Gestatten, ich, ich, ich, ich, ich und ich: das neue Wir

Von Klaus Raab

Das Ich ist die Figur der Gegenwart: Gemeinschaft herzustellen, funktioniert nicht mehr – außer durch die Vernetzung der Ichs.

Im Jahr 2000 wurde die sogenannte Generation Ich für eine Generation von FDP-Wählern gehalten. „Der Zeitgeist ist auf der Seite der Möllemänner und Westerwelles“, schrieb Der Spiegel damals. Die Ausgabe trug den Titel: „Generation Ich. Von der Revolte zur Rendite“. Auf dem Heftcover waren Rudi Dutschke und Rainer Langhans, zwei große Ichs der 68er, abgebildet. Im Hintergrund ritten natürlich irgendwelche Nazis, die wohl deren Elterngeneration symbolisierten. Und ganz vorne sah man fünf geleckte Jungunternehmer.

Es lohnt sich, den zugehörigen Aufmachertext „Die neuen Deutschen“ (tiny.cc/tf2ti) heute noch einmal zu lesen. Weil er einen Eindruck davon vermittelt, was sich seither geändert hat. Es kann heute, anders als vielleicht noch damals, zum Beispiel nicht mehr als ausgemacht gelten, dass jeder, der „Ich“ sagt, zwangsläufig ein Freund der Ellbogengesellschaft ist.

Denn was soll man denn sonst sagen?

„Die Grünen“, hieß es 2000 im Text, „tragen noch immer die Ideale der 68er-Generation vor sich her: ein großes Wir-Gefühl, das sich um alles und für alle sorgte. Doch eine Generation nach der Revolte der Studenten, in einer Welt des harten globalen Wettbewerbs, geht es erst mal ums eigene Leben: Die Generation Ich gibt den Ton vor, typisch vertreten durch die Youngster des Internet-Business. Sie arbeiten viel, verdienen viel – und wollen ganz viel Spaß dabei haben.“ Diesen Ton, analysierte der Spiegel damals, träfen die Leute von der FDP, die von Tempo und Turbo sprächen, die auf Rollerblades Brötchen an Bürger im Stau verteilten und die Big Brother als mögliches politisches Forum entdeckt hätten.

Elf Jahre später, in diesem Herbst, ist wieder besonders viel vom Ich die Rede. Nur die FDP spielt kaum noch eine Rolle bei den Betrachtungen. Die Piratenpartei hat in Teilen der öffentlichen Debatte nicht nur bei der Konkurrenz zu den Grünen, sondern auch über Freiheit und Selbstbestimmung, über das Individuum also, ihren Platz eingenommen. Die individuelle Freiheit ist nicht weniger zentral, der Begriff vom Ich aber ist – soweit sich das über eine Learning-by-doing-Partei wie die Piraten sagen lässt – ein anderer.

Ein Ja zum BWLer-Anzug

Es handelt sich bei der FDP, wie man heute weiß, um eine Partei, die dann doch alles falsch gemacht hat. Vielleicht auch, weil sie sich von diesem damals bestehenden Bild der sogenannten Generation Ich täuschen ließ, das freilich weniger das Bild einer Generation war als das von ein paar New-Economy-Vorpreschern, die damals Avantgarde zu sein schienen. Weil sie glaubte, dass ein Ja zum Ich zwangsläufig ein Ja zum BWLer-Anzug bedeutet, zur – so nannte man das doch damals – Spaßgesellschaft, in der sich kaum jemand um etwas anderes schert als um sein eigenes Befinden.

In diversen Artikeln, die in den vergangenen Wochen über das Ich in der Literatur geschrieben wurden, kann man eine breite Ablehnung dieses Kreisens um sich selbst herauslesen. Sie behandeln einige prominente Romane, die nicht von Schriftstellern handeln, die ihre eigene Lesereise literarisch aufarbeiten; nicht von Leuten, die beim Fall der Mauer alleine am Kneipentresen sitzen und über sich nachtrinken; nicht von entwurzelten Helden. „Die stolze Vaterlosigkeit“ sei vielmehr „einer Sehnsucht nach genealogischer Kontinuität gewichen“, schrieb etwa Iris Radisch in der Zeit und freute sich über die Rückkehr des „einsamen Ichs“ zur Familie; und auch andere Literaturkritiker feierten den Rückzug des „egozentrischen Blicks der Ich-Erzähler“ oder das Ende der Zeit der „Selbstfindungsprosa“.

Spiegel-Online-Kolumnist Georg Diez warf ihnen daraufhin vor: „Was hier von unterschiedlicher Seite versucht wird, ist eine Umdeutung der Gegenwart mit den Mitteln der Literaturkritik.“ Wo er recht hat: Aus drei Romanen lässt sich noch keine Gegenwartsbestandsaufnahme schnitzen. Wo er auch recht hat: Die Rückkehr zum Familienzusammenhang, die als Utopie hier und da durchklingt, ist nicht in allen Auswüchsen, die sie mit sich brächte, erstrebenswert.

Eigentlich aber sprachen sie einfach über unterschiedliche Begriffe vom Ich. Nicht der Ich-Erzähler an sich wurde ja für gestrig erklärt, sondern nur jenes Erzähler-Ich, das sein eigenes, allerdings extrem mittelmäßiges Leben in den Mittelpunkt seiner Weltbetrachtung stellt. Ein Ich, das als Metapher für den unregulierten Markt dienen kann, in dem jeder sein Ding machen kann, und am Ende setzt sich durch, wer zur geilsten Marke wird. Das ist es, was Iris Radisch gemeint haben könnte, wenn sie über das einsame Ich in der deutschsprachigen Literatur schrieb, die „Monaden-Literatur“ habe „den passenden Begleittext zur expandierenden Privatwirtschaft“ geliefert. Das FDP-Ich, das frei ist von den Problemen der anderen, ist in der Tat ziemlich am Ende. Man könnte es das deregulierte oder negative Ich nennen.

Das Ich, das im Jahr 2011 dominiert, zeichnet sich durch etwas anderes aus. Es ist charakterisiert durch die gewaltige Schwierigkeit, in einer Welt der Nischen und kurzlebigen Trends ein großes „Wir“ herzustellen. Bei internationalen Fußballturnieren oder anderen Großveranstaltungen klappt das vielleicht noch manchmal, aber es währt auch da nur bis zum Schlusspfiff des Endspiels.

Das Ich der Gegenwart ist charakterisiert durch das Wissen um diese Schwierigkeit. Durch die Akzeptanz, vielleicht sogar Bejahung dieser pulverisierten Gegenwart. Vor allem aber ist es charakterisiert durch den Wunsch, trotzdem etwas zu wollen, das an eine Gemeinschaft erinnert. Man könnte es das soziale Ich nennen. Wir – das sind in diesem Modell die vielen Ichs, die sich vernetzen.

Vernetzung ist die gegenwärtige Methode der Gemeinschaftsherstellung. Das ist nicht neu, seit Jahren ist davon die Rede, aber allzu oft ging es dabei exklusiv ums Internet. Online „vernetzt man sich“, klar, so heißt das halt. Die Trennung der Welt in Online und Offline stellt sich aber in den vergangenen Monaten verstärkt als Anachronismus heraus. Offline vernetzt man sich schließlich genauso. Nicht dass alle vor dem Monitor hängen und Witze bei Facebook sharen, ist das Wesentliche der Netzkultur. Wesentlich ist das Organisationsprinzip, das sich damit verbindet.

Eine neue Öffentlichkeit

Die Hierarchie zwischen Sender und Empfängern ist im Netz bekanntlich aufgehoben, und das führt auch zu einer Stärkung der Ich-Position. Jede Meinung verhilft sich zu ihrem Recht, öffentlich oder halböffentlich geäußert zu werden. Und wenn viele Äußerungen, die so nachzulesen bleiben, noch so hohl sind: Das war jahrzehntelang die Utopie jener, die hoffnungsvoll ein Wort wie „Gegenöffentlichkeit“ benutzten. Das Gegen- braucht heute kein Mensch mehr. Öffentlichkeit ist das Wir der vielen Ichs, die dafür, dagegen, ganz anderer oder manchmal natürlich auch vollkommen beknackter Meinung sind.

Blogs, Twitter, Facebook und dem ganzen Zeug beikommen zu wollen, indem man sich über „Selbstdarstellung“ oder „Egozentrik“ mokiert, ist insofern nicht gegenwarts-tauglich. Man kann hier ja nicht anders handeln, als sich selbst einzubringen. Natürlich, MeinVZ oder MySpace, das klingt wie einst „Mein Haus, mein Auto, mein FDP-Parteibuch“. Das nicht-hierarchische Netzwerkprinzip ist aber dennoch eigentlich ein soziales.

Und dieses Prinzip ist etwa jenes der Piratenpartei. Wenn sie von Basisdemokratie spricht, muss sie nicht, wie die frühen Grünen, eine Utopie vorleben, sondern kann auf technische Innovationen verweisen, die eine gesamtgesellschaftliche Umsetzung dieser basisdemokratischen und damit dem einzelnen Ich verbundenen Idee zumindest greifbar machen.

Man sieht das soziale Ich aber nicht nur bei den Piraten ansatzweise verwirklicht, sondern auch in den diffus wirkenden Gruppen, die derzeit als wichtige Akteure durch die Welt geistern, egal ob Occupy, Anonymous oder die Protestierer gegen Stuttgart 21. Es fehlen die starken Ich-Figuren darin, die hervorstechenden Redner der 68er, die ja auch als Sammlung der vielen Ichs ein Wir herstellten, sich dabei aber eher vertikal organisierten, mit einigen Mediengesichtern und Vorrednern an der Spitze. Heute fehlt bisweilen sogar die weltanschauliche Gemeinsamkeit. Natürlich, es gibt die Organisatoren, die dann vor die Kameras gezogen werden, weil man ja mit irgendjemandem aus diesem Haufen mal sprechen muss. Aber diese Organisatoren sprechen dann nicht für alle, die an einer solchen Protestveranstaltung teilnehmen.

Organisiert wie das Netz

Was alle einte, die in Madrid, in London, in New York, in Frankfurt am Main oder Stuttgart zusammenkamen, war eine mal konkrete, mal gar nicht näher definierte Unzufriedenheit, die nicht bei allen Teilnehmern dieselbe Ursache haben musste. Die neuen Protestbewegungen organisieren sich nicht über das Netz – das tun sie vielleicht auch, aber das ist nicht entscheidend. Vor allem organisieren sie sich wie das Netz, dezentral, impuls- und bisweilen herdengetrieben. Sie teilen ein Unbehagen, aus dem sich ein paar gemeinsame Fragen ergeben, aber die Antworten fallen individuell aus. Die gemeinsame Basis ist die Suche und ihre Organisation.

Insofern sind sie nicht links oder rechts: Die CDU vermutet ihre Wählerschaft ebenso bei der Occupy-Bewegung wie die Linke. Und wenn die Piraten von „undogmatischem“ oder „postideologischem“ Denken sprechen, von einer Überwindung der Links-Rechts-Gesäßgeografie, dann heißt das folglich auch nicht, dass es für sie keine linken oder rechten Positionen mehr gäbe. Gemeint ist, dass sich eine Position der Partei nicht aus einer überlieferten Lehre ableitet, sondern – zumindest in der Theorie – aus der Abstimmung über die Einzelstimmen. Gemeint ist die dezentrale Organisation der Suche nach Antworten. Die Suche der vielen Ichs nach einem Wir.

Dass sich sowohl Occupy als auch Piratenpartei kürzlich mit der Präsenz von aktuellen oder ehemaligen NPD-Mitgliedern konfrontiert sahen, ist die Konsequenz daraus, dass sie sich für die Kooperation in neuen Bahnen stärker interessieren als für überlieferte politische Lehren. Deshalb wird dieses wabrige Wir bisweilen als „unpolitisch“ kritisiert. In der Tat ist ja auch nicht einmal klar, wohin dieses Ich-Wir zielt. So kam es wohl, dass Dietmar Dath 2004 das damals erschienene Buch Multitude von Michael Hardt und Antonio Negri unter anderem mit der Begründung in die Tonne klopfte, was sie da als Zukunft anpriesen, sei „formlose Grütze“.

Was Negri und Hardt anpriesen, war die Macht der Menge, der „Vielen, vielgestaltig und einzigartig. Sie zeichnen sich weder durch gemeinsame Identität aus (Volk) noch durch Uniformität (Masse). Sie sind dabei, ein Gemeinsames zu entdecken, indem sie miteinander in Beziehung treten und gemeinsam handeln, sich global vernetzen und Wissen produzieren“, wie es treffend auf dem Rückumschlag hieß.

Man konnte diese vielgestaltige Menge – oder eben „formlose Grütze“, wenn man unbedingt so will – etwa kürzlich beim Occupy-Protest in Frankfurt bewundern. Jeder, der wollte, durfte da zu den anderen sprechen, und wenn es stimmt, was in den Zeitungen steht, ergriff da mal einer das Wort gegen Studiengebühren, dann jemand für die Rettung Griechenlands, anschließend einer dagegen. Der Nächste rief Ja zum Sozialismus, der danach Ja zu mehr Demokratie, woraufhin ein Nein zu mehr Demokratie, ein Ja zur Liebe, ein Ja zu Tauschhandel und ein Ja zur Räterepublik ertönte. Wenn dann auch noch die Kanzlerin bezeugt, sie „verstehe“ den Protest, bleibt als gemeinsames Fundament erst einmal ein eher dünnes Brett.

Man kann daher nicht prophezeien, ob aus einer Bewegung wie Occupy ein – in den etablierten Begriffen – linkes oder ein rechtes Wir entsteht. Man weiß nicht, wer da wen wie zu vereinnahmen gedenkt. Dasselbe gilt für die Piratenpartei: Wer wollte heute ausschließen, dass aus einer Bürgerrechtspartei einmal eine libertäre Partei wird, die sich gegen jegliche staatliche Regulierung einsetzt? Man muss insofern auch nicht frenetisch losjubeln, weil das soziale Ich eine zentrale Gegenwartsfigur ist. Aber man kann festhalten, dass es in der pulverisierten Gegenwart keine bessere Möglichkeit gibt, gemeinsam tätig zu werden, als dadurch, dass sich die vielen Ichs vernetzen. Und es gibt ja auch historisch keine Gemeinschaften, also keine „Wirs“, die vom Himmel fielen. Jede Gemeinschaft ist zunächst einmal ein Konstrukt.

Die vielen sozialen Ichs erfinden gerade ein kommendes „Wir“.

der Freitag, 3. November 2011