"Die Nato soll uns helfen!"

Von Wolfgang Bauer

Heimlich reiste Wolfgang Bauer durch Syrien, traf sich in der Stadt Homs mit Rebellenführern und erlebte die Brutalität des Regimes, das Krieg führt gegen das eigene Volk.

Das Klopfen ist leise, kaum hörbar zunächst, vorne an der Tür, dem letzten Schutz vor dem Schrecken da draußen. Faten steht in der Küche, räumt Geschirr ein, erstarrt dabei. Lauscht. Ahmed, ihr Mann, sitzt im Sessel und sieht fern. Er schaltet auf lautlos, legt den Kopf schief. »Scheiße«, sagt er. Das Klopfen steigert sich, wird hart und drängend. Durch die Wohnung hallen dumpfe, laute Schläge. »Scheiße«, wiederholt Ahmed und reißt sich aus dem Sessel. »Wer ist das?« Er hastet mit vier, fünf Schritten an die zugezogene Gardine, hält den Kopf nah an den Stoff, um hindurchsehen zu können. Blickt aus dem Fenster zur Straße, dann aus dem Fenster zum Nachbarn, dann aus dem Fenster zum Hof. Faten steht am Türspion, fahrig, aufgeregt, zögert einen Moment, hindurchzuschauen. Da wird es still. »Ich sehe niemanden«, flüstert Faten mit einer Stimme knapp vor der Panik. Faten, die der Familie stets ein Ruhepol sein will, die sonst mit herbem Humor alle Gefahr wegzulachen versucht. Ahmed tritt zu ihr, sieht ihr kurz in die Augen, fasst sie an den Schultern und öffnet die Tür.

 

Den ganzen Morgen haben sie in Homs, der drittgrößten Stadt Syriens, Dutzende Menschen aus ihren Wohnungen gezerrt. Keiner weiß, wie viele. Bewaffnete Geheimpolizisten gehen von Tür zu Tür. Immer wieder durchschneiden Schussgarben die Stille in den Straßen. Als Ahmed jetzt vors Haus tritt, mit geradem Rücken, um bloß keine Angst zu zeigen, wie der Mittfünfziger immer sagt - »das riechen die«, sagt er, »darauf sind die gedrillt« -, da flüchte ich, der Besucher aus dem Ausland, in den hinteren Teil der Wohnung. Das Haus von Ahmed und Faten ist mein Versteck. Im Familienrat haben sie diskutiert und beschlossen, für mich alles aufs Spiel zu setzen, die Freiheit und ihr Leben - damit diese Reportage geschrieben werden kann. »Ihr müsst berichten!«, hatte Ahmed gesagt. »Die Welt muss erfahren, was in unserer Stadt passiert!«

 

Die syrische Revolution ist der überraschendste aller arabischen Aufstände. Zu fest, dachte man auch im Ausland, sitzt Baschar al-Assad im Netz seiner zwei Dutzend miteinander konkurrierenden Geheimdienste. Mit brachialer Gewalt geht er seit einem halben Jahr gegen Demonstranten vor. Panzer schießen auf Zivilisten, Kriegsschiffe auf Städte. Doch die Brutalität erreichte bisher nur das Gegenteil von dem, was Assad wollte: Die Proteste weiten sich aus, sie streuen ins ganze Land und erfassen immer mehr Menschen. Das Regime hat seit Beginn der Unruhen die Grenzen für die ausländische Presse abgeriegelt, es will keine Zeugen. Offiziell gibt es derzeit keinen einzigen unabhängigen Korrespondenten im Land. Zu gut weiß Assad, der einstige Augenarzt, um die Macht der Bilder. Er weiß, dass internationale Medien nur berichten, was sie zeigen können. Lässt sich nichts zeigen, wird meist auch nicht viel berichtet. Die Welt kann Syrien seither nur noch unscharf sehen, verwackelt und grob gepixelt. Die Handyfotos der Demonstranten aus Damaskus und Homs wirken so weit entfernt wie die Aufnahmen, die Nasa-Roboter vom Mars zur Erde funken. Als sei Syrien aus der Welt gefallen.

 

Die Kinder sind Experten im Unterscheiden von Panzern geworden

 

Ich lege meinen Notizblock in das Bücherregal der Familie, er ist als Bibel getarnt, um ihn vor Beschlagnahmung zu schützen. Ich spüre meinen Herzschlag bis zum Hals. Ahmed läuft ums Haus, kommt wieder herein. Er ist unschlüssig. »Der Junge von nebenan vielleicht?«, sagt er zu Faten. Noch eine Weile schauen sie angestrengt durch die weißen Vorhänge, dann stellt Ahmed den Ton des Fernsehers wieder an, Faten wendet sich erneut der Küche zu. Sie klammern sich an jedes Stück Normalität, das ihnen geblieben ist in Homs.

 

Die Stadt ist ein bedeutendes Wirtschaftszentrum Syriens, zwei Millionen Einwohner, aufstrebend, mit einer Ölraffinerie, umgeben von Industriegebieten. Ein Profiteur der vorsichtigen ökonomischen Öffnung des Landes, die Baschar al-Assad seit zehn Jahren betreibt. Doch in Homs haben die Dinge jetzt ihre alte Bedeutung verloren. Straßen sind Schussbahnen geworden, Schulen sind Gefängnisse. Auf den Kreuzungen stehen Panzer, schlafende Riesen, deren Typenkennzeichen sich die Kinder gegenseitig aufsagen: T-60, T-62, T-72. Hin und wieder feuern sie in die Häuser.

 

Die Stadt ist zum Schlachtfeld geworden. Die meisten Geschäfte haben geschlossen, viele Einwohner sind geflohen, nach Damaskus, nach Aleppo, ins Ausland, wenn sie konnten. Trotzdem protestieren die Menschen noch in Massen, eine halbe Million an manchen Tagen. Die Nachbarschaften der Innenstadt, sunnitisch, arm, Zentren des Aufstandes, haben ihre Gassen verbarrikadiert. Sie legten Strommasten quer und verkeilten Müllcontainer in ihnen. Wie zufällig am Straßenrand geparkt, riegeln Privatwagen im Notfall die Fahrbahnen ab. Wieder und wieder versucht die Armee, in die Viertel einzufallen. Nachts zeichnen Geschosse am Himmel rote Bahnen.

 

»Möchte noch jemand Eiscreme?«, fragt Faten in einem Anflug von Heiterkeit in die Runde, als abends alle am Esstisch sitzen. Ihre Söhne lachen und halten ihr die Porzellanschalen entgegen. Der zwölfjährige Emrad mit den Pausbacken. Und der 25-jährige Mazen, der sich so verändert hat in den Monaten, seit die Proteste in Syrien begannen. Mazen ist meist in der vordersten Reihe, schwer kann er sich zügeln, sein berstendes Temperament. Die Eltern versuchen, ihn zurückzuhalten, doch sogar seinen Freunden fällt es schwer, ihn auf den Protestzügen zu beruhigen. Mazen hat Polizisten verprügelt und Scharfschützen vom Dach gestoßen. Zwölf seiner Freunde starben in den letzten Wochen, allein acht in den vergangenen Tagen. »Neulich stand er mit blutigem T-Shirt in der Küche«, sagt Faten, »weil er einen Verletzten von der Straße gezogen hatte.«

 

Nach dem Essen ist Faten mit dem Abwasch beschäftigt, als Mazens Handy klingelt. »Sie haben vor einer halben Stunde einen Freund von mir festgenommen!«, ruft er über den Küchentisch zur Mutter. »Mich schnappen die als Nächsten«, sagt er. Der Junge presst die Hände aufs Gesicht. »Jetzt wissen die meinen Namen.« Faten legt das Trockentuch zur Seite.

 

»Was willst du tun?«, fragt sie.

 

»Ich muss ihn freibekommen.«

 

»Das ist zu gefährlich, Mazen«, fleht die Mutter.

 

Aber was ist ungefährlich in dieser Lage? Mazen läuft in der Küche auf und ab, telefoniert, organisiert Freunde. Dann verschwindet er in der Nacht.

 

Das Ungeheuerliche vollzieht sich in dieser Stadt präzise wie ein Uhrwerk. »Es wird Zeit«, sagt Ahmed und zieht mich nach draußen zum Auto, schweigend, rasch, damit uns niemand hört und sieht. Die Gasse liegt abends in völliger Finsternis, seit Ahmed mit den Nachbarn die Straßenbeleuchtung abgeschaltet hat. Die Scharfschützen des Regimes sollen es nicht so einfach haben. Es ist kurz vor acht, immer näher rückt der Augenblick, auf den täglich ganz Homs hinfiebert, ob Regimegegner oder -anhänger. Die Stadt spannt ihre Muskeln an. Das Militär fährt in Bussen zu seinen Bereitstellungsposten. Auf den Straßen sammeln sich die Demonstranten. In kleinen Gruppen streben sie zu den Treffpunkten in ihren Vierteln. Es sind auch Kinder dabei, Jungs, nicht älter als zehn. Wie immer im Ramadan werden sie um 22 Uhr, nach dem Fastenbrechen, die Trommeln schlagen, ihre Fäuste in den Himmel recken und in Sprechgesängen fordern: »Assad, hau ab! Assad, hau ab!« Wie immer wird der Protest nur wenige Minuten dauern, denn dann beginnt das Militär zu schießen. Ahmed möchte, dass ich zuvor die Organisatoren treffe, er fährt durch leere Straßen, Müll auf ihnen, Fassadenteile, die von beschossenen Häusern fielen.

 

So rasch, wie wir aus dem einen Haus gekommen sind, verschwinden wir in einem anderen. Im dunklen Flur warten drei Herren um die sechzig, nervöse Blicke, feste Umarmungen. Ich bin der erste Journalist, zu dem sie sprechen, auch sie riskieren viel. Die drei nennen keine Namen, und ich frage nicht. Die Männer sind Geschäftsleute, Mitglieder eines Komitees, das die Widerstandsgruppen in der Stadt koordiniert. Sie entscheiden, wo wann demonstriert wird. Sie verteilen Megafone und Kameras. »Wir können nicht mehr zurück«, sagt einer von ihnen. »Hören wir mit den Protesten auf, halten wir sie nicht mehr beschäftigt, dann werden sie uns holen, einen nach dem anderen.«

 

Ursprünglich ist es ihnen in Homs nicht um den Sturz des Regimes gegangen. Sie hatten nur die Absetzung des Bürgermeisters gewollt. Der korrupteste des Landes, sagen sie, »der größte Dieb«. Er kassierte, wo es ging, auf jeden Neuwagen erließ er eine Privatsteuer von 1400 Euro, auf Stromzähler eine von 6500 Euro. Doch das Regime habe sofort mit Tränengas reagiert und von 200 Demonstranten die Hälfte verhaftet. Der erste Protestzug forderte die Absetzung des Stadtoberhaupts. Der zweite folgte eine Woche später, dieses Mal kamen 7000 Menschen, dieses Mal forderten sie: Freiheit! Am 18. April schließlich wollten es die Homser machen wie die Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Kairo. 80000 kamen zum Mittelpunkt der Stadt, dem »Platz der Alten Uhr«, es herrschte Euphorie. Reden wurden gehalten. Sie glaubten an den Druck der Straße, stellten Zelte auf, um den Platz zu besetzen. Nachts um 1.55 Uhr eröffnete das Militär das Feuer. Hunderte starben, manche sprechen von mehr als tausend. Bis heute ist nicht klar, wie viele genau ihr Leben ließen.

 

Nervöse Blicke zur Uhr, hastiger Aufbruch, zurück in Ahmeds Wohnung. In der Küche erklärt mir Faten, vor wem ich mich in Acht nehme müsse in der Stadt. Wie Pilzsporen durchdringt der Überwachungsstaat den Alltag in Homs. Die Taxifahrer seien fast alle Informanten der Geheimdienste, sagt sie, dazu kämen die Straßenfeger. »Manchmal sehe ich einen von denen, wie er immer wieder seinen Kopf über unseren Zaun reckt.« Faten imitiert seine Bewegungen. Sie lacht. Ihr Sohn kommt ins Haus, atemlos, das Handy am Ohr. Er wisse jetzt, sagt er, welcher Geheimdienst seinen Freund verhaftet habe, es ist der berüchtigtste, der Militärgeheimdienst. »Wie hast du das erfahren?«, fragt die Mutter. »Wir geben denen Geld«, sagt Mazen. Er hofft, ihn über Mittelsmänner freikaufen zu können. So machen sie es oft.

In den Krankenhäusern erschießen Geheimdienstler die Verletzten

»Komm mit«, sagt Mazen zu mir. Er will mir heute Nacht das befreite Syrien zeigen. Zu meinem Schutz hat Mazen 18 Männer mitgebracht, unter ihren Hemden tragen sie Pistolen. Wir fahren in Kolonne, drei Wagen hintereinander, alle über Funk miteinander verbunden. »Manchmal lauert uns die Geheimpolizei auf, aber wir kennen die Schleichwege«, sagt Mazen. Seine Gruppe ist der harte Kern im Armenviertel Baba Amr, das die Armee seit Monaten zu stürmen versucht. Der Konvoi rast durch die Stadt. Es gibt Ampeln, vor denen wir bei Rot halten, vereinzelt begegnen uns Autos mit Frauen und Kindern - versprengte Reste des Alltags. Über sein Handy erfährt Mazen, dass die Proteste in der Stadt begonnen haben. Zwölf Verletzte gebe es schon und einen Toten. Unser Ziel ist das Krankenhaus, das »befreite Syrien«, wie es Mazen halb ironisch nennt. Er sagt: »Wir halten es.«

Die Klinik ist in blaues Neonlicht gehüllt. An den Flanken stehen Wachmänner mit Kalaschnikows. Eine halbe Stunde lang könnten sie Angriffe des Militärs abwehren, sagt Mazen stolz. Wir hasten in den Eingang.

Auf den Fluren sitzen schwarz gekleidete Frauen. Ärzte rauschen von Zimmer zu Zimmer, wechseln misstrauische Blicke. Da liegt ein elfjähriger Junge auf einem blutverschmierten Laken, die Mutter steht an seinem Bettende. Ein Splitter zerriss seinen rechten Fuß, eine Kugel traf den linken, der aufgequollen ist zur Größe eines Fußballs. Der Junge lächelt tapfer. Im Nachbarraum liegt ein Mittzwanziger mit einer Kugel im Rücken. Der Arzt, der gerade den Katheter prüft, sagt, er werde vermutlich nie wieder laufen können. Dann ein Bauchschuss. Als Nächstes ein Schuss in die Brust. Ein Durchschuss im Bein. Viele Splitterwunden. Die Ärzte riskieren ebenfalls, in den Kerkern der Staatssicherheit zu enden. Syriens Krankenhäuser sind für Regimegegner keine Zuflucht, sondern eine Gefahr. »Du kommst mit einer Kugel im Bein rein«, sagte in Damaskus ein oppositioneller Mediziner, »und mit einer Kugel im Kopf kommst du raus.« Denn nachts kommen die Männer vom Geheimdienst an die Betten.

Überall im Land haben Ärzte deshalb Untergrund-Strukturen aufgebaut, es gibt Untergrund-Lazarette in privaten Wohnungen, geheime Apotheken. Um verwundete Aufständische aufzuspüren, hat der Staat die Ausgabe von Blutkonserven und Arzneien gegen Wundstarrkrampf einer zentralen Aufsicht unterzogen. Wenn Ärzte zu viel davon bestellen, fallen sie dem Geheimdienst auf. Die Revolution in Syrien ist bisher eine, bei der nicht Waffen ins Land geschmuggelt werden, sondern Plastikbeutel.

Mazens Männer ziehen mich von Raum zu Raum, sie sagen, alles solle ich sehen. Nur den Verrückten im Keller nicht. Er war einer von ihnen, jetzt verstört er sie. Er ist nicht mehr tapfer, heroisch. Mazen erzählt, der weine nur noch, brabbele, schmiere seine Exkremente an die Wände. Vor wenigen Tagen ist der Mann aus der Haft entlassen worden, geschlagen, gefoltert. Die Haut seines Hodensacks hatten sie mit Rasierklingen in Fetzen geschnitten. Unter die Fingernägel trieben sie ihm Metallstifte und setzten die dann unter Strom. Wochenlang. Die Pfleger haben ihn an eine Kellerwand gekettet. Sie haben Angst, er werde sich umbringen.

 

»Ich werde mich nicht festnehmen lassen«, sagt Mazen, der heute einen Revolver der Marke Smith & Wesson geschenkt bekam. Er sagt es seiner Mutter, als wir wieder in der Küche über Kaffeetassen sitzen. »Vorher erschieße ich mich.« Hilflos sieht sie ihn an.

 

 

Die Stadt droht auseinanderzubrechen, der Druck ist enorm. Knapp die Hälfte der Einwohner sind Sunniten, 20 Prozent Alawiten, der Rest Christen, Jesiden und Zaiditen. Die Risse zwischen ihnen werden täglich größer. Das Regime misstraut dem Ort, seit der sich 1982 beim Aufstand der Muslimbrüder gegen die Assads erhoben hat. In der Folge versuchte die Regierung, das damals mehrheitlich sunnitische Homs zu entschärfen: Ringsherum ließ es Dörfer für Familien der alawitischen Minderheit bauen, ihrer eigenen Glaubensgruppe. Die Sunniten fühlten sich eingekreist - was sie jetzt auch tatsächlich sind. Die meisten Alawiten sind aus der Innenstadt geflohen. In den Außenbezirken zerstörten alawitische Schlägertrupps sunnitische Geschäfte. Es gab erste Tote. Die Einfallstraßen zu ihren Wohngebieten haben die Alawiten mit Checkpoints gesichert, ihre Straßensperren sind nicht mit Militär bemannt, sondern mit alawitischen Zivilisten. Sie fürchten, in einem Syrien ohne Assad vernichtet zu werden. Homs ist in diesen Tagen eine Stadt wie Beirut in den achtziger Jahren, wo es an vielen Abzweigungen hieß: In diese Richtung können wir nicht fahren, da werden wir beschossen. In der Nacht schlafe ich unruhig. Im Schrank am Kopfende meines Bettes lagern Mazens Versuche, Rohrbomben zu bauen.

 

Das Regime hat die Schulen zu Gefängnissen gemacht

 

»Das ist der gerechte Preis, den wir jetzt zahlen«, sagt Ahmed am nächsten Morgen. »Der Preis für all die Jahre, die wir als Gesellschaft geschwiegen haben.« Beim Frühstück berichtet Faten, dass neue Panzerkolonnen in die Stadt einrücken, eine Kollegin hat ihr Bilder aufs Handy geschickt. »Was haben die vor?«, fragt Faten. Die Freundin war das letzte Mal vor zwei Tagen zu Besuch, völlig aufgelöst. Ihre beiden Töchter waren zur Schule gelaufen, die geschlossen war wegen der Ferien, doch sie fanden einen Weg hinein, zum Spielplatz, auf dem sie toben wollten - und sahen ihn voller Blut. »Was bedeutet das?«, fragte die Kollegin, deren Kinder weinend nach Hause gelaufen kamen. »Sie benutzen Schulen als Gefängnisse«, erklärte ihr Faten. »So machen sie das überall in der Stadt.«

 

5500 Euro verlangen die Geheimpolizisten, die Mazens Freund am Vortag festgenommen haben. Der Informant hat ihm zu verstehen gegeben, dass der Freund seit gestern gefoltert werde. »Oh Gott«, sagt Mazen und tigert durch die Wohnung. »Ich muss was tun!« Aber er hat das Geld nicht. Er ist grau um die Augen, das Gesicht wie eine Maske. Es bleibt ausdruckslos, auch wenn er sich erregt.

 

»Wo ist mein Sohn?«, schreibt Faten heute in ihr Tagebuch. »Dieser Junge, dessen Lachen so ansteckend war, der sich drei Mal am Tag wusch, über dessen Sauberkeitswahn wir uns alle lustig machten. Wo ist er jetzt? Ich vermisse sein Grinsen, sein verschmitztes Lächeln, sein verrücktes Tanzen, und am meisten vermisse ich: seine Liebe zum Leben.«

 

Wie ein Bienenvolk seine Königin umsorgen Mazens Männer ihren Scheich, einen jungen Bärtigen, der mir im Hauptquartier der Gruppe vorgestellt wird, charismatisch, ruhig und besonnen. Den Ehrentitel Scheich haben ihm die Männer im Lauf der Proteste verliehen, wie von selbst wurde er zu ihrer Führungsfigur. »Er wird vom Geheimdienst gesucht, tot oder lebendig«, sagt Mazen. »Wir achten darauf, dass immer viele Jungs um ihn herum sind.« Ein Haus in einer engen Gasse, überall Wachtposten der Widerstandskämpfer. Der Scheich hat mich zu sich gebeten, weil er mir besondere Gäste vorstellen will. Kleine Kinder wuseln um seine Beine, alle Besucher mussten ihre Waffen abgeben. Im Empfangszimmer des Scheichs sitze ich dann zwei Männern in weißen Gewändern gegenüber. War diese Einladung womöglich eine Falle? »Sie wollen dich sprechen«, sagt der Scheich. Die Männer gehören zu den hochrangigen Geheimdienstoffizieren der Stadt. Eigentlich wollte ich solchen wie denen nicht begegnen. Der ältere der beiden blickt herüber und fragt mich: »Wie geht es Ihnen?«

 

Der Mann scheint die Ruhe selbst zu sein, gerader Rücken, offenes Lächeln. Reglos sitzt er auf dem Teppich, nur sein rechter Daumen zuckt nervös. Er versorge die Rebellen mit Informationen, sagt der Offizier: wo, wann und wie die Einheiten der Sicherheitsdienste in Homs zuschlagen. Er könne dem Morden nicht länger tatenlos zusehen. Doch desertieren könne er ebenfalls nicht, weil das seine Familie gefährde. »Ein Freund von mir hatte sich losgesagt. Sie kamen in sein Haus, vergewaltigten seine Frau und nahmen ihn mit.« So gehe er weiterhin ins Büro, jeden Morgen, Innendienst, betont er. Fast die Hälfte der Kollegen des Geheimdienstzweiges, dem er angehöre, sei derzeit krankgeschrieben. Für ihre Atteste hätten sie Ärzte bestochen. »Die, die bereits getötet haben«, sagt er, »können nicht gehen. Sie würden von beiden Seiten gesucht.« Früher sei er stolz gewesen, Offizier beim Geheimdienst zu sein. Die Elite, sagt er. Das Vaterland. Der Kampf gegen Israel. »Es ging bei uns zu 80 Prozent um Abschreckung und nur zu 20 Prozent ums Prügeln. Inzwischen dreht sich alles nur noch ums Prügeln.« Früher sei er in den Restaurants umsonst bewirtet worden. Jeder habe versucht, sich mit ihm gut zu stellen. Die Leute hätten Respekt vor ihm gehabt. Jetzt sei er froh, wenn ihn draußen niemand erkenne. »I am lost«, sagt er. Ich bin verloren.

 

Männer wie ihn gebe es viele in den Geheimdiensten, Schläfer der Rebellen, in fast allen Abteilungen, sie alle beobachteten die Gräueltaten, notierten die Namen der Folterer und Mörder, führten heimlich Protokoll über Gefangene und Tote. Für den Tag, an dem eine neue Regierung sie zur Rechenschaft ziehe. 120000 Menschen seien derzeit in Haft, behauptet mein Gegenüber. Im ganzen Land seien provisorische Internierungslager entstanden - in Kinos, Fabriken, Universitäten. Allein in Homs nutzten sie 25 Schulen und Lagerhallen als Gefängnisse. »Dort bleiben die Inhaftierten maximal eine Woche. Sie werden erst geschlagen, dann befragt.« Der Mann nennt die Namen einiger Schulen, der Scheich nickt dazu. Drei Viertel der Gefangenen würden nach einer Woche freikommen, oft gegen Lösegeld. »Diese Praxis hat der Präsident persönlich veranlasst«, sagt der Offizier. Die Freikäufe helfen den Assads, ihre Schläger und Soldaten zu bezahlen, denn dem Regime gehen allmählich die Rücklagen aus.

 

Durch die Stadt geht ein Gerücht: Die Organe der Toten werden verkauft

 

Der Ort des größten Schreckens liege außerhalb von Homs, sagt der Offizier, 30 Kilometer vor der Stadt, wo der Militärgeheimdienst in einem Industriegebiet eine unterirdische Zellenanlage betreibe. »Das ist das Schlimmste. Die haben da Kapazität für 10000 Personen, sind aber noch nicht voll.« 12000 Regimegegner seien bisher in den Gefängnissen Syriens gestorben. 6000 gelten als vermisst. Sie sind in den Niederungen der Geheimdienstwelt verschwunden, zu denen auch er und seine Kollegen keinen Zugang haben. Der Offizier spricht von Massengräbern. Rund um Homs gebe es 32 davon, angelegt vom Militärgeheimdienst. In jedem Grab lägen zwischen 60 und 100 Tote. Die Sicherheitskräfte packten die Leichen in Müllsäcke, einen zögen sie über den Oberkörper, einen über die Beine. Müllwagen seien es dann auch, die die Toten zu den Gräbern führen. Vielen der Opfer seien zuvor Leber, Niere und andere Organe entnommen worden. Der Offizier bestätigt damit das Gerücht, dem zufolge das Regime mit den Organen von Toten Handel treibt. »Die Organe gehen in den Libanon und nach Ägypten. Das berichten unsere Leute in den Krankenhäusern und beim Zoll.«

 

Die Zahlen des Offiziers sind weit höher als die Angaben syrischer Oppositionsgruppen. Das Local Coordination Committee zählt bisher 2000 Tote und 15000 Inhaftierte. »Das sind nur die Opfer, die wir mit Namen kennen«, sagt der Sprecher des Komitees. »Bei dem Umfang der militärischen Operationen gehe ich davon aus, dass es in Wirklichkeit noch viel mehr sind.«

 

»Ihr müsst uns helfen«, bittet der Geheimdienstoffizier und meint damit den Westen. Noch versuchten die Regimegegner ihren Protest friedlich zu halten, aber ein Bürgerkrieg sei unvermeidbar. »Zu viele von uns sind gestorben«, mischt sich der Scheich ins Gespräch. Er erzählt, dass sich die Demonstranten zu bewaffnen begännen. Im Viertel gebe es Verstecke mit Gewehren und Panzerfäusten, panzerbrechenden Raketen und sogar einer Flak, erbeutet von der Armee. Im Bezirk Homs, der bis zur irakischen Grenze reicht, seien 10000 Soldaten desertiert, behauptet der Geheimdienstmann. Tatsächlich häufen sich in Homs die Schießereien zwischen Deserteuren und Soldaten.

 

Der Offizier spricht etwas an, was in der syrischen Opposition ein Tabu war, was immer wieder verneint und abgelehnt wurde: eine militärische Intervention des Auslandes. »Was unterscheidet uns von Bengasi, von Libyen?«, fragt der Offizier. Er appelliert an den Westen, militärische Berater zu schicken. Und Waffen. Er wünscht sich eine auf Homs begrenzte Flugverbotszone. Er will es, und der Scheich will es. Die drei Koordinatoren, die ich am Vortag traf, wollen es und auch der besonnene Ahmed. Darin scheint es unter den Führern der Rebellion Einigkeit zu geben: Die Nato muss für Homs etwas tun. Sie seien sich über die Konsequenzen im Klaren, sagen alle. Die Nato müsse massiv bombardieren, alles zerstören, was für die Rebellen im Entferntesten gefährlich werden könnte. So wie in Libyen. Dann würden sich größere Teile der Armee den Revolutionären anschließen. Die syrischen Oppositionsgruppen im Ausland machten einen Fehler, schlössen sie diese Möglichkeit aus. »Die schlafen sicher in ihren Betten«, sagt der Scheich. Denen sei nicht klar, wie dramatisch die Lage in der Stadt sei. Er wiederholt: »Wir bitten die Nato, uns zu helfen!«

 

Die Panzer, die sich morgens in Bewegung gesetzt haben, drohen den Ort zu umschließen. Der Scheich drängt mich, die Stadt in der Nacht zu verlassen, sonst gebe es womöglich keinen Fluchtweg mehr. Ich kehre an Fatens Küchentisch zurück. Ahmed hat am Nachmittag Kommunalpolitiker getroffen, mit denen er eine Partei gründen will. Die alten Herren haben schon große Teile des Programms niedergeschrieben. »Sehr sozialdemokratisch«, sagt Ahmed und grinst. Ganz aufgekratzt ist er, euphorisch. Landesweit versuchten Oppositionsgruppen einen Nationalen Übergangsrat zu formen, so wie in Libyen, sagt Ahmed, damit das Ausland einen Ansprechpartner habe. Es ist bereits der zweite Versuch. Der erste scheiterte mit der Verhaftung fast aller Ratsmitglieder.

 

»Sollen nicht auch wir gehen?«, fragt Faten am Abend, als Ahmed mich aus der Stadt bringen will. »Ist es besser, Homs zu verlassen? Oder ist es wichtiger, hierzubleiben?« Sie verliert ihre mühsam bewahrte Fassung und weint. Faten würde gehen, zu ihrer Schwester nach Damaskus, aber Mazen will bleiben. Alles andere wäre für ihn Verrat an den toten Freunden. Während sein Vater über Parteistatuten saß, feuerte der Sohn auf der Dachterrasse zum ersten Mal seine neue Pistole ab.

 

Das Morden beginnt an diesem Abend noch vor der gewohnten Zeit. »Was mache ich jetzt?«, sagt Ahmed, die Hände am Lenkrad, während um uns herum Schüsse fallen. Er hat mit seinem Wagen die Hauptstraße erreicht. Die Demonstrationen haben noch nicht begonnen, links und rechts der Straße schlendern junge Männer zu den Moscheen. Plötzlich suchen sie Deckung, hinter Gartenmauern, in Hauseingängen. Aus dem Auto heraus sehen wir Hunderte Uniformierte, wie sie rennen, stehen bleiben, anlegen, schießen. Und abermals zu rennen beginnen. »Ruhig bleiben«, sagt Ahmed, mehr zu sich selbst. Er biegt in eine Seitenstraße ab, hofft, dass es dort sicherer ist. Erst vorgestern hat er das Auto aus der Werkstatt zurückbekommen. Kugeln hatten Kotflügel und die hinteren Türen durchschlagen. In den Seitenstraßen tasten sich andere Wagen voran, die Fahrer kurbeln die Scheiben herunter und geben einander Tipps, wie die Gefahr am besten zu umfahren sein könnte.

 

Faten ruft an. Mazen sei mitten in den Demonstrationen. Ahmed stöhnt. Kämpft gegen die Versuchung, die Nummer seines Sohnes zu wählen. Er könnte ihn im falschen Moment ablenken. Er biegt einmal nach rechts ab, dann noch einmal - und plötzlich stehen wir direkt hinter den Sicherheitskräften. Sechs ihrer Busse blockieren die dreispurige Fahrbahn. Eine rollende Kaserne. In Trauben steigen Bewaffnete ein und aus. Hinter dem Konvoi staut sich der Verkehr, davor wird geschossen. Schwere Explosionen. Sporadisches Maschinengewehrfeuer. Die Busse stoppen für einige Minuten, dann rollen sie weiter, beharrlich, wie ein Pflug den Acker pflügt. Ahmed trommelt mit den Fingern aufs Lenkrad. Da zeigt ein Soldat im Heck eines Busses auf mich. Drei weitere tun das Gleiche. Der Konvoi erreicht zum Glück eine Kreuzung, Ahmed biegt ab.

 

Es werden an diesem Abend vier Menschen getötet und 40 verletzt. Mazen wird die Nacht über im Krankenhaus bleiben, um die Verwundeten zu bewachen. Die Jungen wollen jetzt die Waffen aus den Verstecken holen. Ein geheimes Krisenkomitee der syrischen Opposition reist aus der Hauptstadt Damaskus an. Sie bleiben 15 Stunden, reden mit vielen Gruppen, in vielen Vierteln. Die Zeit sei noch nicht reif, sagen sie und warnen: Die Regimegegner sind militärisch zu schwach, und das Regime ist noch zu stark. Die Befürworter eines friedlichen Widerstandes setzen sich am Ende durch - noch einmal.

Am nächsten Tag gehen in Homs wieder Tausende Menschen auf die Straßen, mit nichts in den Händen als ihren Mobiltelefonen.