Der rollende Schiedsrichter

Von Michael Brehme

 

 

Der Regensburger Frank Reinel ist der einzige deutsche Unparteiische, der aus dem Rollstuhl heraus offizielle Fußballspiele pfeift

Das Wetter hat es gut gemeint mit Frank Reinel an diesem wechselhaften Abend, und der rollende Fußball-Schiedsrichter scheint sich mit einem pünktlichen Abpfiff bedanken zu wollen. Es ist der Moment, in dem Frank Reinel ein letztes Mal Größe zeigt in seinem Rollstuhl, sich aufbäumt und dreimal kräftig in seine Pfeife pustet. Sekunden später prasseln die ersten Regentropfen auf den idyllischen Regensburger Fußballplatz inmitten von Gewächshäusern und naturbelassenen Landstreifen.

Spieler laufen in die Umkleidekabinen, Trainer jubeln oder schimpfen, Eltern blicken ihren Jungs kopfschüttelnd hinterher. Die Tropfen tauchen langsam in den Regen ein, jenen Fluss, der am Rasenplatz des Sportvereins Sallern entlangfließt und irgendwann in die Donau mündet. Frank Reinel fährt in neongelbem Trikot und seinem Elektro-Rollstuhl zum Mittelkreis, den Ball hält er fest in beiden Händen. Er hat einen Elfmeter gegeben und vier Gelbe Karten, das A-Junioren-Spiel auf dem Platz des SV Sallern endet 6:3 für die Gästemannschaft der DJK Regensburg. Es hat Diskussionen über seine Entscheidungen gegeben, aber keinen Regen. Das war das Wichtigste.

Auf trockenes Wetter ist Reinel angewiesen, wenn er 90 Minuten lang in seinem Rollstuhl den Rasen umpflügt. Regnet es zu stark, wird es schwierig für ihn. Frank Reinel ist der einzige Schiedsrichter in Deutschland, der aus dem Rollstuhl heraus Meisterschaftsspiele auf dem Großfeld leiten darf. „Ich kann ein Spiel lesen und die Laufwege der Spieler erahnen“, sagt er. Auf dem Platz bewegt sich der 28-Jährige so gleichmäßig wie jemand auf einem jener Rasenmäher, die man aus Filmen über amerikanische Mustervorstädte kennt, wo die Rasenkanten im Vorgarten millimetergenau getrimmt sind. Das Spielfeld des Sportvereins Sallern aber ist übersät mit diversen Unebenheiten, die sich dem Rollstuhlfahrer in den Weg stellen.

Manchmal kommt er dem Spielgeschehen gefährlich nahe, duckt sich weg vor dem Ball und den Zweikämpfen, in den meisten Fällen aber ist er auf seine guten Augen angewiesen. Er hat Übersicht und sieht ein kurzes Trikotzupfen aus 40 Metern Entfernung. „Die Arme weglassen“, ruft er. Er gibt Freistoß, später dann für ein Foul Elfmeter. „Das war doch nur der Ball“, ruft einer. Reinel schüttelt den Kopf. „Mit gestrecktem Bein so reinzugehen, das geht gar nicht.“

Frank Reinel hat sich früh angekündigt beim Gastgeber. In der Vorwoche schrieb er dem Sportverein Sallern eine E-Mail („Hallo, ich bin der berühmte Schiri im Rollstuhl“) und er hat um Strom gebeten, damit er den Akku seines Untersatzes in der Halbzeitpause aufladen kann. Aus einem gekippten Fenster des Vereinsheims hängt nun eine orangefarbene Verlängerungsschnur heraus, sie verläuft quer über den Gehweg bis zur Einzäunung am Spielfeldrand, wo Frank Reinel nun sitzt und wartet.

Die Spieler marschieren aus der Kabine an ihm vorbei, sie nehmen den Schiedsrichter offenkundig wahr und blenden ihn doch aus ihrer Wahrnehmung aus. „Anfangs sagen die meisten gar nichts. Nach dem Spiel kommen dann oft nette Unterhaltungen zustande“, sagt er. Die Spieler befragen ihn dann zum Beispiel über Akzeptanzprobleme, die es ja geben müsse. Und darüber, wie man das überhaupt mache, so als Schiedsrichter im Rollstuhl. „Für einige ist das schwer vorstellbar. Dabei ist es ganz einfach: Ich pflüge mit dem Rolli schlichtweg den Acker um. Und auf dem Platz hat der mit der Pfeife sowieso immer die Autorität, ganz egal wer es ist.“

Frank Reinel hat Jura studiert, er betreibt zu Hause eine Anwaltskanzlei und hat eine Internetseite, auf der schlaue Sätze stehen. „Wir sind an das Gesetz gefesselt, um frei zu sein“, heißt es da. Reinel leidet seit seiner Geburt an einer Gelenkversteifung in mittlerer Ausprägung. Die Behinderung macht ihm das Gehen unmöglich. Sie hat ihn aber nicht davon abgehalten, Schiedsrichter zu werden. Er ist ein Idealist mit Handicap, wobei sein Handicap dem Ideal immer im Weg stehen wird. Er kann nicht laufen, sondern muss sitzen; kann nicht sprinten, bewegt sich beständig langsam. Sechs Stundenkilometer fährt sein Rollstuhl, mit dem er die bis zu 7000 Quadratmeter großen Plätze abfahren muss. Es ist eine Erfahrungssache, sagt er. Frank Reinel hat rasch gelernt, schnelle Kurven zu nehmen und vorausschauend zu fahren. Es gäbe schnellere Rollstuhl-Modelle, aber dafür fehlt ihm das Geld. Reinel kommt aus mit dem, was er hat, um das zu tun, was er liebt. Fußballbegeistert war er schon immer, aber anstatt als Kind die Namen der Spieler auswendig zu lernen, konzentrierte er sich auf die Schiedsrichter. „Die haben mich schon immer fasziniert.“