Die Flucht des Salamanders

Von Anja Osang-Reich

Im Abschiebegefängnis Köpenick haben an einem Tag drei Menschen versucht, sich das Leben zu nehmen. Warum?

Der erste Selbstmordversuch wurde um 14.15Uhr entdeckt. Oktay Karaoglan, 28 Jahre alt, türkischer Staatsbürger, lag auf dem Bett seiner Sechs-Mann-Zelle und spuckte Schaum, neben ihm lag noch die Shampooflasche, aus der er getrunken hatte. Sie war fast leer. Er war gerade ins Krankenhaus gebracht worden, da ritzte sich ein paar Zellen weiter ein junger Palästinenser mit einer Rasierklinge den ganzen Körper auf. Er blutete so stark, dass ein Rettungshubschrauber gerufen werden musste. Das dritte Mal kam der Notarzt in der Nacht, kurz nach eins. Ein 28-jähriger Tunesier hatte versucht, sich in seiner Zelle zu erhängen. Auch er wurde gefunden und ins Krankenhaus gebracht. Auch er überlebte.

Es war der 12. Januar 2010, einer dieser bitterkalten, dunklen Tage des vergangenen Winters. Im ehemaligen DDR-Frauengefängnis Berlin-Köpenick saßen sechs Frauen und 63 Männer in Abschiebehaft. Was drei von ihnen bewegte, an diesem Tag ihr Leben aufs Spiel zu setzen, ist schwer zu sagen, aber fast noch rätselhafter ist, was danach passierte: Die Häftlinge wurden gleich am nächsten Morgen aus dem Krankenhaus entlassen, zurück nach Köpenick gebracht und in Isolierzellen im Keller gesperrt. Dann wurde ihnen mitgeteilt, dass sie in den nächsten Tagen abgeschoben werden. Es schien fast so, als wolle man sie bestrafen.

Das Berliner Abschiebegefängnis liegt im Süden von Berlin, dort, wo die Stadt zerfällt in brachliegende Industrieflächen, DDR-Plattenbauten, Schrebergärten, Gewerbehöfe, Einfamilienhäuser. Es gibt einen Kanuverein der Deutschen Post und einen Segelclub an der Spree, die geputzte Köpenicker Altstadt und das Schloss sind nicht weit. Nichts passt zusammen in dieser Gegend, und wahrscheinlich fallen deshalb die mit vier Meter hohen Zäunen und Stacheldraht geschützten Betonbaracken kaum auf. Ein paar Autos parken davor, ein abgewetzter Fußball liegt hinterm Zaun, es gibt eine Klingel, Videokameras, Warnschilder. Sonst deutet nichts darauf hin, dass hier Menschen eingesperrt werden, Illegale, Flüchtlinge aus allen Teilen der Welt, die sich bis nach Berlin durchgeschlagen haben, erwischt wurden und nun wieder abgeschoben werden sollen, dahin, wo sie einst aufgebrochen sind.

Es ist eine eigene, abgeschlossene Welt, aus der wenig nach draußen dringt, nach Berlin. Hin und wieder wird mal ein Fall bekannt, weil eine Schule für  einen Jungen kämpft, der abgeschoben werden soll oder sich ein Afrikaner auf seine deutschen Wurzeln beruft und mit den Behörden anlegt. Es sind meist Geschichten, bei denen es nicht schwerfällt, Partei zu ergreifen. Es gibt Schwache und Starke, aber es gibt auch Fälle, bei denen diese Grenzen verschwimmen, je länger man hinschaut.

Der Weg zu Oktay Karaoglan, dem Mann, der das Shampoo getrunken hat, führt durch ein hohes Eisentor und durch Türen, die sich öffnen und schließen wie in einem Geisterfilm. Hinter den Türen sitzen drei gelangweilte Berliner Polizeibeamte, nehmen Personalien auf, überwachen die Sicherheitsschleuse, telefonieren. Es ist Dienstagnachmittag, sieben Tage nach jenem 12. Januar, der Besucherraum ist kahl und leer. Es gibt neun Holztische, über denen Nummern baumeln, eine Kinderspielecke und ein Bild mit einem kleinen Segelboot auf türkisblauem Wasser an der Wand. Ganz hinten, am Ende des Raumes, befinden sich noch drei Besucherboxen, wie man sie aus Gefängnisfilmen kennt. Häftling und Besucher sitzen sich, durch eine Scheibe getrennt, gegenüber. In der ersten Box sitzt Oktay Karaoglan.

„Hallo“, sagt er durch die Sprechscheibe. Er ist Ende 20, ein dunkelhäutiger muskulöser Mann mit drei waagerechten Furchen in der Stirn und unzähligen kleinen Narben im Gesicht. Wenn er beim Reden seinen Arm hebt und sich durch die Haare streicht, sieht man eine Tätowierung auf der rechten Hand.

Wie geht es ihm?

„Könnte besser gehen“, sagt er.

Er erzählt, dass er in einer Zelle im Keller sitzen muss, seit er aus dem Krankenhaus entlassen wurde. In den Nebenzellen sitzen die anderen beiden. „Die haben auch das halt versucht. Man will uns bestrafen.“ Er spricht das verknappte, hüpfende Deutsch von Türken, die zwischen dem Land, aus dem ihre Familie stammt und dem Land, in dem sie leben, hängen geblieben sind. So war es auch bei ihm, sagt er.

Oktay Karaoglan ist 12, als er mit seinen Eltern aus der anatolischen Stadt Malataya nach Wien und später nach Berlin zieht. Die meisten seiner Verwandten leben in Deutschland, in Köln, Heilbronn, Frankfurt, Berlin, seit über 50 Jahren. Der Mann hinter der Scheibe nennt sie die „ganze Sippe“ und „die vierte Generation“. Er klingt trotzig und verständnislos. Warum will man ausgerechnet ihn hier nicht.

Das erste Mal wird er 1999 bei einer Routinekontrolle der Polizei erwischt und abgeschoben. Er gibt nicht auf, stellt in Deutschland einen Antrag auf Asyl und begründet ihn damit, Angst vor dem Militärdienst in der Türkei zu haben. Der Antrag wird abgelehnt. Er heiratet eine Türkin, sie ist 36, er gerade mal 18, aber sie hat einen österreichischem Pass, das zählt. Er kann nun zurück nach Wien, nimmt sich eine Wohnung, und eine Zeitlang hat er sogar eine richtige Arbeit.

Als was hat er denn gearbeitet?

Als Schornsteinfeger, sagt Oktay Karaoglan, und weil er merkt, dass das Wort nicht so richtig in sein Leben passt, fügt er hinzu: „Als Hilfsschornsteinfeger“. Dann erzählt er weiter, so gleichgültig, als habe er das alles schon oft erzählt, all die Dinge, die ihm widerfahren sind: Der Tod der Eltern, die Scheidung von seiner Frau, sein Abstieg in die Drogenszene, der  Streit mit einem Dealer, anderthalb Jahre Gefängnis wegen Raub und Körperverletzung, Drogentherapie, vorzeitige Entlassung wegen guter Führung, der Versuch, in Berlin bei seinem Bruder Fuß zu fassen, wieder Drogen, wieder Polizei und schließlich, im November 2009, Abschiebegefängnis Köpenick.

Der evangelische Seelsorger Bernhard Fricke lernte Oktay Karaoglan kennen, kurz nachdem der in Köpenick angekommen war. „Er war ziemlich fertig, und er war ganz dünn“, sagt er. „Aber er hat gut deutsch gesprochen, besser als die meisten dort, hatte ein gutes Verhältnis zu allen und einen sehr starken Willen.“ Für Fricke ist Oktay Karaoglan der typische Fall eines Menschen ohne Wurzeln, ohne Heimat, einer der Hilfe braucht. Fricke stellte mit ihm einen Asylantrag und als der abgelehnt wurde, gleich noch einen. Er beantragte eine Drogentherapie bei Nokta, einem sozialtherapeutischen Zentrum für Migranten in Kreuzberg, einen kalten Entzug schaffte Karaoglan selbst. „Man konnte richtig zusehen, wie es ihm immer besser ging. Er hat das super durchgehalten“, sagt Fricke.

Der Seelsorger trägt Jeans und Rucksack und fährt fast täglich nach Köpenick, übersetzt Behördenbriefe, hält Gottesdienste ab, hört sich die Sorgen der Insassen an. 778 waren es im letzten Jahr. Sie wohnen in Sechs-Mann-Zellen mit Doppelstockbetten, Tischen und Sitzbänken, die am Boden festgeschraubt sind, die Türen haben Sehschlitze, damit die Wächter von draußen reinsehen können. Der Tagesablauf ist immer der gleiche. Sieben Uhr wecken, frühstücken, duschen, zwei Stunden Hofausgang, rauchen, fernsehen, Mittagessen, fernsehen, Abendbrot, 22 Uhr Nachtruhe. Arbeit gibt es nicht, das Saubermachen erledigt eine Privatfirma, das Essen wird angeliefert. Es ist ein freudloses, stumpfsinniges Ausharren. Manchmal kommt ein Sozialarbeiter, manchmal der Mann, der Einkäufe von draußen mitbringt, manchmal kommen Briefe von deutschen Behörden. So einen Brief hat Oktay Karaoglan am 12. Januar bekommen. Es war die zweite Ablehnung seines Antrages auf Asyl. Danach hat er das Shampoo getrunken.

Oktay Karaoglan sagt, dass die Schmerzen schlimm gewesen seien, er habe sich auf dem Bett gekrümmt und es gleich wieder bereut. Bernhard Fricke sagt, dass sich Menschen manchmal etwas antun, um sich Hilfe zu holen, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Er erzählt von einem Afrikaner, dem sein ganzes Geld abgenommen wurde, als er in Abschiebehaft kam, alles, was er in Deutschland erarbeitet und gespart hatte und er der Familie mitbringen wollte. Die Vorstellung, mit leeren Händen nach Hause zu kommen, hat er nicht ausgehalten. So ähnlich, sagt Fricke, könne es auch bei Oktay Karaoglan gewesen sein. „Er hatte Angst, zur Armee einberufen zu werden“, sagt er. „Für Kurden ist es besonders schwer, weil sie wissen, dass sie dort einen schlechten Stand haben.“

Auf den ersten Blick scheint also alles klar zu sein. Ein verzweifelter Mann, drogenabhängig, psychisch labil, will sich lieber das Leben nehmen als in das Land abgeschoben werden, das schon lange nicht mehr seine Heimat ist. Doch das ist nicht die ganze Geschichte.

Hans Gutzmann ist Chef der Psychiatrie in Hedwigshöhe, einem modernen Krankenhauskomplex am Rand von Berlin, das aus struppigen Feldern wächst wie eine Fata Morgana. Es ist nicht einmal fünf Kilometer vom Abschiebegefängnis entfernt, und so kommt es, dass Gutzmann regelmäßig Patienten von dort untersucht. Menschen, die mit dem Kopf gegen die Wand schlagen, das Essen verweigern, Rasierklingen schlucken, Shampoo trinken, schwerst depressiv sind. „Im Moment haben wir gerade zwei“, sagt er und zeigt aus dem Fenster seines Büros zu dem Haus gegenüber.

Die psychiatrische Station ist ein flaches, unauffälliges Haus, in das Menschen mit seelischen Störungen kommen. Niemand landet hier gerne, aber für Flüchtlinge kann es die Rettung sein. Das hat mit dem deutschen Recht zu tun, nach dem Abschiebehäftlinge, die stationär aufgenommen werden, keine Häftlinge mehr sind, sondern ganz normale Patienten. Sie werden behandelt, und wenn es ihnen besser geht, in die Freiheit entlassen und nicht zurück nach Köpenick gebracht. „Wir sind ja hier kein Haftkrankenhaus“, sagt Hans Gutzmann, dem diese rechtliche Lage eine ungewöhnlich große Verantwortung gibt. Er entscheidet nicht nur darüber, wie Menschen behandelt werden, sondern auch, wo sie in Zukunft leben werden, ob sie abgeschoben werden oder wieder untertauchen können.

Bei Oktay Karaoglan und den beiden anderen, die am 12. Januar eingeliefert wurden, war die Entscheidung offenbar eindeutig. Gutzmann sagt: „Wir sind zu der Einschätzung gekommen, dass sie nicht stationär behandelt werden müssen.“ Auf die Gründe geht er nicht ein, nicht direkt jedenfalls. Man müsse zwischen Selbstmordversuch und Selbstverletzung unterscheiden, und für einen Arzt sei das in der Regel nicht schwer. „Hat jemand drei Pillen oder 300 genommen? War er in der Lage, die Konsequenzen abzuschätzen? Wirkt er entspannt, locker, weil der Druck vorbei ist oder verzweifelt, weil er noch am Leben ist, weil er es nicht geschafft hat, sich zu töten? Die Grenzen“, sagt Gutzmann und dreht einen Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger, „sind schärfer gezogen, als Sie vielleicht annehmen.“ Er und seine Kollegen führen lange Gespräche mit den Menschen, die auf die Notaufnahme kommen, oft auch mit Dolmetscher. Die Wurzeln für bestimmte Krankheitsbilder finde er meist im biografischen Konsens, sagt er. Und so ein Gewahrsam sei eine sehr spezielle Situation, in der posttraumatische Erfahrungen leicht wieder nach oben gespült werden können.

Hans Gutzmann hat im Januar 2003 im Krankenhaus Hedwigshöhe die Psychiatrie übernommen, in dieser Zeit gab es im Abschiebegefängnis Köpenick fast täglich Selbstmordversuche. Manche Menschen wurden entlassen, aber manche wurden auch – ähnlich wie Oktay Karaoglan und seine beiden Mitinsassen – erst ins Krankenhaus gebracht und danach zur Strafe in die Isolationszelle gesteckt, gaben aber selbst dann nicht auf, hängten sich erneut das Bettlaken als Schlinge um den Hals, ritzten sich mit einer Telefonkarte das Handgelenk auf. Immer wieder. Man bekommt eine Ahnung von der Verzweiflung und dem ungeheuren Lebenswillen dieser Menschen, wenn man das hört. Aber auch davon, dass Oktay Karaoglan kein Einzelfall ist. Er ist Produkt als auch Teil eines Systems.

Die Frau, die in einem kleinen verrumpelten Büro im Kreuzberger Bethanienhaus sitzt, ist vielleicht Mitte fünfzig, trägt kurze struppige Haare und einen Fleecepullover. Sie will ihren Namen nicht nennen, weil vieles, was sie macht, sich am Rande der Legalität bewegt, nennen wir sie K. Anfang der Achtzigerjahre hat K. in Frankfurt am Main gegen die Startbahn West protestiert, vor einem Jahr hat sie 50 Roma-Familien, die aus dem Görlitzer Park vertrieben wurden, auf dem Flur vor ihrem Büro einquartiert, aber ihre Hauptarbeit bei der Antirassistischen Initiative ist es, Abschiebehäftlingen zu helfen, oder das, was sie unter helfen versteht.

K. schiebt eine dicke blaue Mappe über den Tisch. „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen, 1993 bis 2008“, steht darauf. Die Zahlen sind erschreckend. „Mindestens 814 Flüchtlinge haben sich aus Verzweiflung oder Panik vor der Abschiebung oder aus Protest gegen die drohende Abschiebung selbst verletzt oder versuchten, sich umzubringen und überlebten zum Teil schwer verletzt“, heißt es. „Davon befanden sich 492 Menschen in Abschiebehaft.“

Für K. sind diese Zahlen nicht nur ein Beweis für die unmenschliche deutsche Flüchtlingspolitik, sondern auch eine Art Erfolgsstatistik. Sie spricht aus, was der Arzt nur angedeutet hat: Ein Selbstmordversuch im Abschiebegefängnis soll in der Regel nicht zum Tode führen, sondern in die Freiheit. „Sterben will von denen niemand“, sagt K. „die sind doch hier hergekommen, um zu leben.“

Einmal, vor zweieinhalb Jahren sei tatsächlich jemand in Köpenick gestorben. „Ein Tunesier. Er hat sich aufgehängt, und dann war er tot“, sagt sie und fügt hinzu. „Das wollte er wahrscheinlich auch nicht.“ Ein Unfall also, wenn man so will. Er steht jetzt auch in K.s Statistik. Sie ist die einzige im Land, die diese Zahlen zusammenstellt. Darauf ist sie stolz, und besonders stolz ist sie auf die aus dem Jahr 2003. Über 30 Selbstmordversuche in drei Monaten. Und fast alle Insassen sind rausgekommen. „Einer“, sagt K., „hat sich später die Rasierklinge, die er geschluckt hat, übers Bett gehängt.

Sie trinkt einen Schluck schwarzen Kaffee und steckt sich eine Nuss in den Mund, und man muss an die Rasierklinge im Hals denken. Ist das nicht lebensgefährlich?

„Ach“, sagt K. „Ich hatte mal eine Katze, bei der ist sogar ’ne Stopfnadel hinten wieder rausgekommen.“ Von Oktay Karaoglan und den anderen Selbstmordversuchen Anfang des Jahres in Grünau hat K. noch nichts gehört. Sie ist jetzt nicht mehr so oft draußen in Köpenick wie 2003, sagt sie. Der Kontakt ist ein wenig abgerissen.

„Weltoffen“, steht am Eingang der Chefetage des Abschiebegewahrsams Köpenick, aber es ist gar nicht so einfach, dorthin zu kommen. Der erste Antrag auf ein Interview wird abgelehnt, der zweite genehmigt, der Termin dann aber verschoben, weil der Polizeipräsident findet, dass auch der Pressesprecher, die Psychologin sowie der Leitende Polizeiarzt dabei sein sollten. An einem späten Frühlingsnachmittag ist es soweit. Die Führungsebene des Abschiebegewahrsams empfängt bei Kaffee, Tee und Keksen. Stephan Lengowski, der Leiter, sitzt in der Mitte, um ihn herum die anderen. Die Psychologin sagt wenig, der Pressesprecher und der Arzt fast nichts, Lengowski umso mehr.

Stephan Lengowski ist 44 Jahre alt, im Wedding geboren und war stellvertretender Leiter einer Wache in Weißensee, bevor er nach Grünau kam. „In Weißensee hatten wir Punk im Pott mit 3 000 Punks. Hier haben wir mal ne Selbstverletzung und mal einen Widerstand, wobei aber fast niemand ernsthaft zu Schaden kommt“, sagt Lengowski. „Punk im Pott“ ist ein Festival, das vor zwei Jahren mal in Weißensee stattfinden musste, weil es im Ruhrgebiet verboten worden war. Mit Selbstverletzung meint er Flüchtlinge, die Shampoo trinken und Rasierklingen schlucken. Durchgedrehte Punks und durchgedrehte Flüchtlinge.

Lengowski kommt gleich zur Sache, „die Sie wahrscheinlich hergeführt hat“. „Im Dezember fing die ganze Geschichte an. Wir hatten hier eine Etage aus dem arabischen Raum, und da gab es Vorkommnisse immer um den einen Häftling herum.“ Die Vorkommnisse waren Selbstverletzungen, drei alleine im Dezember, der Häftling war Oktay Karaoglan, Lengowski nennt ihn den Shampootrinker.

Der Shampootrinker war der Drahtzieher, der Rädelsführer. Er hat die anderen angestiftet. Er hat das Laken von ihrem Hals geknotet, wenn sie sich ans Bettgeländer gehängt haben, er hat es den Wächtern gemeldet, er hat gedolmetscht. „Er war immer dabei, er hat hier geholfen und da geholfen. Jedes Mal“, sagt Lengowski. Zum Anfang hat er nur geahnt, dass es irgendwie nicht mit rechten Dingen zugeht, aber dann, Mitte Dezember, kam der Beweis. Einer der Häftlinge, der einen Selbstmordversuch unternommen hatte und entlassen worden war, rief einen anderen Häftling an und berichtete stolz, wie er alle ausgetrickst habe. Und der Häftling erzählte es dann Lengowski. „Die haben angerufen und gesagt: Da haben wir den Arzt und die Psychologin schön verarscht“, ruft der Gefängnisleiter empört und hält sich an seiner Schreibtischkante fest, als könnte er sonst vom Stuhl fallen. Er hat dann mit Karaoglan eine „Gefährderansprache“ geführt, sagt er. „Und zwar genau mit der Prämisse: Ich möchte, dass sie hier gesund rein- und wieder rauskommen.“ Stephan Lengowski war im Dezember erst ein paar Monate im Amt, für ihn war das vermutlich die erste große Herausforderung als Leiter in Köpenick. Für Oktay Karaoglan war es Teil seines Lebenskampfes. Ein Duell zwischen einem kurdischen Hilfsschornsteinfeger und einem Berliner Polizisten in einem deutschen Abschiebegefängnis. Der Polizist hat gewonnen. So sieht es aus.

Als Oktay Karaoglan im Januar das Shampoo trank, war Lengowskis Geduld am Ende. Kaum waren er und die anderen aus dem Krankenhaus Hedwigshöhe zurück, sperrte er sie in die Isolierzellen im Keller. Er war stinksauer und ist es immer noch: „Man muss das schon mal deutlich sagen“, sagt er. „Hier werden Grenzen ausgetestet, und wenn ich das zulasse, kann das dazu führen, dass es immer weiter geht.“ Wenn es nach Lengowski gegangen wäre, wären alle drei wahrscheinlich sofort abgeschoben worden. Es geht aber nicht nach ihm. „Das ist nicht unsere Zuständigkeit. Wir treffen hier keine Entscheidungen. Wir vollziehen nur die Haft.“

Was ist aus den dreien geworden? Lengowski lehnt sich zurück. „Einer ist entlassen worden“, sagt er, „aufgrund eines Formfehlers vor Gericht. Die anderen sind abgeschoben worden.“

Fast sechs Monate sind nun vergangen. Seit sechs Monaten ist Oktay Karaoglan zurück in der Türkei. Vielleicht ist er bei der Armee, vielleicht auch schon wieder auf dem Weg nach Deutschland oder Österreich. Sein Bruder, der in Prenzlauer Berg von Hartz IV lebt, sagt am Telefon, es habe schon genug Ärger gegeben, dann legt er den Hörer auf. Der Anwalt, der Karaoglan vor Gericht vertreten hat, sagt, sein Mandant schulde ihm noch über 600 Euro Anwaltskosten. Und überhaupt sei er nicht sicher, ob es gut war, ihn vertreten zu haben. „Ich habe das Gefühl, der hat uns ziemlich die Taschen vollgehauen.“ Nur Bernhard Fricke, der Seelsorger, hat vor etwa drei Monaten mal eine Nachricht bekommen. Oktay Karaoglan hat in der Asylberatung angerufen, ein Kollege war dran. Karaoglan hat schöne Grüße ausrichten lassen. Er werde sich wieder melden.

Ganz am Ende des Gesprächs in der Besucherbox im Januar in Köpenick, sagt Oktay Karaoglan noch, dass er Pech hatte. „Wenn die anderen nicht nachgekommen wären, wäre ich entlassen worden.“ Und dann, kurz bevor er in seine Zelle zurückgebracht wird, zeigt er das Tattoo auf seinem Arm. Es ist ein Salamander, eine ganz bestimmte Art, die man vor allem in Anatolien, Karaoglans Heimat, findet. Dieser Salamander ist etwa 15 Zentimeter lang, hat eine runde Schnauze und einen sehr langen Schwanz, den der Salamander abwerfen und anschließend neu generieren kann. Immer wieder. Egal, wie schwer er verletzt wird.

Berliner Zeitung Nr. 140 vom 19. /20. Juni 2010