Wir und die Kinder

Von Jan Grossarth

 

 

Wieder ist die Geburtenzahl gesunken. Trotz des Elterngelds. Trotz 155 weiterer familienpolitischer Leistungen. Vielleicht mangelt es nicht an Anreizen, sondern an Mut.

Und wieder sind weniger Babys auf die Welt gekommen. Im Jahr 2009 wurden in Deutschland noch 665 112 Kinder geboren, so wenige wie noch nie, seit Statistiker Geburten zählen, 17 402 weniger noch als im Vorjahr. Doch die Familienpolitiker lassen sich ihre Gestaltungsfreude nicht trüben. Man sei auf dem richtigen Weg, sagen sie. Und dass trotz der Wirtschaftskrise die Geburtenrate "nicht drastisch abgesackt" sei, stellte Familienministerin Kristina Schröder als Erfolg dar.

    Wäre es nicht auch denkbar, dass die Geburtenrate drastisch hätte steigen müssen in dem Jahr nach Beginn der Wirtschaftskrise, die zwar den Wohlstand der meisten Menschen wenig berührt hat, in der aber jedem hätte bewusst werden müssen, dass Bankguthaben und Versicherungen virtuelle Werte sind? Kristina Schröders Annahme, die Deutschen richteten ihre Entscheidung für eine Familiengründung nach der Konjunkturlage aus, ist interessant und fragwürdig. Langfristig ist die Fertilitätsrate mit steigendem Wohlstand gesunken, seit den frühen Siebzigerjahren ist sie kaum von Konjunkturschwankungen berührt konstant niedrig. Der Demographieforscher Herwig Birg spricht vom "demographisch-ökonomischen Paradoxon": Die Geburtenrate sinkt, je mehr Kinder sich eine Familie leisten könnte (nur Familien mit einem sehr hohen Einkommensniveau bekommen im Mittel wieder geringfügig mehr Kinder). Trotzdem gründet die Politik ihre Maßnahmen auf dem Gedanken, dass materielle Sicherheit eine Grundbedingung für die Familiengründung ist.

    Neulich sagten wir: Schade, dass unser Mädchen schon jetzt gekommen ist. Fünf Monate später, und wir hätten Anspruch auf 400 Euro mehr Elterngeld gehabt. Das Elterngeld ist noch eine Größe mehr, mit der sich der ideale Zeitpunkt errechnen lässt. Ist es aber nicht eigentlich anmaßend, Leben nach denselben Kriterien zu planen wie den Kauf eines Reihenhauses?

    Kinder sind wichtig für den Staat und für die Wirtschaft, nur sie werden in Zukunft demokratische Parteien wählen, Autos kaufen und den Rentnern ein warmes Erbsensüppchen kochen. Weil es ohne Kinder künftig keinen Staat mehr gäbe, ist dem Staat viel daran gelegen, das Kinderkriegen zu fördern. Wieso gibt es trotzdem so wenige? Weil es zu wenig Betreuungsangebote gibt und zu viele Fernbeziehungen. Wegen der notwendigen Emanzipation, der Entkopplung von Sex und Empfängnis. Aber nichts davon müsste die Gesellschaft vergreisen lassen, wenn Kinder Priorität hätten.

    Neulich sagte eine Freundin, Kinder seien für sie noch kein Thema, da sie noch ein paar Jahre ihre Freiheit auskosten wolle. Sie ist vierunddreißig. Das hört man oft. Freiheit ist uns ein hoher Wert, wenn Entscheidungen anstehen, fallen sie meist für die Option aus, die mehr Freiheit verspricht: weit wegziehen oder in die Nähe, Schluss machen oder weitermachen, Karriereschritt oder mal zufrieden sein? Selbstverwirklichung hat Priorität. Auch das müsste nicht in die sterbende Gesellschaft führen, wenn wir mehr Phantasie hätten, wie Selbstverwirklichung auch anders als durch Konsum zu erreichen wäre.

    Selbstverwirklichung und Freiheit stehen weiter hoch im Kurs. Unser Abiturjahrgang hat bislang zwei Kinder hervorgebracht. Beim Jahrgangstreffen macht man Party, als sei man 18, und redet über Indienreisen und Kitesurf-Kurse. Freiheit auskosten, das sagen wir seit zehn Jahren. Wie lang dauert es eigentlich, bis so eine Freiheit einmal ausgekostet ist? Zwar will mehr als die Hälfte der kinderlosen Deutschen unter 50 einer Umfrage zufolge "unbedingt" Kinder, das sind deutlich mehr als vor zehn Jahren. Aber dann passt doch immer irgendwas nicht: gerade hat einer der Partner einen neuen Job begonnen, oder einer fühlt sich doch noch nicht reif. Die Entscheidung für ein Kind ist eine längerfristige Bindung als ein Bausparvertrag und steht damit in wachsendem Kontrast zu den Werten, die jeder Karriereratgeber vorbetet: räumliche und zeitliche Flexibilität. Eine Geburt ist irreversibel und ein Verlust von Optionen. Nichts macht uns mehr Angst.

    Die durchschnittliche Kinderzahl pro Frau betrug im Jahr 2009 in diesem Land 1,36. Das sind 0,7 zu wenig, soll die Bevölkerung gleich groß bleiben. Bis jetzt hat das Elterngeld die Fertilitätsrate kein bisschen angehoben, und auch der bisherige Krippenausbau nicht, wenngleich er vielen Eltern mit Kindern zugutekam. 2008, im Jahr nach der Einführung des Elterngeldes, stieg die Geburtenrate in allen europäischen Ländern an, nur in Deutschland nicht. Hier war die Fertilitätsrate so niedrig wie in keinem anderen EU-Staat.

    Jetzt sind wir an der Reihe, die Kinder der späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahre. Die erste Kohorte von Einzel- und Scheidungskindern. Ausgerechnet die Generation, die mit der Muttermilch Misstrauen gegenüber familiärer Bindung aufgesaugt hat. Ebenso, wie den Auftrag zur Selbstverwirklichung. Dazu, unabhängig zu werden - finanziell, räumlich, emotional. Kinder stehen für das Gegenteil: totale Abhängigkeit, Unangepasstheit, Lebensfreude einfach so und nicht als Verdienst für irgendeine Leistung. Wer soll das noch verstehen? Studiert was Solides, lernt viele Sprachen! Kriegt Kinder? Das sagte niemand. In der Familienpsychologie gibt es die Theorie, Kinder organisierten ihr Leben später so, als seien sie Delegierte ihrer Eltern. Der Anwaltssohn wird Anwalt, die Lehrerinnentochter Lehrerin. Jetzt sprechen wir viele Sprachen, haben was Solides studiert und sterben bald aus.

    Wäre die Mentalität das größere Problem, könnte Familienpolitik nicht viel ändern. Das versucht sie ja schon seit mehr als fünfzig Jahren. Als Konrad Adenauer im Jahr 1953 hörte, dass die Geburtenziffer in Deutschland auf 15,7 pro 1000 Einwohner gesunken war, sagte er: "Dann sterben wir ja aus." Bis heute ist dieses Maß auf rund die Hälfte gefallen. Von Adenauer bis Merkel ist die Politik der diffusen Angst des Aussterbens mit familienpolitischen Maßnahmen entgegengetreten. Im Familienreport 2009 waren 156 "ehe- und familienbezogene" staatliche Leistungen aufgelistet. Es begann mit dem Kindergeld, das 1955 eingeführt wurde, 25 Mark ab dem dritten Kind, und auf das erst seit 1975 schon ab dem ersten Kind Anspruch bestand. Dann kamen Steuerfreibeträge dazu, ein Kinderzuschlag für Sozialhilfeempfänger, das für Gutverdiener gemachte Elterngeld, die Anrechnung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung, die kostenlose Kinderkrankenversicherung in der gesetzlichen Kasse. In den Vereinigten Staaten liegt die Geburtenrate bei 2,1, und dort gibt es noch nicht einmal Kindergeld. "Die Bürger in Deutschland sind eingelullt in ein allgemeines, nicht zu rechtfertigendes Vertrauen in gesellschaftliche Absicherungen", sagt Herwig Birg.

    Immer mehr Familienpolitik, immer weniger Kinder, das ist ein Rätsel. In vormodernen Zeiten waren Kinder für die Menschen die Renten- und Pflegeversicherung, im bürgerlichen Zeitalter wurde das Glück, das ein Kind brachte, zum zentralen Motiv dafür, die Geburt nicht zu verhüten. Die innere Welt der Familie wurde im 19. Jahrhundert ein Gegenmodell zur harten Außenwelt, eine romantische Idee. Bürgerliche Familien begrenzten trotzdem ihre Kinderzahl, um den Lebensstandard zu heben, was der Wirtschaftshistoriker Eric Jones als eine zentrale Ursache für das "europäische Wunder" der Industrialisierung beschrieb.

    "Ich hätte Kinder gewollt, aber in diese Welt wollte ich sie nicht setzen", sagen heute manche Kinderlose, die Ende fünfzig sind. Als sie sich dagegen entschieden, waren die Magazine Zusammenfassungen des Waldsterbens und Aussichten auf den Atomkrieg. Rückblickend betrachtet, haben alle zu viel nachgedacht. "In diese Welt Kinder setzen?", denken auch heute noch Leute. Aber wenn die Nachdenklichen aussterben, wird die Welt morgen wohl auch nicht besser.

    Wenn sich Ökonomen mit der Geburtenschwäche befassen, füttern sie ihre Modelle mit Variablen wie den Opportunitätskosten des Kinderkriegens, also dem Einkommen, das den Eltern durch ihre Berufsabstinenz entgeht. Das sei eine sehr wichtige Determinante des "Fertilitätsverhaltens", wie der Regierungsberater Bert Rürup vor wenigen Jahren schrieb: "Um die ,Nachfrage nach Kindern' und damit die Fertilitätsrate zu erhöhen, müssen die Opportunitätskosten von Kindern verringert werden." Diese Sprache hat komische Züge. Und die Aussage hat sich vier Jahre nach Einführung des Elterngeldes zunächst einmal als falsch erwiesen.

    Ein Problem sind die Männer: Viel mehr Männer als Frauen schließen es grundsätzlich aus, Kinder großzuziehen. Und wenige können sich vorstellen, eine längere Zeit zu Hause zu bleiben. Dabei sehen sie die Sache, wenn sie doch einmal Vater geworden sind, anders: 73 Prozent der Väter sagen, das Kind habe ihr Leben erfüllter gemacht, doch nur 41 Prozent der kinderlosen Männer können sich vorstellen, dass Kinder das Leben bereicherten, ergab eine Allensbach-Umfrage. Offenbar haben nicht nur männliche Ökonomen, sondern Männer ganz allgemein keine Vorstellung vom emotionalen Nutzen, den Kinder bringen.

    "Die Weißen denken zu viel" hieß ein von den Achtundsechzigern gern gelesenes Buch. Vielleicht hat unsere Leistungsgesellschaft dabei das Gefühl verloren dafür, welche Freude es machen kann, die Neugier zu beobachten, mit der ein Kind die Welt entdeckt, wenn es im Sandkasten Burgen baut, von der Welt träumt oder weint, weil es so traurig über die Welt ist, wie wir Zyniker es auch nicht mehr sein können.

    Vor einiger Zeit kam aus dem Bundesfamilienministerium der Vorschlag, der Staat solle kinderlose Paare, die sich Kinder wünschen, mit Steuerentlastungen zu einer künstlichen Befruchtung animieren. Wie einfach es doch wäre, wäre die Steuerpolitik das Problem.

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 20. November 2010