Frau Zimmermann zieht um

Von Jennifer Wilton

57 Jahre lang hat sie in ihrer Wohnung im Süden von Berlin gelebt, zuletzt allein. Jetzt, mit 84 Jahren, packte sie ihre Koffer. Ihr Ziel: ein Altenheim. Die Geschichte einer schweren Entscheidung.

Als Frau Zimmermann das letzte Mal nach 57 Jahren nach Hause kommt, hat sie einen Faltstuhl dabei. Der Stuhl hat drei kurze, dicke Holzbeine, die hat sie auseinandergezogen und auf den Balkon gestellt. Sie hat sich hingesetzt und ist sitzen geblieben, für einen Moment. Es ist kalt, aber nicht zu kalt auf dem Balkon, es geht kaum Wind, doch wenn sich die Luft bewegt, dann weht sie eine Ahnung von Frühling herüber. Irgendwo pfeift es zaghaft in einem Baum, es ist die Zeit, zu der die Amseln wieder lauter werden, die Finken und die Meisen, für die auf der Brüstung immer ein Häuschen stand, und ein Teller mit Krumen, Haferflocken für die Amseln. Es ist die Zeit, in der die Kästen sauber gemacht und die Eisblümchen gepflanzt werden müssten, sie leuchten dann schon rot, wenn vor dem Haus alles grün wird. Frau Zimmermann wird in diesem Jahr nicht pflanzen. Sie wird überhaupt nichts tun. Das ist ungewohnt, wie das Sitzenbleiben. Frau Zimmermann fährt mit der Hand nach rechts, aber da ist nichts mehr, dann zieht sie sich an der Brüstung hoch. Gleich wird es klingeln.

Bis zum Flur sind es exakt neun Schritte. Sechs Schritte, das Wohnzimmer, drei Schritte, die Schwelle, links die angelehnte Badezimmertür, rechts die Nische für den Spiegel, vorne der Haken für die Schlüssel. Der Teppich macht die Schritte dumpf, Parkett gibt es nur noch im Arbeitszimmer, seit dem großen Wasserschaden bei den Nachbarn oben. Die Sonne streift die Wand im Schlafzimmer, später wird sie ins Wohnzimmer scheinen, die Post fällt immer gegen 12 Uhr leise raschelnd durch den Briefschlitz. Die Post hat nie geklingelt.

Es sind die Männer von der Wohnungsbaugesellschaft. Sie wollen eine Unterschrift, und nach der Unterschrift ist es nicht mehr die Wohnung von Frau Zimmermann. Auf dem Klingelschild steht nicht mehr ihr Name. Er klebt seit ein paar Wochen drei Kilometer weiter an einer Zimmertür in einem Altersheim. Es war der richtige Zeitpunkt für den Umzug, das sagt Frau Zimmermann oft in diesen Wochen, sogar in den schlechten Momenten. Sie sagt: "Entschieden ist entschieden." Und dann noch: "Trübsal blasen ist nicht", falls eine Pause entsteht.

Frau Zimmermann ist 84 Jahre alt, aber sie sieht nicht alt aus, wenn sie sitzt und spricht, das liegt vor allem an ihrer Stimme, die jung klingt, und meistens energisch. Sie sieht nicht alt aus, wenn sie lacht und sich in die Haare greift, kräftige Haare, die früher braun waren und bis heute nicht richtig grau sind. Wenn sie steht, ist das etwas anderes, dann krümmt sie die Schultern, ihr Gang ist tastend, ihr wird oft schwindelig. Das Bewegen ist mühsam geworden. Vieles ist mühsam geworden.

Im vergangenen Herbst, an einem Montag, hatte ihre Hausärztin sie in den Arm genommen und gesagt, vielleicht sei das jetzt das Beste, ein Altersheim. Die Hausärztin muss das vermutlich oft sagen, es leben viele ältere Menschen in Frau Zimmermanns Nachbarschaft, in den kleinen Straßen im Süden von Berlin, in denen es oft still ist, und die wenigsten dieser Menschen wollen den Satz hören. Manche warten, bis für sie entschieden wird. Manche wehren sich dagegen, dass für sie entschieden wird. Es gab aber niemanden, der für Frau Zimmermann entscheiden konnte, sie lebt allein, seit Herr Zimmermann vor neun Jahren gestorben ist. Kinder hat sie keine.

Vorgemacht hat sich Frau Zimmermann selten etwas in ihrem Leben, warum jetzt damit anfangen? Es stimmte ja, dass sie immer häufiger in ihrer Wohnung stand und dachte, sie könne nicht mehr. Zwar hat sie dann auch immer dazu gedacht: "Donnerwetter, du hast noch so viel zu tun, also jetzt los, bitte." Aber das hat nicht mehr gereicht. Es hat auch nicht mehr gereicht, dass da Freunde waren, helfende Freunde, die organisierten, einkauften (Montag), vorlasen (Dienstag), sauber machten (Donnerstag), einluden (Feiertage). Es hätte jemand zu ihr ziehen können, eine Betreuerin, sagt Frau Zimmermann. War ja genug Platz da. Das Arbeitszimmer. Die beiden Wohnzimmer. "Aber da hab' ich auf einmal den Horror gekriegt. 'Ne fremde Person, immer jemand um dich herum? Nee. Was soll die auch den ganzen Tag machen?" Eine Woche später sah sich Frau Zimmermann zwei Heime an. Zwei Wochen später sagte sie zu einem Ja. Im Dezember hat sie ihre Wohnung gekündigt. Das war nicht schwer, das war schnell gemacht, nachdem der Mietvertrag von 1953 einmal gefunden war, und weitermachen, anpacken, so hat sie es ja immer gehalten.

Aber was die Entscheidung bedeutete, das wurde Frau Zimmermann eigentlich erst später klar. Zum Beispiel, dass es nicht so einfach ist, einen sogenannten Lebensabschnitt zu beginnen, wenn er nicht nur neu, sondern vor allem der letzte ist. Ein Lebensabschnitt, in dem plötzlich alles weniger wird, nicht mehr mehr, wie ein Leben lang, und Zukunft zu einem seltsamen Begriff, zu einer überschaubaren Größe."

Es wurde Zeit, dass ich unter die Fittiche komme", sagt Frau Zimmermann, die sehr pragmatisch sein kann.

Die Männer von der Wohnungsbaugesellschaft stehen im Flur, gehen in das Wohnzimmer, der eine schaut sich Fenster, Fugen, Wände an, der andere erzählt die besten Geschichten seiner letzten 100 Wohnungsabnahmen, er lacht sehr viel. Frau Zimmermann hat ihre Brille aufgesetzt, dabei sieht sie auch mit Brille kaum etwas, sie geht eine Weile mit dem Schauenden mit, der sagt, es sei klar, hier müsse alles neu gemacht werden, und vor der Stelle an der Wand stehen bleibt, an die Herr Zimmermann Zahlen geschrieben hat, Abmessungen für die Holzverkleidung, die er dann angebracht hat, in den 50er-Jahren muss das gewesen sein. Auch eine Tür hatte er hinter dem Holz versteckt, wegen der Stellfläche für die Bücherregale. Jetzt liegt sie wieder frei. Zählerstände, Formulare, Schlüsselübergabe, alles Routine. Nur nicht für Frau Zimmermann.Ihr letzter Umzug ist, wenn man es genau nimmt, auch ihr erster Umzug.

Aus Potsdam, wo sie geboren wurde, war Frau Zimmermann 1946 nur mit einem kleinen Köfferchen nach Berlin gekommen, dem Verlobten, der Arbeit hinterher, sie wusste ja nicht, wie lange sie bleiben würde, ob überhaupt. Wer wusste das damals schon. Da war ja alles in Trümmern, die Stadt, die Pläne, von Träumen gar nicht zu reden. Da hatte man Schlafstellen, kein Zuhause - das Schwesternwohnheim, möblierte Zimmer, später der Raum bei den Schwiegereltern. Sie war ausgebildete Krankengymnastin, ihr Mann Konditor, als sie 1953 in die Wohnung einzogen. Dreieinhalb Zimmer, Küche, Bad, Balkon, 90 Quadratmeter, parterre, die sie von einer Kollegin übernahmen, das war praktisch. Das Haus war erst zwei Jahre zuvor gebaut worden. Die Zeitschriften waren voll davon, wie man diese modernen Heime zeitgemäß einrichtete, aber Frau Zimmermann hatte keine Zeit, die Zeitschriften zu lesen, sie arbeitete ja 13, 14 Stunden am Tag damals, der vordere und der kleine Raum waren die Praxis. Die Möbel blieben also die, die sie hatten: der Küchenschrank, den sie zur Hochzeit bekommen hatten, der kleine Schreibtisch vom Schwiegervater, die Lampe mit dem Schirm aus Porzellan, von ihren Eltern.

Frau Zimmermann hat 20 000 Tage in der Wohnung gelebt, grob geschätzt, ob das so geplant war, das weiß sie nicht. An diesen Tagen ist eine Stadt wiederaufgebaut, geteilt und wiedervereinigt worden. Auf den brachliegenden Feldern hinter ihrem Haus wurden Häuser gebaut und Straßen asphaltiert, der Mann mit dem Pferd und dem Flächenwagen verschwand, ihr DKW wurde das dritte Auto in der Straße, dann eines der ältesten, dann ein VW. Der Kaufladen von Frau Riester machte zu, und der Schuhmacher, und der Bäcker, ein Optiker zog ein, und am S-Bahnhof, zwei Ecken weiter, eröffnete der Supermarkt. Frau Zimmermann schloss die Praxis und machte nur noch Hausbesuche, Herr Zimmermann begann ein Studium und wurde Richter, der erste Hund zog zu ihnen, er hieß Purzel, sie lernten den Jazz kennen und die Konzerte, sie schafften sich ein Abonnement für die Oper an, und für die Philharmonie, sie traten in den Buchklub ein. Gelegentlich verschlossen sie die Wohnungstür sorgfältig und fuhren nach Frankreich, Griechenland, einmal in die USA, und im Sommer ging es immer in die Schrebergartensiedlung nach Bocksfelde, ganz im Westen der Stadt. Sie standen morgens um 6 auf, auch am Sonntag, wegen der Hunde, und kamen nicht immer um 23 Uhr ins Bett, wegen der Arbeit, wegen der Abos, und der Freunde, die immer vorbeikommen durften. Sie waren oft müde, gerade in den ersten Jahren, es blieb nie viel Zeit. Nicht zum Innehalten, nicht zum Klagen, nicht zum Ängstigen, zum Beispiel damals, während der Blockade. Die Angst hatten sie sich ja ohnehin abgewöhnt, schon lange.

Angst hat Frau Zimmermann eigentlich nur vor Feuer, seit sie damals, im Frühjahr 1945, durch das brennende Berlin gelaufen war. Rechts Flammen, links Flammen und das Krachen, wenn die Häuser in sich zusammenfielen. Das Tuch vors Gesicht gedrückt, um den Rauch nicht einzuatmen. Kerzen hat sie nur selten in ihre Wohnung gestellt.

Frau Zimmermann sagt, sie möchte nicht pathetisch klingen. Aber sie seien ja am Aufbau interessiert gewesen. Sie wollten etwas tun, mithelfen, sie mussten einfach, damit es voranging. Und dann ist es halt immer weitergegangen. Blick nach vorne. Zurückgeschaut hat Frau Zimmermann selten in ihrem Leben.

Wie viel in 20 000 Tage passt, hat sie vielleicht erst im vergangenen Dezember gemerkt. Es konnte ja nur ein kleiner Teil mit von allem, was da war, mit in die 33,5 Quadratmeter Zimmer, Bad, Wintergarten in dem Altersheim, das andere würde dann nach und nach verschenkt, abgeholt, weggeworfen.Aber wie räumt man ein Leben auf?

Frau Zimmermann fing an, Buchstaben in der Wohnung zu verteilen. KW, KB, KMW. Kann weg, kann bleiben, kann möglicherweise weg. Die Buchstaben standen auf Zetteln, die bald überall klebten, an Möbeln, auf den ersten Tüten und Kartons. In den Schränken (KW) des Arbeitszimmers, in den Schubladen des Sekretärs (KB) tauchten Hefte, Alben, Fotos (KMW) auf, die sie seit Jahrzehnten nicht gesehen hatte, auf ihnen Menschen, zum Beispiel sie selbst. Mit blonden Korkenzieherlocken, als Kind, als lachende Braut vor der Hochzeitsgesellschaft, mit strengem Ehefrauenblick neben ihrem Mann. Es tauchte ein kleines rotes Buch aus den 20er-Jahren auf, mit schmalen goldenen Buchstaben auf dem Deckel: Unser Kind. Das Kind kam um viertel nach sieben auf die Welt, an einem Montag, 3 Kilo, 55 Zentimeter, ein Jahr später der erste Zahn und der erste Schritt, die Mutter hatte alles notiert. Frau Zimmermann hat es nie gelesen. Wie die Vergangenheit in der Wohnung war, war die Erinnerung in ihrem Kopf, so könnte man es vielleicht sagen: einfach da. Hervorgeholt hat sie sie nur, wenn jemand fragte. Es hat nicht so oft jemand gefragt. Und sie sich selbst schon gar nicht.

Auch deswegen hat Frau Zimmermann nicht sofort eine Antwort darauf, wann das Glück am größten war in ihrem Leben, sie hat nicht darüber nachgedacht. Aber möglicherweise war die schönste Zeit doch die Kindheit. Sie roch nach Garten, nach Freiheit und nach Frau Walter. Frau Walter war die Waschfrau und ordentlich dick, wie oft sie kam, schwer zu sagen, die Kindheit kannte keine Wochentage, sondern nur Jahreszeiten, die die Zeit einteilten. Gespielt hat sie gerne, das hätte sie noch gerne länger getan. Aber das war eben schnell vorbei. Nun ja, sagte Frau Zimmermann, und straffte die Schultern. Das tut sie oft. Haltung, so hatte es ihr der Vater beigebracht, immer Haltung. Er war ja Preuße. Hätte vielleicht lieber einen Sohn gehabt und sie dann eben wie einen erzogen. Geschadet hat es ihr nicht, und später waren die Eltern ja froh, dass sie ein Mädchen war, als der Krieg begann. Ein Mädchen, das eigentlich doch Pläne hatte, und Träume. Biologie hatte sie immer interessiert, Forscherin wollte sie werden, studieren, das hatte sie sich alles schon ausgedacht. Aber dann konnte sie wie alle in ihrer Klasse nur das Notabitur machen, fing die Ausbildung zur Krankenschwester an, Krankenschwestern wurden ja gebraucht, und es wurde eben nicht mehr studiert.

Die meisten Fotos durften am Ende doch mit, möglich, dass Frau Zimmermann nach dem Umzug mal Zeit dafür finden würde. Aber erst mal war genug zu tun, im Januar, kurz vor dem Umzug. Und wenig Zeit. Freunde kamen vorbei, es wurde genau geplant: wo was hinkonnte, im neuen Zimmer. Der Sekretär. Der Vogel Bommel, für den immer das Radio lief. Die Teppiche - aber würden die überhaupt passen? Das Bett sollte nicht mit, sie würde eins vom Altersheim bekommen, Frau Zimmermann sagte sehr oft in diesen Tagen: Das sehe aber absolut nicht aus wie ein Krankenhausbett, obwohl es auch verstellbar sei. Und sie sagte fast genauso oft, dass das Heim nicht Heim, sondern Seniorenhaus heiße, und das ganz gut wäre. In diesem Seniorenhaus wollte sie auch erst mal gar nicht so in Erscheinung treten, erst mal ankommen, und dann war auch noch so viel zu tun wegen der Wohnungsauflösung.

Aber egal, wie voll sie die Tage packte, vor dem Umzug, irgendwie war dann doch schneller als erwartet der letzte der 20 000 Tage da.

Frau Zimmermann hatte am Abend vorher im Fernsehen den Wetterbericht gesehen, für alle Fälle, das Wetter war in Ordnung (kein Regen). Sie hatte den Wecker auf sechs gestellt, und als er klingelte, auf halb sieben, sie war müde an diesem Morgen, Dienstagmorgen, und dann ein bisschen erschreckt. Die halbe Stunde war ja futsch. Und so viel zu tun. Die Liste auf dem Wohnzimmertisch, neben dem Kalender. Die Listen im Bad, auf der Ablage, was mitzunehmen wäre; Seifenhalter (mit Haken?), Glasplatte (klein). Sie hatte Kaffee gekocht, und Tee, und geräumt. Aber dann kamen die Freunde, setzten sie auf einen Stuhl, sagten, dass es jetzt die größte Hilfe wäre, wenn sie mal da sitzen bliebe. Während andere den Sekretär auseinanderschraubten, die Tüten nach draußen trugen, die Lampen, Teppiche, die Kisten mit dem Zettel: "Arche", das Seniorenhaus. Der Tag kannte nur zwei Zustände: Durcheinander. Und Stille, wenn sich das Durcheinander entfernte. Frau Zimmermann sagte an diesem Tag sehr oft: "Ach, nee, Kinder." Und irgendwann im Laufe des Tages wurde sie ein bisschen kleiner, vielleicht weil sie immer auf diesem Stuhl sitzen sollte, weil sie sich selbst zur Seite rücken und kleiner machen wollte, während um sie herum alles in Bewegung war, so lange, bis sie das Aufrichten zu viel Kraft kostete. Das mit der Haltung war schwerer als sonst. Sehr viel schwerer. Weinen, das hatte Frau Zimmermann vorher angekündigt, würde sie nicht. Das hat sie schon lange nicht mehr gekonnt, auch nach dem Tod ihres Mannes nicht. Nur manchmal, nachts, wenn sie alleine ist, wenn es dunkel ist, da geht es. Ihr neues Leben begann.

Einige Wochen später sind die Männer von der Wohnungsbaugesellschaft irgendwann in der Küche oder im Keller, auf jeden Fall sind ihre Stimmen fern, auch die der Freundin, die mit ihnen spricht, und Frau Zimmermann ist für einen Moment so etwas wie allein im Wohnzimmer, in der Wohnung, die sie noch nie so leer gesehen hat. Sie sagt, 57 Jahre, meine Güte, als müsste sie jetzt eben etwas sagen. Frau Zimmermann hat wochenlang Abschied genommen, sie ist aus dem Altersheim immer wieder in die Wohnung gefahren, die nach und nach leerer wurde, wo sollen da noch die Worte herkommen. Es war eben eine lange Zeit, sagt sie, und: "Wir hatten es doch gut."

Frau Zimmermann sagt sehr oft wir, sie meint dann ihren Mann, bis zuletzt stand am Klingelschild vor Zimmermann sein Vorname, nur seiner. Als Frau Zimmermann auszog, hing im Badezimmer neben ihrem Bademantel noch der blaue von Herrn Zimmermann, der sie einst wegen ihrer Augen geheiratet hatte, den sie einst wegen seines Humors geheiratet hatte und seiner Fürsorge, die Freunde müssen ihn irgendwann später eingepackt haben. Im Schlafzimmer stand noch sein Bett, er hat viel in diesem Bett gelegen, in seinem letzten Jahr, das war furchtbar, denn er, der Kriegsversehrte, war trotz allem immer so vital gewesen, so eisern mit sich. Er starb an einem Sonnabend, als Frau Zimmermann vom Einkaufen zurückkam. Als sie wie immer Hallo rief, kam keine Antwort. Das war nicht lange nach ihrem 51. Hochzeitstag.

Es war ein gutes Zusammenleben. Er war natürlich der Boss, das ja, es ging meistens um ihn. Frau Zimmermann sagt, sie habe das nie infrage gestellt. Auch nicht, als es darum ging, ob sie Kinder haben würden oder nicht. Herr Zimmermann wollte keine Kinder, er wollte kein neues Kanonenfutter produzieren, sagte er. Und sie hat das akzeptiert, so wie alle seine Entscheidungen. Vielleicht waren das die Zeiten. Aber es war eben auch bequem, wenn jemand die Entscheidungen, die Verantwortung übernahm. Als Frau Zimmermann, die einst mit ihrer Arbeit sein Studium ermöglicht hatte, die immer da gewesen war, die ihn im Alter monatelang gepflegt und sich um alles gekümmert hatte, kurz vor seinem Tod hörte, wie Herr Zimmermann, um eine Entscheidung gebeten, zu jemandem sagte: "Fragen Sie meine Frau", da war sie so schockiert, dass sie es sich von der Seele schreiben musste, als Tagebucheintrag. Das hatte sie zuletzt als Schwesternschülerin getan. Nun ja: Es fehlte ihr auf jeden Fall auch der Antreiber, seit er nicht mehr ist. Sagt Frau Zimmermann. Auch deshalb sei es ganz gut, dass sie jetzt in dem Heim lebt, wo man sich um alles für sie kümmert.

Das Seniorenhaus ist nicht weit von Frau Zimmermanns alter Wohnung entfernt. Es liegt auch in einer stillen Straße im Süden von Berlin, gegenüber gibt es eine Schule, möglicherweise steckt dahinter eine stadtplanerische Absicht, zumindest kommt das ziemlich oft vor, einen der Umzugshelfer hat es ein bisschen deprimiert, weil es schwer war, nicht nach rechts (Schule) und links (Altersheim) zu schauen und an Anfänge und Enden zu denken. Es ist ein Seniorenhaus, das sich überall Mühe gibt, ein Zuhause zu sein, mit den Strandkörben vor der Tür und der Voliere mit den Kanarienvögeln dahinter, den Sesseln mit Kissen, mit den Bildern an den Wänden der Gänge, mit den Farben Gelb, Rosa, warm. Aber der Linoleumboden quietscht, wenn man darüber geht, in der Luft hängt ein Hauch von Desinfektionsmitteln. Die Schwestern sind freundlich, sie sind munter, das war auch wichtig. Darauf hatte Frau Zimmermanns Freundin schon bei der ersten Besichtigung geachtet, denn wie die miteinander umgingen, das sage ja einiges aus. Als Frau Zimmermann ein paar Tage nach ihrem Umzug in ihrem Zimmer saß, und der Vogel Bommel gerade schwieg, da platzten Satzfetzen in die Stille, aus dem Gang, liebevolle Worte, eigentlich. Worte, die an ein Kind gerichtet sein könnten. Frau Zimmermann hob ein wenig die Schultern, sagte, sehr ruhig, sehr sachlich, ja. Man höre schon an der Art, wie mit den Leuten geredet wird: Das sei eben ein Altersheim.

Vielen Bewohnern auf Frau Zimmermanns Etage, dem Erdgeschoss, geht es sehr viel schlechter als ihr, sie müssen daran erinnert werden, dass jetzt wieder Essenszeit ist, sie müssen zum Essen geschoben werden. Es ist nicht leicht für Frau Zimmermann, die sich gerne unterhält, mit ihnen Unterhaltungen anzufangen. Aber noch weniger möchte sie Menschen vor den Kopf stoßen, und deswegen geht sie nur sehr selten in den vierten Stock, in das Café, wo all diejenigen essen, die noch besser beieinander sind, um es irgendwie zu sagen.

Die meisten älteren Menschen haben etwas gegen Altersheime, das sagen sie zumindest in Umfragen, und es gibt dabei einen Vorwurf, der immer auftaucht: In den Heimen gebe es ja nur alte Menschen. Das sagen auch diejenigen, die sonst gar keine Menschen mehr um sich herum haben. Frau Zimmermann hat nichts gegen ältere Menschen, sieht man mal von der Sache mit dem Humor ab. Der fehlt ihr so ein bisschen im Altersheim, denn sie mag Ironie, und sie mag es, mit Sprache zu spielen. Aber was ist schon ein Witz, wenn man ihn erklären muss, und das passiert hier eben oft, da lässt sie es lieber.

Frau Zimmermann war in ihrem Leben oft unter Menschen, die etwas jünger waren als sie, das hat sich so ergeben, auch weil ihr Mann erst spät studiert hat, und möglicherweise hat sie sich gerade deswegen weniger Gedanken um das Alter gemacht. Sie wurde älter, das ja, aber nicht alt, zumindest fühlte sie sich lange nicht alt, man bleibt ja für sich immer dieselbe, und besonders eitel, das war Frau Zimmermann nie. Aber irgendwann fing das Alter an sich aufzudrängen. Kurz nach dem Tod ihres Mannes wurde die Augen schlechter, es wurde schwierig mit Hell und Dunkel, das hat sie beim Autofahren gemerkt, und dann musste sie es aufgeben. Dann kamen immer mehr Dinge dazu, die nicht mehr gingen, die plötzlich schwerfielen, mühsam wurden. Zu ihrem 80. Geburtstag hatte sie noch eine Kreuzfahrt unternommen, von Bordeaux nach Nizza, jawohl, alleine, aber das war die letzte große Reise. Zwei Jahre später blieb sie zurück bei den Spaziergängen auf Tagesausflügen, sie musste sich oft setzen, dafür nahm sie den Faltstuhl mit. Aber dass die anderen dann auf sie warteten, dass war ja auch kein Zustand. Frau Zimmermann ließ die Ausflüge sein. Diese Einschränkungen, die ärgerten sie sehr, mächtig! Für diese Einschränkungen war sie eigentlich immer noch viel zu ungeduldig, obwohl doch so ein bisschen mehr Gelassenheit gekommen war mit den Jahren. Mit Plänen wurde es natürlich schwieriger, weil immer weniger ging. Ihr letzter großer Plan, das war im Grunde der Umzug.

Im Februar fuhr Frau Zimmermann noch fast jeden Tag in ihre alte Wohnung, im März an fast jedem zweiten. Als die letzten Möbel abgeholt wurden, baten die Freunde Frau Zimmermann um den Schlüssel, aber den gab sie nicht heraus, sie wollte dabei sein, sie würde schon keinen hysterischen Anfall bekommen, also bitte.

Sie hatte sich inzwischen ganz so eingerichtet wie zu Hause, in ihrem Zimmer, also so weit es eben ging. Auf dem Bett, das nicht aussieht wie ein Krankenhausbett, rollte sie morgens das Bettzeug zusammen, sodass es an der Längsseite eine Rolle bildet, darüber kommt eine Decke, es ist dann quasi ein Sofa, das hatte sie sich so überlegt. Die Abiturientin, die immer für sie einkaufte, kam nun kaum mehr vorbei, aber die musste ja jetzt auch Abitur machen. Von der Bekannten, die für sie putzte, die sie ihre Feudelfee nannte, musste sich Frau Zimmermann verabschieden, die Feudelfee hatte noch einmal die Bilder abgestaubt und den Sekretär, aber dann gab es wirklich nichts mehr zu tun, das war nicht einfach, also der Abschied, man verabschiedet sich nicht leicht von Menschen, die einen mögen, sagte Frau Zimmermann. Nun ja. Es gibt jede Menge Programm im Altersheim, aber Frau Zimmermann war noch selten dabei, in ihren ersten Wochen im Seniorenhaus, ein, zwei Mal mochte sie lieber liegen bleiben, und es war ja eben auch noch so viel zu tun, mit der Wohnung. Und sie war auch ganz gerne mal allein. Einsam so gut wie nie. Sie hat ja das Glück all dieser Freunde, und es stimmt: Die Freunde waren da, das Telefon klingelte oft.

Aber es gab auch die Nächte, und die waren jetzt nicht einfach. In den Nächten kamen die Dinge wieder, die sie nicht mitnehmen konnte, die noch in der Wohnung waren und bald noch nicht einmal mehr dort, und die Dinge ließen sie nicht schlafen. Sie lag dann immer wach, und dachte an das, was zurückgeblieben war, was jetzt unwiederbringlich verloren war, aber wenn man sie fragte, dann sagte Frau Zimmermann schnell, bevor eine Pause entstehen konnte: Das sei ja auch ein materieller Verlust. Es wurde eben alles weniger, nicht mehr. Andererseits:"Was passiert mit den Sachen, wenn ich nicht mehr bin?"

Es ist nicht schwer, mit Frau Zimmermann über Dinge zu reden, um die man lieber herumredet, Frau Zimmermann ist gerne direkt und mag es, wenn man direkt zu ihr ist. Da ist die Sache mit dem Tod, sie lässt sich kaum verdrängen, im Altersheim. Sie stand plötzlich im Raum, an einem Tag, der ganz hell war, an dem die Sonne durch die Fenster schien, ein Tag, an dem es die Wohnung noch gab, wenn auch nicht mehr lange. Frau Zimmermann sagte, viele in ihrer Familie seien ja 87 Jahre alt geworden, Vater, Großmutter, alle 87, also drei Jahre älter als sie jetzt. "Drei Jahre hab' ich also noch", sagte Frau Zimmermann, "gut zu wissen." Angst hatte sie ja fast nie gehabt, in ihrem Leben. Schnell solle es gehen, das ja, Sterben mochte man sich nicht lang vorstellen oder leidvoll. Aber der Tod - was sollte man dagegen haben? Einmal, vor Jahren, vor Jahrzehnten, da waren sie tauchen gewesen, auf Korsika. Schnorcheln. Und es war dann doch schlechteres Wetter als gedacht, mehr Wind, Sturm, Wellen. Recht ungemütlich. Und auf einmal war er weg, der Schnorchel, als sie sich gerade bis zu einem Felsvorsprung durch das Wasser vorkämpfen wollte. Einfach weg. Und statt Luft überall Wasser. Aber wissen Sie, sagte Frau Zimmermann, das war auch schön. So eine Ruhe. Frieden. Gleiten durch blaugrünes weiches Wasser. Wenn das der Tod ist, bitte sehr. Dann richtete sie sich kurz auf, im Stuhl, drehte das Gesicht von der Sonne. Der Tod war ja überall, als sie jung war. Der war ja da, als sie aufwuchs. Der gehörte ja zum Leben.

Die ersten 50, 60, 70 Tage ihres neues Lebens hatte Frau Zimmermann ziemlich vollgepackt, anders war sie es ja nicht gewöhnt, und trotzdem gab es einige Momente, in denen sie zum Nachdenken kam, wenn auch nicht immer freiwillig. Wenn man es genau betrachtete, war die Entscheidung umzuziehen wohl die schwerste, die sie je zu treffen hatte. Dabei ist sie doch nie gut im Entscheiden gewesen. Wenn man Frau Zimmermann fragt, was wichtiger geworden ist, mit den Jahren in ihrem Leben, und was unwichtiger, dann sagt sie, wichtig waren immer die Menschen, aber sie sagt auch: "Wissen Sie, das war ja immer mein Problem: dass ich nie so richtig unterscheiden konnte zwischen wichtig und unwichtig. Weil irgendwie immer alles wichtig war." Sie könnte stolz sein auf sich, aber Stolz ist keine Kategorie, in der sie je gedacht hat. Zufrieden vielleicht. Frau Zimmermann war immer eher zurückhaltend, sie stand immer ein wenig hinter ihrem Mann, zumindest aus ihrer Perspektive. Aber sie hat angefangen, darüber nachzudenken, was ihre Freunde ihr nun immer häufiger sagen: dass ihre Perspektive vielleicht falsch gewesen ist. Dass sie eigentlich immer neben ihrem Mann gestanden hat, unübersehbar. Wie auf dem Hochzeitsbild, das ihr beim Umzug in die Hände gefallen war. Und erst neulich ist ihr eingefallen, dass sie ja doch einiges zustande gebracht hat in ihrem Leben, manchmal zumindest. Zum Beispiel damals, als sie in den Westen wollte, oder damals, als sie Krankengymnastin lernte, "da hatte ich ja doch auch eigene Vorstellungen, oder?"

Frau Zimmermann hat nie eine Bilanz gezogen, also eine ihres Lebens, aber eigentlich würde sie das jetzt gerne mal tun. Für sich.

Nach 20 000 Tagen und nach ziemlich vielen Tagen des Übergangs, gibt Frau Zimmermann den Männern von der Wohnungsbaugesellschaft die Hand, sie stehen noch kurz in der Küche, sie sind fertig, eine halbe Stunde haben sie gebraucht, mehr nicht. Links neben der Küchentür war das Schlüsselbrett, Frau Zimmermann will auch an diesem Tag als Letzte aus der Wohnung gehen, abschließen, nur einmal, das hat sie immer so gemacht, war zweimal abgeschlossen, dann wusste sie, es ist jemand da gewesen, die Haushaltshilfe, Freunde. Aber das Schlüsselbrett ist nicht mehr da, die Tür wird einfach zugeschlagen werden, und ohnehin nimmt die Freundin sie jetzt am Arm und zieht sie energisch mit sich, wir gehen jetzt. Frau Zimmermann geht noch einmal munter durch die Wohnung, Zimmer für Zimmer, sie winkt jedem einmal zum Abschied, sie wirkt dabei, als sei sie gleichzeitig die Mutter, die das angeregt hat, und das Kind, das der Anregung folgt, und dann geht sie, es nützt ja nichts. Frau Zimmermann steigt ins Auto, es ist nicht weit bis zum Seniorenhaus, ein paar Straßen, ein paar Ecken. Sie ist den Weg jetzt sehr oft gefahren, und ob das die Sache einfacher gemacht hat, sie fürchtet fast nein.

Von der Tür bis zum Fenster sind es exakt acht Schritte, links die Haken der Garderobe, rechts die angelehnte Badezimmertür, vorne der Wintergarten, so wie in allen Nachbarzimmern auch, der Teppich macht die Schritte stumm, das leise Rumpeln kommt von den Wagen, die draußen über den Flur gefahren werden, die Schwestern klopfen, bevor sie hereinkommen, nur in der Nacht tun sie das nicht.Frau Zimmermann hat einige Leute kennengelernt in den vergangenen Wochen, Montag ist Gedächtnisgruppe, Dienstag Turnen, Freitag Singen, da geht sie jetzt fast immer hin. Der Frühling ist wie erwartet gekommen, sie hat Topfpflanzen in den Wintergarten gestellt, sie hat ein Wochenende bei Freunden im Umland geplant, sie hat Fasching gefeiert mit den anderen Bewohnern und beim Grillfest mitgemacht. Sie hat auch sonst genug zu tun, es gibt immer mal Veranstaltungen, wie neulich das Europaquiz für Senioren, da musste sie sich vorbereiten, da war sie ein bisschen im Stress. Die Hörbücher, die ihr Freunde geschickt haben, die mussten erst mal liegen bleiben, wann soll sie denn dazu bitte auch noch die Zeit haben.Nur Zuhause hat sie ihr neues Zuhause noch kein einziges Mal genannt.