so viele auf einmal. Die zunehmende Vernetzung der Welt hat Ereignisse miteinander verbunden, die nun sehr nervös aufeinander reagieren, egal, ob sie ursprünglich in einem Zusammenhang standen oder nicht. Sie koppelt den Klimawandel mit den Lebensmittelpreisen, mit der Energiewende, mit dem Bürgerkrieg in Syrien, mit der Finanzkrise, mit dem Verkauf eines neuen iPhone. Scheinbar ohne Vorwarnung lösen sich in jeder Ebene und Größe Organisationen auf, werden Hierarchien auf den Kopf gestellt. Es genügt, dass die Spekulation eines Devisenhändlers aus dem Ruder läuft, und schon gehen die Wetten auf die Zukunft nicht mehr auf.Der deutsche Mann mag sich in Sicherheit wähnen, bisher hat die Veränderung stets andere betroffen, während er selbst noch immer Exportweltmeister ist, Zahlmeister für Europa, und mit der Frauenquote in der Vorstandsetagen wird es wohl noch dauern. Was soll sich schon ändern?

Aber das haben die Banker von Lehman Brothers auch gedacht, bis auf einmal keiner mehr ihre Bank kaufen wollte und fünfundzwanzigtausend von ihnen von einem Tag auf den anderen auf der Straße standen. Oder die arabischen Potentaten, bis sich auf einmal ein tunesischer Gemüsehändler aus Protest gegen die Willkür der Polizei selbst anzfündete und so eine Revolution auslöste. Oder die deutschen Solarzellenhersteller, bis sich China auf einmal entschied, ebenfalls in die Produktion einzusteigen, und mehrere von ihnen vor der Pleite standen. Was soll sich schon ändern?

Vielleicht gibt gerade jetzt irgendwo jemand eine Pressekonferenz, die eine Mauer einreißt, auf der eine Weltordnung ruht und an der entlang Millionen Leben gebaut sind. Wie fragte ein Reporter noch Günter Schabowski, als der die neuen Reisebestimmungen für DDR-Bürger vorstellte: "Ab wann tritt das in Kraft?" Und was antwortete dieser: "Nach meiner Kenntnis... sofort, unverzüglich."

Die Angst, vor den Trümmern einer Existenz zu stehen, die er sich und den Seinen zum Schutz aufgebaut hat, begleitet den Mann, seit er denken kann. Es wirkt nur so, als sei mit der Menge der Dinge, die für diese Existenz heute scheinbar aufzubieten sind, seine Angst noch gewachsen, dabei sind die meisten dafür gar nicht nötig. Es geht nicht um ein warmes Essen, ein Dach über dem Kopf und eine Gutenachtgeschichte für die Kinder, nicht um ein Auto, einen Urlaub am Meer und Geld für ein Studium. Es geht um das Lob des Chefs für die letzte Arbeit, die Einladung zu einer Party, auf die auch alle anderen wollen, den freien Tisch in einem Restaurant, wo andere reservieren müssen. Es geht um die Dinge, die einen Status beschreiben, der zeigt, wer man ist. Man sammelt sie an in der Hoffnung, sich so von anderen zu unterscheiden. Aber irgendwann gehören sie einem nicht mehr nur, man fängt an, sie zu sein. Daraus erwächst die Angst, man könnte mit ihnen auch sich selbst verlieren.

Diese Täuschung ist nicht neu, was nicht heißt, dass sie deshalb überwunden wäre, im Gegenteil. Sie wird in einer Zeit, in der vieles, das man hat oder tut, in Klicks, Empfehlungen oder Weiterleitungen der eigenen Twitterbotschaften umgerechnet werden kann, erst richtig wirksam. Ständiges Umrechnen führt zu ständigem Ablesen, führt zu ständigem Vergleichen und wirkt auf das eigene Handeln zurück. Nicht allein in den sozialen Medien, aber nirgends besser als da, lässt sich sehen, wie die Idee des Marktes sich in Lebensbereiche ausgebreitet hat, in denen das Gesetz von Angebot und Nachfrage bislang nicht sichtbar wurde. So verstanden ist das Abrufen der Mails, das Googeln des eigenen Namens und das Zählen von Followern und Freundschaftsanfragen nichts als eine Statusabfrage der eigenen Existenz.

Der Markt ist heute nicht mehr nur der Ort, an dem über Produkte verhandelt wird oder die Schicksale einiger Weltstars. Der Markt umfasst uns alle, als Abnehmer und Anbieter, wir tragen unser Leben auf ihm aus, damit es von anderen gesehen und beglaubigt wird, bis wir schließlich anfangen, es für die anderen zu führen. Solange der Einzelne damit glücklich ist, gibt es dabei auch gar kein Problem. Das entsteht immer erst, wenn alle sich abwenden, der Markt auf einmal zusammenbricht und wir uns fragen müssen, was jetzt noch von uns übrig ist.

Manche ertragen das nicht und verzweifeln. Karl-Theodor zu Guttenberg ist nach Amerika gegangen. Wir können aber nicht alle nach Amerika gehen. Wir brauchen jemanden, der uns zeigt, wie wir so etwas überleben können, hier.

Im Rückblick hat sich Christian Wulff in seinem Leben wohl am wenigsten als Mann erwiesen, als er das vermutlich am stärksten von sich glaubte und eine junge Frau für sich gewann, um die ihn andere Männer beneideten. Eine Frau, die ihm einen fremden Glanz verschaffte und sich jetzt wie eine Lady Di vom Schloss Bellevue benimmt, die sich darüber beklagt, dass ihr Mann in der Zeit seiner größten Krise gar nicht auf ihre Gefühle geachtet habe. Vermutlich war Christian Wulff im Leben schon am meisten Mann, als er begann, seine Mutter zu pflegen, die an Multipler Sklerose erkrankt war. Da war er sechzehn Jahre alt, und alle Männer hatten die Familie verlassen, erst der Vater, dann der Stiefvater, nur er war noch da.

Damals hat er das Schicksal angenommen und sich der Verantwortung gestellt. Er hat sich nicht beklagt, er hat für die Mutter gesorgt und die kleinere Schwester aufgezogen, er brauchte keinen, der ihm dabei zusah, um ihm zu sagen, dass er es gut machte. Damals, als er keine Wahl hatte, musste er sich erwachsener verhalten, als er war. Es gibt keinen Grund, das heute, wo er jede hat, nicht noch einmal zu tun.

Die meisten Männer haben es nicht vermocht, aus ihrem Scheitern zu lernen. Sie hassen, verfolgen, sehnen sich nach Rache. Sie sind keine Mitglieder der Organisationen mehr, die sie einst auszeichnete, aber sie sind dennoch nicht frei von ihnen. Sie rennen immer wieder gegen sie an, oder sie rennen vor ihnen davon, sie finden keinen Abstand, keine Ruhe, kein Gleichgewicht mehr, und auch wenn sie es versuchen, wissen sie nicht, wie es geht.

Christian Wulff hat jetzt die Möglichkeit zu erkennen, was echt ist im Leben und was nicht und wie man dafür seine Sinne schärft. Was es heißt, für einen Fehler einzustehen. Was es bedeutet, eine Situation anzunehmen, um etwas aus ihr zu machen, anstatt sich immer wieder darüber zu ärgern, dass sie nicht anders ist, als sie eben ist. Christian Wulff hat die Chance, uns allen die Angst vor dem öffentlichen Tod zu nehmen, ohne dass wir ihn deswegen sterben müssen, und die Angst vor einer Existenz ohne stützendes Korsett, ohne dass wir es deswegen zerbrechen müssen. Er kann uns zeigen, wie wir beides einfach ablegen, nicht weil wir es nicht mehr haben, sondern weil wir es nicht mehr benötigen. Christian Wulff, der Mann, der sich im Leben so oft abgesichert hat, kann uns lehren, wie es ist, ohne Furcht zu sein, und er braucht dafür noch nicht einmal ein Amt. Das hätte er selbst wohl am wenigsten gedacht.

Am Ende ist es ganz egal, ob er als Nächstes in den Wald geht, um in einer Hütte zu leben, oder in Großburgwedel eine Kanzlei eröffnet, um Leute wegen ihrer Parktickets zu vertreten, ob er Fremdenführer wird auf Norderney, ein Kinderbuch schreibt oder wandern geht. Solange er das als freier Mensch tut und nicht als ein geschlagener, kann er alles werden und kann überall hingehen.

Christian Wulff mag viel verloren haben, aber er hat immer noch sich selbst. Er kann jetzt wirklich der Mann seines Lebens werden. Vielleicht gibt er uns darin am Ende doch noch ein Vorbild. Zum ersten Mal überhaupt sind wir gespannt auf Christian Wulff aus Osnabrück.

Wer hätte das gedacht?