Hirn TOD

Von Alard von Kittlitz

Was passiert mit Patienten, die potentielle Organspender sind? Kein Gesetz schützt sie oder ihre Angehörigen.

Organe retten Leben. Wer spendet, tut etwas Gutes. Und wer kritische Fragen aufwirft, hat - scheinbar - die Moral schon gegen sich. Auf diese Weise werden Kontrolle und Transparenz von vornherein unter Verdacht gestellt. Es entsteht ein abgekapseltes, teils blickdichtes System. Das Transplantationssystem.   

Isa hat einen Unfall gehabt. Isa, unser erfundenes, aber aus echten Fällen zusammengesetztes Beispiel. Die Ärzte stellen fest, dass sie schwere Blutungen im Kopf hat. Um Isa zu retten, öffnen sie ihren Schädel, damit das Blut herausfließt. Sie beatmen sie künstlich, geben ihr Infusionen, fahren ihre Körpertemperatur herunter, um ihr Gehirn zu schützen. Damit sie nicht zu zittern beginnt, kriegt sie leichte Muskelentspannungsmittel. Und starke Schmerzmittel, für den Fall, dass sie leidet.

Der Oberarzt der Intensivstation, auf der Isa liegt, ist ein erfahrener Neurologe. Er ist außerdem Transplantationsbeauftragter der Klinik. Er ist dafür zuständig, möglichst viele Organspender zu besorgen, indem er auf der Intensivstation nach Kandidaten Ausschau hält. Der Oberarzt befürwortet Transplantationsmedizin. Er findet nicht, dass die doppelte Aufgabe einen Interessenkonflikt bedeutet. Er entspricht damit den Vorstellungen der Deutschen Stiftung Organspende (DSO): "Das Anforderungsprofil umfasst nicht nur fachliche Kompetenz, sondern auch die Bereitschaft, mit Engagement und innerer Überzeugung die mit dieser Funktion verbundenen Aufgaben auszufüllen. Zielführend ist die Berufung eines Arztes mit langjähriger Berufserfahrung in diesem Bereich."

Der Oberarzt wünscht sich, dass Isa wieder gesund wird, aber er glaubt nicht daran. Seine Erfahrung sagt ihm, dass Isa im Sterben liegt. Er glaubt, dass Isa "präfinal" ist, sieht vermehrt Anzeichen für einen bevorstehenden Hirntod. Kritiker wie der Neurologe Andreas Zieger finden, dass mit dem Wort "präfinal" eine Annahme als Tatsache ausgegeben wird. "Der Begriff ist interessengeleitet", sagt er.

Isa befindet sich nicht nur medizinisch, sondern auch rechtlich in einem Graubereich. Es gibt keine gesetzliche Regelung für ihren Zustand, obwohl das von Medizinrechtlern schon seit Jahren gefordert wird. Niemand schreibt Isas Arzt vor, wie er sich verhalten soll, obwohl er Entscheidungen treffen muss, die Isas Zukunft beeinflussen. Entscheidungen, die teilweise nichts mit Therapie zu tun haben. Die teilweise sogar das Gegenteil bedeuten.

Noch aber behandelt der Arzt Isa "patientenzentriert", also in der Hoffnung, dass sie überlebt. Bald wird er sie "spendezentriert" behandeln. Denn: "Die Intensivtherapie des Organspenders ist auch die vorgezogene Intensivtherapie der Organempfänger", haben Kollegen aus der Intensivmedizin in einem Aufsatz für die Fachzeitschrift "Intensivmedizin up2date" vor zwei Jahren geschrieben. Das bedeutet: Isas Körper ist nun gewissermaßen Herberge von Organen, die ihr nicht mehr allein gehören. Doch ab wann ist jemand noch patienten-, wann spendezentriert zu behandeln? Das Gesetz schweigt.

Eine Spenderin kann Isa erst dann werden, wenn sie den "Hirntod" erleidet. Hirntod heißt nach dem deutschen Gesetz: Großhirn, Kleinhirn, Stammhirn sind endgültig, nicht behebbar ausgefallen. An keiner Stelle aber steht im Transplantationsgesetz (TPG), dass der Hirntod der Tod ist. Der Staatsrechtler Wolfram Höfling bezeichnet diesen Umstand als ein "Glanzstück juristischer Trickserei": Die Abgeordneten haben eine Organentnahme nach dem Hirntod erlaubt, ohne zu sagen, dass der Hirntod den Tod bedeutet. Warum? Ganz einfach: Weil der Hirntod nicht dasselbe ist wie der Tod.

Seit der Verabschiedung des Gesetzes 1997 haben auch zahlreiche Wissenschaftler gesagt, dass sie nicht glauben, dass ein Mensch nach dem Hirntod tot ist. Zieger, der 1996 im Gesundheitsausschuss als Experte zum Thema Hirntod gehört wurde, sagt, dass schon damals die Hälfte der Anwesenden angekündigt habe, "dass das Hirntodkonzept durch die Neurowissenschaften binnen zehn Jahren hinfällig gemacht werden würde, weil das Gehirn nicht alle Körperprozesse integrierend steuert". Es ging um die Frage, ob ein Ausfall des Hirns die Lebensfähigkeit des gesamten Organismus beendet. Der Hirntodexperte Alan Shewmon verwies schon 1998 auf Fälle, in denen der Kreislauf von Hirntoten noch 14 Jahre nach der Diagnose selbständig funktionierte.

Das "President's Council on Bioethics", ein Beratergremium aus Philosophen und Wissenschaftlern, hielt 2008 fest: "Der Rat lehnt alle bis hierhin vorgeschlagenen Argumentationen für einen neurologisch definierten Tod ab." Also eine Ablehnung des Begriffs "Hirntod". Der Medizinethiker und Anästhesist Robert Truog von der Universität Harvard spricht bei dem, was mit Explantierten gemacht wird, gar von "justified killing", von deren "gerechtfertigter Tötung". Tötung, weil "die Hirntoddefinition zwar den kompletten Ausfall aller Funktionen des gesamten Gehirns erfordert, dennoch bei vielen dieser Patienten wesentliche neurologische Funktionen erhalten bleiben".

Einige Bundestagsabgeordnete finden inzwischen, dass man neu über den Hirntod diskutieren muss. Es sind vor allem Politiker aus den Reihen der Grünen und der Linken. Die meisten aber scheuen die Diskussion. Was wäre, wenn der Bundestag am Ende sagen müsste: Hirntote sind nicht tot? Was würde aus der Organspende? Wolfram Höfling redet von der "Flucht des Gesetzgebers vor einer offenen Auseinandersetzung mit der Hirntodkonzeption". Zieger sagt, die Frage nach der Bedeutung des Hirntodes als Tod des Menschen sei "eine der drängenden ethischen Grundfragen unseres Lebens". Und der Bundestag schweigt.

Zurück zu Isa. Noch ist sie nicht als hirntot diagnostiziert worden. Der Arzt überlegt dennoch, ob sich "organprotektive Maßnahmen" lohnen würden, Maßnahmen also, die Isa nicht retten, aber ihre Organe besser transplantabel halten. Weil sie keinen Organspendeausweis hat, wüsste der Arzt gern, wie Isas Eltern zur Organspende stehen, sie müssen nach einer Hirntoddiagnose ja für die Tochter entscheiden. Zwei Tage nach Isas Unfall sagt der Arzt den Eltern: Isas Chancen stehen schlecht. Ihr Hirn ist sehr stark geschädigt. Deswegen wolle er fragen, ob sie sich schon einmal Gedanken gemacht hätten über Organspende?

Das darf er. Isas Eltern erfahren nicht, dass er ihre Tochter schon, wenn sie eine grundsätzlich zustimmende Haltung zur Organspende zeigen, anders behandeln wird. Die Bundesregierung hat das am 16. April auf eine kleine Anfrage der drei Grünen-Abgeordneten Terpe, Scharfenberg und Bender geantwortet. Der Oberarzt darf mit den Angehörigen "abstrakt" über eine mögliche Organspende sprechen, bevor der Hirntod befunden worden ist. Der Zeitpunkt eines solchen Gespräches sei vom Einzelfall abhängig zu machen. Man wolle das nicht gesetzlich regeln.

Vorfühlen ist also erlaubt. Umgekehrt braucht der Arzt Isas Eltern nicht um Erlaubnis für eine Hirntoddiagnose zu bitten. Die Hirntoddiagnose ist für keinen Körper ein Spaziergang, sie kann sogar sehr schädlich sein. Wenn man Angehörigen schon erlaubt, einen Patienten zur Organspende freizugeben - keine Selbstverständlichkeit! - so müssten sie allerdings auch über die Hirntoddiagnostik aufgeklärt werden, die ja zwingende Voraussetzung für eine solche Entscheidung ist. Aber das tut keiner.

Die Ärzte glauben nach drei Tagen nicht mehr, dass Isa gesund wird. Sie erkennen Symptome, die auf den Hirntod schließen lassen. Sie beschließen, die Hirntoddiagnose durchzuführen. Im deutschen Ärzteblatt stand 2006, dass gerade kleinere Krankenhäuser den Hirntod oft fälschlicherweise annehmen. Manche Kliniken rufen daher Angestellte von der DSO, also der Organisation, die für die Verteilung von Organen zuständig ist, für Hirntoddiagnosen.

Damit der Test durchgeführt werden kann, kriegt Isa keine Schmerzmittel und Muskelrelaxanzien mehr. Sie könnten das Ergebnis verfälschen. Sollte Isa nicht hirntot sein, muss sie die Schmerzen eben aushalten. Dafür erhält sie nun andere Medikamente. Mitarbeiter der Uniklinik Münster verfassten ein Essay, das sich mit ethischen Fragen der "präfinalen Behandlung potentieller Spender" auseinandersetzt. Sie sprechen sich für "maßvolle Organprotektion" aus, für die Erlaubnis, dem Patienten noch vor dem Hirntod Medikamente zu verabreichen, die seine Organe auf eine Entnahme vorbereiten - vorausgesetzt, diese Maßnahmen schaden dem Spender nicht.

In dem Aufsatz steht auch, dass international darüber diskutiert wird, dass organprotektive Maßnahmen das Risiko bergen, dass ein Patient in ein Wachkoma fällt, bevor der Hirntod diagnostiziert ist, oder dass präfinale Patienten, die einen Herzstillstand erleiden, reanimiert werden, damit danach der Hirntod und dadurch wieder die Explantation möglich wird. Die Verfasser, Ärzte und Ethiker, fordern, dass den Angehörigen diese Risiken vorher offengelegt werden.

"Kaum jemand weiß um die intensivmedizinischen Interventionen im präfinalen Stadium, auch nicht um die seltene Herbeiführung eines Wachkomas", sagt Höfling. "Und man muss sich ja auch fragen, wer nach einer solchen Aufklärung noch stellvertretend seine Zustimmung zur Organspende geben würde." Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung überlässt die "Aufklärung" also der DSO oder fördert, gemeinsam mit einer Krankenkasse, die Kampagne "Von Mensch zu Mensch - Flo Bauers Reise zur Organspende", mit ausdruckbarem Spenderausweis auf der Homepage. Im Transplantationsgesetz steht: "Insbesondere die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung soll die Bevölkerung über die Voraussetzungen der Organentnahme aufklären." Flo Bauer erzählt von Kranken, die neue Organe kriegen oder dringend brauchen.   

Ein paar Stunden nach Absetzung der Medikamente beginnt der erste Arzt mit seinen Tests an Isa - zwei Ärzte müssen die Tests unabhängig und nacheinander durchführen. Der Arzt sticht Isa in die Nasenscheidewand, um Schmerzreaktionen zu prüfen, testet den Würgereflex. Am Ende muss der Arzt den Apnoe-Test durchführen. Die Bundesärztekammer (BÄK) empfiehlt, diesen Test zuletzt zu machen, "wegen der physiologischen Folgen der Hyperkapnie" - des CO2-Überschusses in einem Körper mit Sauerstoffmangel. Die Beatmung wird abgestellt, um festzustellen, ob Isa von selbst Luft holt, wenn die Erstickung einsetzt.

Der brasilianische Neurologe Cicero Coimbra schreibt, der Test könne zu einem Kollaps der Blutzirkulation im Hirn, auch zum Herzstillstand führen. Potentielle Folge sei ein unwiderruflicher Hirnschaden. Dennoch, die Ärzte müssen niemanden um Erlaubnis zu diesem Test fragen, obwohl sie davor noch nicht wissen können, ob Isa wirklich hirntot ist.

Als auch der zweite Arzt an Isa alle Symptome hat feststellen können, wird sie für hirntot erklärt. Die Ärzte gehen zu Isas Eltern und sagen: Ihr Kind ist tot. Normalerweise kümmert man sich im Krankenhaus um die Angehörigen eines Verstorbenen so einfühlsam wie möglich. Sie haben schließlich einen schweren Schicksalsschlag erlitten, stehen unter Schock. Isas Eltern aber werden gefragt, ob die Tochter Spenderin werden kann. Die Organe könnten Leben retten. Bitte bald entscheiden. Sonst werde man die Maschinen ausstellen.

Was in dem Gespräch gesagt wird, ist im Gesetz nirgendwo festgelegt. Sollte man das nicht tun? Auch das wollten die Grünen in ihrer Anfrage wissen. Die Bundesregierung lehnte ab. Günter Kirste, Chef der DSO, die durch die direkte Anwesenheit von "Organspendebeauftragten" oder durch die rhetorische Ausbildung der Ärzte in den Angehörigengesprächen eine massive Rolle spielt, hat wiederholt gesagt, dass die DSO die Gespräche nicht ergebnisoffen führe - zuletzt in einem Interview der F.A.S.

Die DSO verfolgt ein Ziel: Sie will die Angehörigen, die soeben erfahren haben, dass der Verwandte gestorben ist, davon überzeugen, dass die Spende richtig sei. "Ich frage mich, ob der vom Bundestag beschlossene politische Wille hier nicht einfach umgedreht wird", sagt dazu die Linken-Abgeordnete Kathrin Vogler. Das wird er, zweifellos. "Die Bundesregierung hält es mit der Intention des Transplantationsgesetzes für nicht vereinbar, wenn Angehörigengespräche zielgerichtet daraufhin geführt werden, eine Zustimmung zur Organspende zu erhalten", schrieb das Bundesgesundheitsministerium in seiner Antwort auf die Grünen-Anfrage. Und zwar ausdrücklich zu Kirstes Aussage, man führe die Gespräche nicht ergebnisoffen. Die Regierung weiß also, dass die DSO gegen den Willen des Gesetzgebers handelt, sie lehnt das expressis verbis ab - und unternimmt nichts dagegen.

Bevor Isa in den OP gefahren wird, bekommt sie wieder Schmerzmittel und Muskelentspannungsmittel. Angeblich ist sie ja tot. Sie kriegt sie dennoch. Damit der Mensch, der von Isa übrig geblieben ist, nicht leidet, aber auch wegen des Personals im OP. Denn die Medikamente verhindern das mögliche Auftreten des "Lazarus-Syndroms", bei dem die Hirntoten während der Eingriffe anfangen, um sich zu greifen, sich bisweilen sogar aufrichten. Das ist seelisch für die Ärzte zu belastend.