Frau Merkel sagt, es ist alles gesagt

Von Frank Schirrmacher

Über die Kälte der Macht und die Weigerung, ein Buch zu lesen: Es geht im Fall Sarrazin eben doch um nichts weniger als die Meinungsfreiheit.

Baff, seit gestern. Man wird ja wohl noch sagen dürfen, dass man sprachlos ist. Und zwar seit dem Gespräch, das Angela Merkel gestern mit der F.A.Z. geführt hat und in dem sie gefragt wurde, ob sie Thilo Sarrazins Buch mittlerweile gelesen habe. "Nein, die Vorabpublikationen sind vollkommen ausreichend und überaus aussagekräftig, um These, Kern und Intention seiner Argumentation zu erfassen. Ich habe die Verantwortung als Bundeskanzlerin, an einer Gesellschaft mitzuarbeiten, in der jeder Mensch durch Bildung eine Chance bekommen kann, für sein eigenes Glück und zum Wohle unseres Landes."

    Seit drei Wochen gibt es Sarrazins Buch. Es ist sechshundertfünfzigtausend Mal verkauft worden, und es wird wahrscheinlich vor Weihnachten die Eineinhalbmillionenmarke erreichen. Bei einem Buch, das verliehen und weitergegeben wird, heißt diese Zahl, dass es dann von an die zwölf Millionen Menschen gelesen worden sein kann. Es hat Vergleichbares noch niemals gegeben. Der Autor ist wegen der Buchkritik der Kanzlerin und des Bundesbankchefs und der Winke des Bundespräsidenten mittlerweile arbeitslos, gewiss das Maximum an Bestrafung in einer bürgerlichen Welt. Und jetzt, drei Wochen danach, erklärt die Bundeskanzlerin fast stolz, dass sie das Buch, um dessentwillen sie die Absetzung des Bankers betrieb und das ihr Staatsvolk zutiefst spaltet, immer noch nicht gelesen hat, sondern nur aus Vorabdrucken kennt. Es handelt sich dabei, wohlgemerkt, um Vorabdrucke, die von Gegnern des Buches gerade deshalb kritisiert werden, weil sie so harmlos waren: In ihnen werden nämlich gerade nicht jene fragwürdigen eugenischen Thesen dokumentiert, auf die wir in dieser Zeitung hingewiesen haben. Aber damit nicht genug: Auch der Bundesbankpräsident, der Dossiers zusammenstellen ließ und die Absetzung betrieb, rühmt sich, das Buch nicht gelesen zu haben. Auch wer Sarrazins Thesen nicht mag, wer seinen Biologismus für verfehlt, viele seiner Rezepte für indiskutabel hält, sollte sich Rechenschaft ablegen, ob es das ist, was er will.

   

    Denn was man jetzt erlebt, ist die Aufkündigung von Debatte. Wenn Verfassungsorgane sich über ein Buch äußern und dessen Autor sanktionieren, dann ist von ihnen zu erwarten, dass sie wissen, worüber sie reden. Und dass sie zu Argumenten greifen und sich Argumenten stellen. Natürlich kann jeder sagen, das er ein Buch nicht liest. Wenn er gleichzeitig aus der Position des Mächtigen darüber urteilt und das Urteil mit Strafe versieht, dann handelt es sich um einen Skandal und um ein Paradebeispiel dafür, dass Politik die Ebenen von Macht und Meinung immer weniger auseinanderhalten kann. Gerade wenn die Bundeskanzlerin der Meinung ist, Sarrazins Buch sei so gefährlich, dass er als Person nicht mehr tragbar ist: Müsste sie dann nicht wissen wollen, was Millionen Menschen in Deutschland diskutieren?

   

    Auch der SPD-Vorstand stellte den Ausschlussantrag, ohne das ein Einziger das Buch überhaupt kannte. Das ist alles, aber es hat nichts mehr mit Demokratie zu tun und es müsste jeden schaudern machen, der in Deutschland Bücher schreibt.

   

    Die gefährlichsten Bücher sind die, die keiner kennt, aber über die jeder eine Meinung hat. Diese Erfahrung prägte das Grundgesetz. Freie Meinungsäußerung, das kann man bei den Müttern und Vätern unseres Grundgesetzes nachlesen, ist nichts wert ohne die Pflicht und die Freiheit zur Unterrichtung. Man sollte sich informieren, ehe man ein Urteil abgibt. Man muss sich nicht nur unterrichten, sondern besonders in Fällen, wo es um die freie Meinungsäußerung geht, selber zu den Quellen gehen. Denn wo das nicht geschieht, wird die freie Meinungsäußerung ersetzt durch die Herrschaft des Gerüchts. Dolf Sternberger hat dies 1949 in Sätzen zusammengefasst, die in ihrem Wahrheitspathos heute fast schon so klingen wie von einem anderen Stern: "Mit einem Wort: Nicht die Meinung an sich ist interessant, sondern die Wahrheit. Die Wahrheit erfährt man aber nicht mit einem Schlage, durch Offenbarung, Erleuchtung oder schreckliche Enthüllung, sondern man erfährt sie durch den Prozeß und im Prozeß der ständigen Unterrichtung, des Vergleichens, Prüfens und wiederum der Unterrichtung . . . Keine Unterrichtung taugt etwas, die man sich nicht selbst besorgt."

   

    Und damit kommt auch die Presse ins Spiel, denn wir reden nicht über ein Interview, eine Rede (wie etwa beim Historikerstreit), sondern über ein Buch. Kritik an Büchern ist stets die Einladung an den Leser, sich selbst ein Bild zu machen. Sie ist, seit der Aufklärung, ein Instrument um durch Zuspitzung dialektische Prozesse von Meinung und Gegenmeinung zu befördern, sie ist, mit Sternberger zu reden, im idealen Fall ein Prozess der Wahrheitsfindung. Der Staat, bis hin zum Bundespräsidenten, der mitteilen lässt, man wüsste wohl hoffentlich in der Bundesbank, was nun zu tun sei, hat Kritik für seine Zwecke missbraucht. Er konnte sich lediglich auf das Gerücht einer Wirkung berufen. So schnell hat noch kein Leitartikel, keine "Spiegel"-Recherche, keine Stuttgart-21-Reportage zu Konsequenzen geführt wie dieses von niemandem gelesene Buch. Was wäre in den Zeiten von Peter Glotz, Richard von Weizsäcker, dem Generalsekretär Kurt Biedenkopf - was wäre geschehen? Die Redaktionen hätten sich nicht retten können vor intellektuellen Einsprüchen, Widerlegungen, Korrekturen, Protesten, Debatten - und jetzt? Nur die Kälte der Macht, die nicht liest und nicht zu lesen gedenkt. Es ist die gleiche Macht des Staates, welcher, quer durch alle Schichten, die Eltern begegnen, die ihre Kinder nicht mehr in bestimmte Schule schicken wollen und es dennoch müssen: Es ist die Berührung mit einem System, das Empathie mit Schwäche verwechselt und auf seine Durchsetzungsrechte pocht.

   

    Und deshalb geht es bei der Sarrazin-Debatte im Kern mittlerweile um nichts anderes als die Meinungsfreiheit; ein Kern, den die Politik durch ihr täppisches Verhalten selbst freigelegt hat: Er könne ja sein Buch veröffentlichen und gehe in ungezählte Talkshows, sagt die Regierung, was schadet das der Meinungsfreiheit? Sie hat vergessen hinzuzufügen, dass er diese Freiheit hat, nachdem er zuvor sozial stigmatisiert wurde und die politische Klasse ihn als Gesprächspartner ausschloss. Kann man, in einer Welt, in der man um des lieben Friedens willen bereit ist, mit aufgeklärten Taliban zu reden, allen Ernstes glauben, dass diese Form des Diskurses glaubwürdig ist?

   

    Irgendwann Mitte der achtziger Jahre besuchte der in der DDR lebende Schriftsteller Rainer Kirsch die Redaktion der F.A.Z. Er hatte eine Reisegenehmigung und führte ein langes Gespräch mit Marcel Reich-Ranicki. "Er hat sehr gute Sachen geschrieben", erklärte Reich-Ranicki, nachdem Kirsch abgereist war, "aber wir müssen sehr vorsichtig sein, wie wir ihn loben. Es könnte ihm in seiner beruflichen Karriere schaden." Auf unsere entgeisterte Nachfrage, dass dann ja auch unsere Meinungsfreiheit beschränkt sei, antwortete er mit seinen Erfahrungen aus Polen: "Ach Gottchen, Sie glauben, die lesen auch nur eine Zeile vom Kirsch? Die wollen nur wissen, ob er ihre Kreise stört. Passen Sie auf, Sie geraten dort als Kritiker leicht in die Rolle des Staatsanwalts."

   

    Um es gleich mit allem Nachdruck zu sagen: Wir sind nicht die DDR. Aber Meinungsfreiheit ist ein scheues Reh. Die aktuelle Erfahrung jedenfalls lautet in der Causa Sarrazin und für künftige Fälle: "Wir müssen sehr vorsichtig sein, ihn zu kritisieren, er könnte seinen Job verlieren."

   

    In anderen Worten: wir wollen unsere Texte nicht in Dossiers wiederfinden, wo sie von Menschen, die das Buch nicht gelesen haben, dazu verwendet werden, jemanden zu sanktionieren. Wir schreiben nicht für Personalchefs und karrierebewusste Bundesbankpräsidenten, der Journalismus ist nicht dafür da, an den Rufmord grenzende Prozesse zu munitionieren, in denen die Ankläger sich nicht dazu herablassen, auch nur mit einem Wort Argumente zu widerlegen. Einer hat es getan, wenn auch leider in der verkehrten Reihenfolge (nach dem angekündigten Parteiausschluss): Sigmar Gabriels Antwort auf Thilo Sarrazin ist hart, aber intellektuell, sie greift wichtige Einwände auf, und sie gibt dem Leser die Freiheit, die im Kern der Meinungsfreiheit steckt: sich selbst zu unterrichten. Gabriel hat, und das ist der Kern eines freiheitlichen Diskurses, die Deutschen aufgefordert, dieses Buch zu lesen. Wer weiß, so viel Hoffnung muss erlaubt sein, vielleicht entpuppt sich der im Kern ganz falsche Parteiausschlussantrag als Mittel einer Debatte. Der Unterschied zwischen Gabriel und der Bundeskanzlerin liegt auf der Hand: Hier will einer Sarrazin nicht in seinem Klub haben, dort redet der Staat selbst. Und er redet so, als handelte es sich um einen Verwaltungsbeschluss der unteren Baubehörde: "Haben Ihren Antrag abgelehnt, weil er nicht die formalen Kriterien erfüllt." Unterschrift: unleserlich. Das sind mittlerweile die Bräuche in einem Land, das gleichzeitig von Bildung und der Autonomie des eigenen Kopfes faselt.

   

    Nein, das alles macht Sarrazin nicht zu einem Märtyrer, er wusste, worauf er sich einlässt. Er selbst hat sich als einen Chemiker beschrieben, der zwei explosive Stoffe miteinander in Verbindung bringt. Die Explosivität dieser Stoffe ist bis heute immer noch nicht hinreichend erfasst, es gibt in seinem biologischen Teil Quellen, die einem die Haare zu Berge stehen lassen (Volkmar Weiss), und am Ende wird man erkennen, dass hier auch ein von seinen eigenen Funden in die Irre geführter Autodidakt das Wort führt. Aber nicht einmal Sigmar Gabriel nennt ihn einen Rassisten.

   

    Die Politik denkt, mit Büchern sei es so wie mit der Demoskopie oder mit Wahlentscheidungen: Irgendwann gibt es eine Art Endurteil, und dann auf zu neuen Ufern! Diese Hoffnung wird enttäuscht werden. Deutschland hat ein Problem mit der Meinungsfreiheit, und die politische Klasse hat es selbst, im Kern ihrer machtvollen, von immer weniger Entschlossenen getragenen Milieus.

   

    Es ist kein Zufall, dass an einem Mann wie Karl-Theodor zu Guttenberg gerühmt wird, dass er Dinge erklärt und immer wieder erklärt, Fehler eingesteht und aus ihnen nicht nur rhetorische Konsequenzen zieht. Es kennzeichnet ein Bedürfnis. Und es kann kein Zufall sein, und das ist bislang unbemerkt geblieben, dass zwei der erfolgreichsten politischen Bücher dieses Herbstes das gleiche Motto ziert. Denn nicht nur Thilo Sarrazin, auch Peer Steinbrück stellt seinem Buch (das sich wie eine Antwort auf Sarrazin liest) als Motto und Inschrift, wie beim Danteschen Höllentor, denselben Satz Lassalles voran: "Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und Bemänteln dessen, was ist." In einer bis in die letzten Winkel politisierten, medial erfassten, mit allem und allen kommunizierenden Gesellschaft schreiben zwei völlig verschiedene Charaktere, beide Sozialdemokraten, beide in ihren Milieus isoliert, beide öffentlich erfolgreich, dass es darum gehe, endlich zu sagen, was ist. Wenn das nicht als Warnschuss in die Geschichte eingeht, dann gab es keine Warnschüsse seit der Kanonade von Valmy.

   

    Weil es eine fundamentale Krise ist, in der sich die politische Klasse ohne Zweifel befindet (und es wird einem ganz schwummrig bei den gesellschaftspolitischen und intellektuellen Analogien, die sich einstellen, wenn man an die ersten zwanzig Jahre des letzten Jahrhunderts denkt), verstärkt noch durch ein verunsichertes journalistisches Milieu, das im Minutentakt seine Meinung ändert, liegt ohne Zweifel eine Chance zu jener "Wahrheit", von der Dolf Sternberger spricht, vorzudringen. Im aktuellen Fall ist es eine Erwartung an diejenigen Verfassungsorgane, die schweigend am Fall Sarrazin ihre Macht gezeigt haben: Sie mögen ihre Einwände formulieren, sagen, was wir tun und lassen können, was gefährlich und was womöglich hilfreich ist. Sie mögen endlich reden. Sie mögen einsehen, dass Debatte nicht das ist, was sie in Talkshows dafür halten. Es geht um die Freiheit der Meinung, man stehe zu Sarrazin, wie man wolle. Frau Merkel sagt: "Es ist alles gesagt." Sie müsste sich auch um ihretwillen wünschen, dass das nicht der Fall ist. Es kann doch nicht sein, dass für das Herz unserer Demokratie in Deutschland nur Joachim Gauck zuständig ist.

Frankfurter Allgemeine

Sonntagszeitung vom 19. September 2010