45 Stunden Deutschland

Von Volker ter Haseborg

Wie funktioniert Demokratie? Was steht im Grundgesetz? Wer ist Angela Merkel? Dreieinhalb Wochen lernen 14 muslimische Frauen, was Deutsch-Sein bedeutet. Die Geschichte von Integrationskurs 16 aus Altona

Das Zubehör für die Integration von Kurs 16 liegt in einer großen Pappschachtel und hat 66 Teile. "Wir beginnen mit einem Puzzle", sagt Brigitte Willke. Die Lehrerin öffnet die Schachtel und lässt die Puzzleteile auf den Tisch fallen. "Europa ist das", sagt Willke. Ihre Schülerinnen sollen den Kontinent zusammensetzen. Die Puzzleteile sind groß, auf dem Karton steht, dass das Spiel für Kinder ab sechs Jahren geeignet ist. Wer sich ein wenig mit Erdkunde auskennt, vereinigt Europa schnell. Doch die meisten der 14 Frauen hier im Unterrichtsraum der Türkischen Gemeinde Altona kennen nur ein einziges Land: die Türkei. Also lösen sie die Aufgabe wie Kleinkinder: Sie fahren die Kanten der Puzzleteile mit dem Finger ab, stecken die Teile so lange zusammen, bis sie passen. Nach 20 Minuten ist Europa vereinigt. "Welche Länder kennt ihr?", fragt Willke. Die Frauen nehmen kleine Fähnchen und stellen sie auf die Länder. Die Deutschland-Fahne stellen sie auf Polen, die Österreich-Fahne auf Frankreich.Es ist die Stunde eins im Orientierungskurs 16, Trägernummer 74790-HH. Seit zwei Jahren lernen die Migrantinnen hier Deutsch. Jetzt sollen sie das Land, in dem sie seit Jahren schon leben, kennenlernen. 45 Stunden umfasst der Orientierungskurs, er dauert dreieinhalb Wochen und wird mit einer Prüfung abgeschlossen. Die Themenblöcke heißen "Politik in der Demokratie", "Geschichte und Verantwortung", "Mensch und Gesellschaft".Sprachkurs und Orientierungskurs zusammen ergeben den Integrationskurs, den Einwanderer in Deutschland absolvieren, um weiterhin Sozialleistungen zu erhalten oder einen deutschen Pass zu beantragen.Kurs 16 besteht nur aus Frauen. "Projekt Regenbogen", nennt die Türkische Gemeinde Hamburg das Programm. Die Teilnehmerinnen wurden in Moscheen und Schulen angesprochen. Die Türkische Gemeinde verdient Geld mit den Kursen, die das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an private und öffentliche Träger ausschreibt. Die Frauen aus Kurs 16 haben zunächst Lesen und Schreiben in ihrer Muttersprache gelernt, so gut das eben geht. Erst danach war Deutsch dran. Ihr Ziel ist der B1-Status. Damit können sie den Einbürgerungstest machen und leichter eine Arbeit finden.Wenn die Frauen den Kurs nicht absolvieren, wird ihnen das Hartz-IV-Geld gekürzt, drohen die Behörden.Sie sind also hier, weil sie müssen. Das ist ihre Chance."Ich heiße Yasemin, ich bin 26 Jahre alt, ich bin seit 2002 in Deutschland", sagt Yasemin in der Vorstellungsrunde. Sie hat zwei Kinder - einen siebenjährigen Sohn, eine vierjährige Tochter. Ihr Haar verbirgt sie unter einem Kopftuch. Ihr hübsches Gesicht versteckt sie nicht. Sie schminkt ihre Lippen und zupft ihre Augenbrauen. Sie sagt, sie liebt "Klamotten" - soweit es ihre Kleidungstradition erlaubt. Ihr Kopftuch hat an jedem Unterrichtstag eine andere Farbe. Ihre Hosen sind figurbetont. Sie kichert häufig. Ihre Hobbys sind Spazierengehen und Putzen, sagt sie. Sie ist ihrem Mann damals nach Hamburg nachgezogen.Zülfiye ist 39, hat drei Söhne im Alter von zwölf, elf und sieben Jahren. Sie ist eine kräftige Frau, meistens in Schwarz gekleidet. Zülfiye hat keinen Beruf und lebt seit 13 Jahren in Deutschland, weil ihr Mann hierher gezogen ist.Yasemin und Zülfiye sind streng religiös, schicken ihre Kinder in die Koranschule. Sie sind die Wortführerinnen im Kurs. Die Älteren schweigen meistens: die 50-jährige Hafiza zum Beispiel, die seit Jahrzehnten in Deutschland lebt und kaum Deutsch spricht. Sie gehört zu einer verlorenen Generation, was die Integration angeht.Rindi, 39, passt weder zu den Jungen noch zu den Alten. Sie lebt getrennt von ihrem Mann, das isoliert sie von den anderen. Rindi hat drei Söhne und ist seit 14 Jahren hier.Die Iranerin Nadjmeh, 39, lebt seit 15 Jahren hier und ist alleinerziehende Mutter eines Sohnes und einer Tochter. Nafiye, 40, kommt aus Mazedonien, sie hat zwei Söhne und eine Tochter und lebt seit 18 Jahren hier. Nadjmeh und Nafiye sprechen gut Deutsch.Die Frauen aus Kurs 16 könnten Protagonisten in Thilo Sarrazins Buch "Deutschland schafft sich ab" sein: Keine der Frauen ist berufstätig, alle sind abhängig von Hartz IV, alle sind nur wenige Jahre zur Schule gegangen - wenn überhaupt. Sie sind überdurchschnittlich religiös und leben weitgehend unter sich, in Parallelgesellschaften, die sie jetzt für den Integrationskurs verlassen müssen. Thilo Sarrazin kennen die Frauen aus Kurs 16 nicht.45 Stunden lang sollen sie lernen, was Deutschland ist und was Deutsch-Sein bedeutet. Am Ende sollen sie 250 Fragen und Antworten beherrschen, von denen 25 zufällig ausgewählte im Test drankommen. Der Test macht keinen Unterschied, ob die Prüflinge ein Studium oder gar keinen Schulabschluss haben - ob sie schnell lernen oder sehr langsam. Das macht den Unterricht für die Integrationslehrerin Brigitte Willke so schwer.Als Kulisse dient ein 30 Quadratmeter großer Raum im Erdgeschoss der Türkischen Gemeinde. Vorne steht eine Tafel, hinten hängt eine Deutschland-Karte, Bilder von Rügen, der Elbe und von Schloss Sanssouci sind darauf.Manche der Frauen werden in den kommenden Tagen Deutschland verstehen lernen, andere nicht. Bis zum Test sind es noch dreieinhalb Wochen.

Bundesadler

Am Tag nach dem Puzzle sind fünf Frauen da, die Teilnehmerzahl wird auch an den kommenden Unterrichtstagen schwanken. Die Frauen lesen in der vierten Stunde ihres Deutschland-Kurses einen Text über die Kommunalverwaltung. "Burgermauster", liest Rindi stockend. "Bürgermeister", korrigiert Willke. "Wie heißt der Bürgermeister von Hamburg?" Niemand weiß es. "Christoph Ahlhaus", sagt Willke. "Früher war es Ole von Beust. Der ist aber jetzt kaputt. Raus." Das Wort Rücktritt ist zu schwer für die Migrantinnen. Willke spricht laut, betont alle Silben. Bür-ger-mei-ster, sagt sie.Yasemin fährt mit dem Finger über den Text, bleibt bei einem Wort stehen. "Was ist das: Bundesrepublik?", fragt sie. "Das Wort ,Bund' kennt ihr", sagt Willke - "ein Bund Karotten zum Beispiel. Die Bundesländer sind die Karotten, gemeinsam ergeben sie die Bundesrepublik Deutschland." Die Migrantinnen schauen sich verwirrt an.Willke verteilt kleine Zettel, auf einigen steht eine Frage, auf anderen eine Antwort. Die Frauen sollen durch den Raum gehen und die passenden Fragen zu den Antworten suchen. "Was ist Bundeskanzlerin?", fragt Yasemin. Neben ihr sitzt Zülfiye und hat einen Zettel mit der Aufschrift "Angela Merkel". Doch die Worte sagen ihnen nichts.Welche Nachbarländer hat Deutschland? Wie viele Mitgliedstaaten hat die EU? Es sind schon die Testfragen, die die Frauen hier vor sich haben. Sie müssen wissen, wo das Europäische Parlament arbeitet, seit wann es den Euro gibt und was die Römischen Verträge sind. Frustriert bleiben die Frauen auf ihren Plätzen sitzen.Willke fragt Yasemin, in welchem Land Brüssel liegt. "Berlin", sagt Yasemin. Willke schüttelt traurig den Kopf. "Heute mein Kopf nicht funktioniert", sagt Yasemin entschuldigend.Am Ende der Stunde stellt Willke den Bundesadler vor. Und lernt von Zülfiye, dass der Adler in der Türkei eine andere Bedeutung hat. "Bringt Unglück", belehrt Zülfiye die Deutsche. "Wenn Adler kommt, dann Erdbeben."Willke beendet die Integrationsstunde. Schnell leert sich der Raum. Die Frauen werden gebraucht. Kochen, den Mann bewirten, putzen, die Kinder versorgen. "Die Situation dieser Frauen ist wie Einzelhaft", sagt Brigitte Willke. Die 49-Jährige sieht müde aus - ihr Gesicht ist blass, ihre Augenringe sind dunkel, das blonde Haar ist stumpf. "Ich will in einer Gesellschaft leben, in der alle Räume bewohnt werden und alle teilhaben können", sagt sie. Es geht ihr um die Menschen am Rand der Gesellschaft. Mittlerweile steht sie selbst dort. Für 45 Minuten Unterricht bekommt sie 22 Euro - ein Integrationskurs bei der Türkischen Gemeinde bringt ihr 700 Euro im Monat, sie arbeitet auch noch für andere Träger. Willke hat alleine zwei Söhne großgezogen. Die Familie musste ihre alte Wohnung verlassen, weil Willke sie nicht bezahlen konnte.Sie könnte verwöhnten Reichen-Kindern Nachhilfe-Stunden geben, schließlich hat sie Politik und Wirtschaft auf Lehramt studiert. "Die bezahlte Gouvernante", sagt Willke verächtlich. Aber das will sie nicht sein. Stattdessen muss sie hinnehmen, dass die Frauen zu spät zum Unterricht kommen, die Hausaufgaben und den Unterrichtsstoff vergessen. "Ich nehme das nicht persönlich", behauptet sie. Sie will, dass auch diese Frauen zu Deutschland gehören. Wollen die Frauen das überhaupt? Willke denkt nach und sagt dann, als ob sie sich selbst davon überzeugen muss: "Ich glaube schon."

Menschenwürde

In der siebten Stunde des Orientierungskurses geht es ums Grundgesetz. "Mei-nungs-frei-heit", skandiert Brigitte Willke. Was ist das? In Deutschland dürfen die Menschen offen etwas gegen die Regierung sagen. "Man kann auch sagen, Angela Merkel ist doof. Man kommt deshalb nicht ins Gefängnis."Rindi soll den Artikel 1 des Grundgesetzes vorlesen. "Die Würde des Menschen ist unter..." - "Un-an-tast-bar", hilft Willke. Was ist Würde? "Wenn ich nicht verstehen Deutsch und alle lachen, dann ich traurig", sagt Zülfiye. Und: "Arbeitslos zu sein ist Problem mit Würde." Willke pflichtet ihr bei. "Jeder Mensch ist, wie er ist. Er ist schön. Ich habe Fehler, aber das ist egal. Ich habe meine Würde." Zülfiye bemerkt, dass ihre Kinder ihre Würde seien."Der Mann darf die Frau nicht schlagen", fährt Willke fort. "Aber alle Männer schlagen ihre Frauen", sagt Zülfiye empört. Sie erzählt von ihrem deutschen Nachbarn, der seine Freundin schlägt. Das kann sie durch die Wände hören. "Sie hat Auge blau", sagt sie. Nadjmeh, die Iranerin, sagt: "Sie kann Frauenhaus gehen." So wie sie selbst.Nadjmeh war 14, als sie ihren Mann heiratete. Ihre Eltern hatten über die Hochzeit befunden. Mit 16 bekam sie das erste Kind, zwei weitere folgten. Die Familie kam nach Deutschland, um hier Arbeit und Glück zu suchen. Doch sie fanden keine Arbeit, und Glück hatte Nadjmeh noch nie. Ihr Mann schlug sie. Sie nahm es hin, jahrelang. Bis sie eines Tages mit ihren Kindern zu ihrer Schwester floh. Erst wohnte sie in einem Hamburger Frauenhaus.Jetzt lebt sie mit ihren jüngeren beiden Kindern in einer Sozialwohnung. Ihr Mann sucht sie, er ist mittlerweile wieder in den Iran zurückgekehrt, zusammen mit dem ältesten Sohn. Aber er will die beiden anderen Kinder. "Ich habe Angst", sagt Nadjmeh, "wenn mein Mann herausfindet, wo ich wohne, kann er alles mit mir machen."Es ist sehr still im Klassenraum geworden. Viele der Frauen kennen Gewalt. Auch Zülfiye, die vorhin von ihrem schlagenden deutschen Nachbarn erzählt hat. Vor ein paar Wochen hat sie sich gegenüber ihren Klassenkameradinnen offenbart. Sie erzählte von ihrem Mann, von seinem Zorn, seiner Unzufriedenheit, weil er keine Arbeit hat. Dass er frustriert vor dem Fernseher sitzt und türkische Programme anschaut - so laut, dass ihre Kinder nicht ihre Hausaufgaben machen können. Am liebsten würde sie ihn verlassen, hat sie damals gesagt. Aber ihre Erziehung verbietet es. Deshalb bleibt sie bei ihm. Wegen der Kinder. Als Zülfiye sich den Frauen öffnete, erlitt sie einen Zusammenbruch. Ein Krankenwagen musste sie in die Klinik bringen.

Republik

In Stunde 16, nach fünf Unterrichtstagen, beschließt Brigitte Willke, mehr mit Arbeitsblättern zu arbeiten und weniger Stoff an der Tafel zu erklären. "Sonst bin ich bald durch", sagt sie. Heute sind sechs Frauen da. Die Stimmung ist schlecht. Willke fordert die Frauen auf, ihre schweren, dunklen, langen Mäntel während des Unterrichts auszuziehen. Das ist Willkes Rebellion gegen die strenge islamische Kleiderordnung für Frauen."Yasemin, was ist ein Bundesland?", fragt Willke. "Vergessen", sagt Yasemin und senkt den Kopf. "Ist Karstadt ein Bundesland? Oder Aldi?" - "Nein." Auch was eine Bundeskanzlerin ist, hat Yasemin vergessen. Das Wort Republik ist ihr immer noch fremd. Sie schlägt es in ihrem türkisch-deutschen Taschenwörterbuch nach.Auf Willkes Zettel steht die Überschrift "Strukturprinzipien des deutschen Staates". Die Frauen müssen wissen, was Kommunen sind. "Wo arbeitet die Regierung von Hamburg, Rindi?" - "Weißes Haus." - "Wie heißt der Chef von Hamburg?" Schweigen. Willke hilft: "Klempnermeister? Bäckermeister?" - "Bürgermeister", ruft Yasemin.Hafiza schüttelt den Kopf. Sie versteht gar nichts. Sie weiß nicht, was ein Bürgermeister ist. Sie jammert auf Türkisch vor sich hin. In der vergangenen Woche hat Willke ihr gesagt, dass sie doch mit ihren Söhnen lernen soll, die fließend Deutsch sprechen. Hafiza hat ihr gesagt, dass ihre Söhne nicht mit ihr reden. Sie muss ihnen Essen kochen, danach wollen die Männer ihre Ruhe.

Glaubensfreiheit

In Stunde 19 erklärt Brigitte Willke, was Religionsvielfalt ist. Sie zeigt auf ihren Faltenrock. "Vielfalt. Viele Falten", sagt sie. "Alles ist erlaubt in einer Stadt: Moschee, Kirche, Synagoge. Die Polizei kommt nicht zum Kontrollieren."Erste Fortschritte sind erkennbar. Zülfiye erklärt, dass Schulpolitik Sache der Länder ist. Yasemin kennt alle deutschen Stadtstaaten. "Super! Wow!", ruft Willke begeistert. Zülfiye möchte wissen, ob auch der Anspruch auf Geld im Grundgesetz steht. Nein, sagt Willke. "Wer viel arbeitet, hat viel Geld. Wer wenig arbeitet, hat wenig Geld. Kapitalismus heißt das."In einer Pause verteilt Brigitte Willke Baumkuchen. "Alkohol drin?", fragt Rindi. Erst als Willke ihr alle Inhaltsstoffe vorgelesen hat, greift sie zu.Willke könnte weitermachen mit den Fragebogen. Aber sie möchte, dass die Frauen etwas mitnehmen von dem, was sie hier erzählt. Sie hält eine Zeichnung hoch. Eine Königskrone ist zu sehen. Sie ist durchgestrichen. Ebenfalls durchgestrichen ist eine Oligarchen-Schar. Das Idealbild zeigt viele kleine Männchen, sie alle befinden sich in einem Kreis mit einer Krone darüber. "Das ist Demokratie", sagt Willke. "Alle sind König."Sie möchte, dass die Frauen einen Klassenausflug organisieren. "Jeder muss was sagen. Das ist Demokratie. Alle sind König", sagt sie und geht an die Tafel. Die Frauen sollen Vorschläge machen. Doch nichts kommt. Willke schreibt drauflos: Kino, Planetarium, Hagenbeck. Keine Regung. Sie möchte rausgehen mit den Frauen, etwas sehen, erleben. Doch das Einzige, was die Frauen möchten, ist ein gemeinsames Frühstück in einem sunnitischen Café. Willke möchte dort nicht hin. Für Frauen gebe es dort einen abgetrennten Bereich, neben dem Eingang zu den Toiletten, sagt sie. Frauen werden dort nicht am Platz bedient.

Demokratie

In Stunde 28 verteilt Brigitte Willke Informationsbroschüren. Eine Weiterbildung zur "Serviceassistentin im Gesundheitswesen" inklusive Sprachkurs und Praktikum. Eigentlich perfekt für Yasemin. Doch diese steckt die Broschüre schnell in ihre lila Lederhandtasche. "Ich meine Mann fragen", sagt sie.Als Yasemin ihren Mann geheiratet hat, war sie 16. Er ist in Deutschland aufgewachsen, sie in der Zentraltürkei. Ihr Mann hat einen Job bei der Post. Yasemins Job sind die beiden Kinder. Einmal, auf einer islamischen Hochzeit, hat er ihr erlaubt, das Kopftuch abzunehmen. Sie fand diesen Tag so schön, dass sie ein Foto von damals im Portemonnaie hat. Willke hat das Foto gesehen, sie sagt, dass Yasemin wunderschöne lange Haare hat. Nach dem Fest hat Yasemins Mann ihr verboten, das Kopftuch in der Öffentlichkeit abzunehmen.Willke hält ein Bild hoch. Ein Mann ist zu sehen, er hält ein Transparent hoch. "Was ist das, Rindi?" - "Weiß nicht, vergessen." - "Das ist ein Demonstrant." Die Worte Demokratie und Demonstration sind für die Frauen besonders schwer auseinanderzuhalten. Leider weiß Rindi auch nicht, was Demokratie ist. Herrschaft des Volkes. Willke versucht ihr zu erklären, was Herrschaft bedeutet. "Du hast viele Hühner und einen Hahn. Verstehst du? Gokgokgok! Der Hahn ist der Chef. Er ist der Herrscher. Demokratie ist, wenn alle Leute bestimmen. Alle sind Hähne. De-mo-kra-tie." - "Härrscha", sagt Rindi und guckt ungläubig. Der Unterricht geht weiter: Währungsreform, Arbeiteraufstand vom 17. Juni, Marshallplan, Wirtschaftswunder, RAF, Mauerbau, Mauerfall. In Stunde 30 des Kurses zieht die gesamte deutsche Nachkriegsgeschichte an den Migrantinnen vorbei.Zum Schluss der Stunde unternimmt Willke noch einen Versuch wegen des Klassenausflugs. Sie hat immerhin Nadjmeh auf ihrer Seite. "Ich möchte meinen Kindern etwas bieten. Theater oder so. Wollen wir das am Wochenende zusammen machen?", fragt die Iranerin ihre Mitschülerinnen. Keine antwortet. "Okay, dann eben nicht", sagt Willke. Es sind Tage wie diese, an denen sie nicht mehr kann.

Prüfung

Es ist Montag, und die letzten drei Stunden Deutschland stehen auf dem Stundenplan. Heute Mittag findet die Prüfung statt. Am Wochenende haben die Frauen ihren Sprachtest gemacht. Vier Frauen haben den B1-Status erreicht: die Türkinnen Yasemin und Zülfiye, die Iranerin Nadjmeh und die Mazedonierin Nafiye.Doch heute geht es um Deutschland. Zehn Frauen werden zur Prüfung antreten. Zehn von 14, die anderen vier sind irgendwann nicht mehr gekommen - weil sie krank wurden oder weil sie vor dem Stoff kapituliert haben. Die Kandidatinnen blättern konzentriert durch ihre Bogen. Sie sind erleichtert, als Willke in den Klassenraum kommt. "Ganz ruhig. Nicht nervös sein. Alles wird gut", sagt die Lehrerin. Dabei ist sie selbst die Aufgeregteste.Willke wiederholt ihren Stoff. Sie redet von blonden und schwarzen Haaren und von Pferden und Hunden, um das Wort "Rasse" zu erklären, aus dem sich "Rassismus" ableitet. Sie spricht von der "Weißen Rose", der Pressefreiheit, dem Brief- und Fernmeldegeheimnis. Und sie malt an die Tafel: Mauersteine für den Mauerbau, Jahreszahlen wie 1933, 1945, 1990. Sie kritzelt, sie malt, am Ende ist die Kreide fast aufgebraucht, sie schreibt mit dem Stummel weiter, ihr Fingernagel schrammt über die Tafel. Vielleicht lässt die Prüferin ihre Krakeleien an der Tafel stehen.Um 12.30 Uhr sind 45 Stunden Deutschland zu Ende. Die Prüfung mit der Nummer 22403 beginnt, die Prüferin teilt Bogen mit einem aufgedruckten Bundesadler aus. Vorher hat sie die Tafel gewischt.Leise lesen die Frauen die Prüfungsaufgaben. Man hört nur das Wispern ihrer Stimmen beim Lesen und das Rascheln ihrer Bogen. Sie müssen ankreuzen, es gibt meistens vier Möglichkeiten. Jede Frau hat einen anderen Test. Nadjmeh soll wissen, welcher Gedenktag am 27. Januar in Deutschland begangen wird. Brigitte Willke empört sich über die Frage, sie weiß die Antwort selbst nicht. Es ist der Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus. "Pssst!", sagt die Prüferin. Nach 45 Minuten sagt sie: "So, die Prüfung ist beendet." Von 25 Fragen müssen die Frauen 16 richtig haben.

Abschied

Der Integrationskurs ist zu Ende. 900 Stunden Sprachkurs und 45 Stunden Deutschland. Einige Tage später wird herauskommen, dass alle bis auf zwei Frauen den Deutschland-Test bestanden haben. Nicht geschafft haben es Ayse, 59, und Fatili, 53, beide können kaum lesen und schreiben.Wer den Integrationskurs besteht, kann bei der Volkshochschule den Einbürgerungstest machen, der noch um ein paar Hamburg-Fragen erweitert ist. Es gibt auch Tests, die zum Studium an einer deutschen Uni zulassen.Die Frauen wollen heute noch nicht gehen. In den vergangenen Wochen war der Kurs eine andere Welt, sie haben sich an diese Welt gewöhnt. Sie konnten ihre Männer, ihre Kinder, ihre Aufgaben verlassen und sich um sich selbst kümmern. Jetzt scheint es so, als ob jede von ihnen das genossen hat. Sie haben Brigitte Willke Geschenke mitgebracht. Zülfiye überreicht Willke eine Tüte: ein süßes Parfüm ist darin, Deo, Shampoo und ein Waschlappen, den Zülfiyes Mutter gestrickt hat. "Du bist sehr nett. Danke für deine Hilfe", sagt sie. Rindis Geschenk sind Socken, die ihre Mutter gestrickt hat, vielleicht waren sie für eines von Rindis Kindern gedacht, sie sind viel zu klein für Willke. Und ein brauner Schal, weil Willke so gerne Braun trägt. Nafiye, die Mazedonierin, überreicht ihr eine H&M-Tüte. Ihr Geschenkpapier hat nicht ganz ausgereicht für den Karton darin. Aber sie hat gehört, dass man in Deutschland Geschenkpapier benutzt. In dem Karton sind mehrere Gläser, in die man Kerzen stellen kann.Yasemin will in Deutschland bleiben. Sie würde gerne in einem Kindergarten arbeiten oder einer Klinik. Wenn ihr Mann sie lässt.Zülfiye würde am liebsten zurück in die Türkei. Oft fragt sie sich, warum sie hier ist. Aber dann wird ihr Mann böse. Sie kann sich vorstellen, eine Ausbildung zur Köchin zu machen. Ayse und Fatili, die beiden Älteren, werden hier bleiben und weiter in ihrer Welt leben. Ebenso wie Hafiza und Rindi.Nadjmeh muss hier bleiben. Im Iran wäre sie vor ihrem Mann erst recht nicht sicher. Ihr Traum ist ein Urlaub mit ihren Kindern auf den Kanaren.Nafiye will hier bleiben. Sie will einen Beruf lernen und arbeiten gehen.Brigitte Willke, die Lehrerin, würde gerne in den Schuldienst wechseln. Weil sie keine Kraft mehr hat. Und kein Geld. Willke hofft, dass sie 2011 ein Referendariat machen kann, auch wenn es mit dann 50 Jahren schwer für sie wird.Die Frauen haben nun doch noch eine Lösung für ihren Klassenausflug gefunden, obwohl sie gar keine Klasse mehr sind. Sie wollen gemeinsam ins Kino. Vor dem Gebäude der Türkischen Gemeinde versammeln sie sich noch einmal für ein Abschiedsfoto. Dicke Schneeflocken fallen vom Himmel. Die Frauen lächeln. Dann gehen sie in alle Richtungen weg. Brigitte Willke schaut ihnen nach, bevor sie die Geschenke in ihr Auto lädt. Im Schnee sieht man noch die Spuren der Frauen.

Infokasten:

Ein Integrationskurs kostet 2341,40 EuroDer Integrationskurs besteht aus dem Sprachkurs und dem Orientierungskurs. Der Sprachkurs umfasst 600 Stunden, für Analphabeten sind es 900 Stunden. Der Orientierungskurs, in dem Politik gelehrt wird, umfasst 45 Stunden.Die Kosten trägt bei Hartz-IV-Empfängern der Staat: Für jede Frau aus dem Altonaer Integrationskurs sind es 2341,40 Euro. Wer bei den Prüfungen durchfällt, bekommt zusätzlich 300 Stunden Sprachkurs. Wer es dann nicht schafft, muss weitere Kursstunden und Prüfungen selbst zahlen.Durchfallern könnten die Behörden das Hartz-IV-Geld kürzen. In der Praxis machen sie davon noch keinen Gebrauch. Sanktionen gibt es nur für diejenigen, die den Kurs dauerhaft schwänzen.Seit 2005 bis Ende des ersten Halbjahres 2010 haben rund 650 000 Menschen in Deutschland einen Integrationskurs begonnen. 370 000 haben den Kurs absolviert, 354 000 von ihnen machten die Prüfung. Gut die Hälfte der Prüflinge konnte das Sprachniveau B1 nachweisen - sie können das Wichtigste verstehen und zusammenhängend über vertraute Themen sprechen. 37 Prozent der Prüflinge können das Sprachniveau A2 nachweisen - sie können einfache Dinge verstehen und sich rudimentär ausdrücken. Die übrigen neun Prozent verfügen über nicht ausreichende Sprachkenntnisse.In Hamburg haben im ersten Halbjahr 2010 rund 2600 Menschen einen Integrationskurs begonnen. (vh)

Hamburger Abendblatt Nr. 305 vom 30. Dezember 2010