Das Milliarden-Puzzle

Detlef Schmalenberg

Es war der 3. März, als die Severinstraße versank. Zwei junge Männer starben beim Einsturz des Stadtarchivs und weiterer Häuser. Der Schaden wird auf eine Milliarde Euro geschätzt. Findet sich kein Schuldiger, bleibt der Großteil beim Steuerzahler hängen.

In 28 Metern Tiefe schießen Wasser, Kies und Sand in die U-Bahn-Grube am Waidmarkt. Oben bricht der Gehweg ein. Wie ein gezackter Blitz flitzt ein zehn Zentimeter breiter Riss diagonal die Fassade des Stadtarchivs hinauf. In Höhe des zweiten Stocks springt der zerstörerische Spalt auf das Nachbarhaus über. »Haut ab! Gleich kracht es«, verscheucht ein Handwerker die Schüler des gegenüberliegenden Gymnasiums. Mit einem ohrenbetäubenden Knall neigen sich die Gebäude in Richtung Straße und sacken in sich zusammen.

»Es war, als würden sie verschluckt, bis tief hinab in die Hölle«, sagt ein Bauarbeiter, der sich in letzter Sekunde retten konnte. Minutenlang verdunkelte eine gigantische Staubwolke die Gegend um die Unglücksstelle. »Hustend und wie blind bin ich einfach weiter gelaufen, bis ich wieder atmen konnte.«

Es war der 3. März 2009, als die Severinstraße im Boden versank. Zwei junge Männer starben beim Einsturz des Historischen Stadtarchivs und der angrenzenden Häuser. Der Schaden wird auf eine Milliarde Euro geschätzt. Wird kein Schuldiger gefunden, bleibt der Großteil beim Steuerzahler hängen. Denn die Versicherungen müssen nur für die eigentliche Baustelle unbegrenzt zahlen, die Entschädigung für das Archiv und die umstehenden Häuser ist auf rund 91 Millionen Euro beschränkt.

Unter Experten gilt bisher nur als sicher, dass der Einsturz mit dem U-Bahn- Bau zusammen hängt. Was genau geschah, ist noch unklar. Im Fokus der Ermittler stehen zwei Varianten: Ein sogenannter »hydraulischer Grundbruch«, bei dem das Grundwasser, das den Boden unter dem Archiv mit sich gezogen hat, durch die Baustellensohle »gebrochen« ist. Sollte sich dies bewahrheiten, wäre die Frage, wer dies zu verantworten hat, nur schwer zu beantworten. Auch der Stadt und den Kölner Verkehrs-Betrieben (KVB) könnte dann eher eine Mitschuld gegeben werden. Diese hatten vor Baubeginn ein Gutachten über den Untergrund in Auftrag gegeben, das sich im Nachhinein als fehlerhaft herausgestellt hat.

Nach Informationen des Kölner Stadt-Anzeiger indes gibt es zahlreiche Indizien dafür, dass eine löchrige Wand im U-Bahn-Schacht die Katastrophe verursacht haben könnte. Sollte dies stimmen, würde die Firma, die diese Außenwand im Jahr 2005 gebaut hat, im Zentrum der Schuldfrage stehen – was angesichts der gigantischen Schadenssumme schnell zu deren Ruin führen könnte.

Doch auch unabhängig von der Klärung der Einsturz-Ursache werfen interne Unterlagen ein zweifelhaftes Licht auf die Bauarbeiten am unterirdischen Gleiswechsel der Nord-Süd-Bahn: Geheimniskrämerei, immer neue Risse in den Schutz - wänden, illegales Abpumpen von Grundwasser und zahlreiche Alarmzeichen, die nach Meinung eines Experten zum sofortigen Stopp der Arbeiten am Waidmarkt hätten führen müssen. Normalität auf einer technisch höchst anspruchsvollen Großbaustelle? Oder ist die Geschichte des U-Bahn-Baus am Waidmarkt auch eine Geschichte von Pfusch und Schlamperei? Eine Geschichte fahrlässig verursachter Risiken, entstanden durch eine Kopf-runter-und-durch-Mentalität?

»Alarm«, heißt es beispielsweise im Bautagebuch des 11. April 2008. Die Grube werde geflutet, das Wasser stehe bereits fünf Zentimeter »über Aushub«. Vier Tage lang geht das so, bis das Problem gelöst scheint. Eine Spezialfirma installiert zusätzliche Brunnen, die das Wasser abpumpen sollen. Doch diese Brunnen, so berichten Zeugen später, werden »ohne Rücksprache beim Prüfingenieur und ohne Freigabe« gebohrt. Immer wieder kommt es in den darauf folgenden Monaten zu Problemen mit dem Grundwasser. Am 9. September muss die Baustelle »infolge Wassereintritt« sogar komplett geräumt werden. Am Ende gibt es 23 Brunnen in der Grube – genehmigt von der Unteren Wasserbehörde der Stadt jedoch sind lediglich vier.

Die illegalen Brunnen laufen zeitweise auf Hochtouren. Am 21. Februar 2009 beispielsweise wurden laut der drei Grubenzähler, an denen vermutlich noch nicht einmal alle Pumpen angeschlossen waren, 1.341,46 Kubikmeter Wasser pro Stunde aus dem Untergrund der Baugrube gezogen. Und damit womöglich auch verhängnisvoll viele »Feinanteile« des Erdreichs. Professor Rolf Sennewald jedenfalls, als Prüfingenieur für die statischen und konstruktiven Belange am Waidmarkt zuständig, hatte schon im März 2005 darauf hingewiesen, »dass bereits eine Wassermenge von 317,5 Kubikmeter pro Stunde als bedenklich angesehen wird – und dass großräumige Grundwasserabsenkungen nicht zugelassen sind«.

Aber nicht nur mit der Flüssigkeit aus der Tiefe gibt es Probleme. Schwierigkeiten bereiten auch die ein Meter dicken Schlitzwände, die die Baugrube vor seitlichem Wassereinbruch schützen sollen. Laut Berichten der Baufirmen und dem Tagebuch für die Grube treten in den Monaten vor dem Unglück immer wieder »Fehlstellen« auf. »Schlitzwand-Undichtigkeit, erheblicher Wassereintritt«, heißt es beispielsweise am 22. Januar 2009. Insgesamt gibt es in den darauf folgenden vier Wochen 13 Einträge zu Undichtigkeiten in den Wänden.

Am 4. Februar, einen Monat vor dem Einsturz, notieren die Baufirmen, beim Aushub in 22 Metern Tiefe sei ein weiteres etwa einen halben Quadratmeter großes Loch freigelegt worden. Durch die »intensive Wassereindringung« könne sich ein Hohlraum gebildet haben. Schon im Jahr 2005 sei die Wand in diesem Bereich bemängelt worden. »Deshalb sind weitere tiefer gelegene Undichtigkeiten nicht auszuschließen«, heißt es. Die Warnung blieb ohne Folgen. Die Beschaffenheit der Wand sei nie überprüft worden und auch die dringend erforderliche Suche nach möglichen Hohlräumen habe nie stattgefunden, monierte dem Vernehmen nach ein am Bau beteiligter Sachverständiger bei seiner späteren Vernehmung durch die Polizei. Im Baustellen-Protokoll vom 17. Februar 2009 jedenfalls heißt es: »Durch zwei Schlitzwandfugen (…) dringen weiterhin größere Mengen Wasser in die Baugrube.«

Nicht nur auf der Baustelle, auch im Archiv hatte es zahlreiche Hinweise auf eine problematische Situation gegeben. Bei einer Begehung am 18. Dezember 2008 entdeckte ein Statiker im Keller verschobene Bodenfliesen, abgeplatzten Mörtel, eine gerissene Gipsplombe, einen gebeugten Sturz und eine »schadhafte Dehnungsfuge« zu einem Nachbargebäude. Im Erdgeschoss schlossen einige Stahltüren nicht mehr richtig, verklemmten sich beim Öffnen oder Schließen auf dem Fußboden. Der Experte schätzte diese Hinweise auf Bewegungen des Gebäudes als unproblematisch für dessen Standfestigkeit ein. Er empfahl aber, noch einen Sachverständigen für Bauwerkschäden hinzuzuziehen, um »eine genaue Ursache für das unterschiedliche Setzungsverhalten herauszufinden und um eventuell weitere Schäden am Gebäude zu verhindern«.

Weil dies bis zum 20. Januar 2009 nicht geschehen war, beschwerte sich die Leiterin des Archivs beim städtischen Amt für Gebäudewirtschaft. Erfolglos, wie die Archivchefin später bestätigte. »Das eigentlich notwendige Bodengutachten vom Keller aus oder vom Bürgersteig vor dem Archiv« sei von der Gebäudewirtschaft nicht mehr in Auftrag gegeben worden. Denn dort war man der Ansicht, ein zusätzlicher Gutachter sei nicht notwendig, da die Standfestigkeit des Gebäudes laut Statiker doch nicht gefährdet sei.

Selbst als am 5. Februar bei einer stichprobenartigen Kontrolle ein Vermessungstechniker feststellte, dass sich das Archiv innerhalb eines Tages um sieben Millimeter abgesenkt hatte, passierte nichts. Die Senkung wurde als noch tolerierbar angesehen. Ob diese Einschätzung auch im Nachhinein als richtig gelten kann, ist eine der spannenden Fragen, die geklärt werden müssen. Denn spätestens als die abrupten Verschiebungen festgestellt wurden, hätten »die Alarmglocken schrillen müssen«, meint ein Fachmann, der nicht genannt werden will. »Da passierte etwas Gravierendes im Untergrund und das hätte gründlich analysiert werden müssen.«

Ihm jedenfalls seien die Probleme beim U-Bahn-Bau am Waidmarkt verschwiegen worden, beklagte Prüfingenieur Sennewald nach dem Einsturz im Polizeiverhör. Illegale Pumpen, Löcher in den Schlitzwänden, massiver Wassereinbruch, Senkungen am Stadtarchiv: »Mit keinem Wort« sei er über die Schwierigkeiten informiert worden, sagte der Münchner Professor für Ingenieurwissenschaften, der die statischen Berechnungen für die Baugrube kontrollieren sollte. Ob diese Ereignisse denn Hinweise auf eine gefährliche Situation gewesen wären, wollten die Ermittler wissen. »Eindeutig ja«, antwortete Sennewald. Es wäre »ein sofortiger Baustopp veranlasst gewesen«.

Die Staatsanwaltschaft Köln, die das Ereignis akribisch und mit hohem Aufwand aufarbeitet, hat unmittelbar nach dem Einsturz Ermittlungen wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung und der Baugefährdung eingeleitet. Schon zwei Tage nach dem Unglück wurden drei Sachverständige benannt, Professoren für Statik, Geologie und Hydrogeologie. Bei Hausdurchsuchungen wurden etwa 2.500 DIN-A4-Ordner mit Bauunterlagen beschlagnahmt sowie unzählige Daten von Servern und Computern gesichert. Ein Puzzle mit Tausenden Informationen und Eventualitäten: Die Kölner Verkehrs-Betriebe, Auftraggeber für das Mega-Projekt Nord-Süd-Bahn, haben ein gerichtliches Beweissicherungsverfahren beantragt, bei dem weitere Gutachter zum Einsatz kommen. Das Heer von Sachverständigen wird durch die Experten ergänzt, die die Stadt, die Feuerwehr und die Versicherungen beauftragt haben. Errichtet wird ein Großteil der 4,2 Kilometer lange U-Bahn-Trasse durch die Innenstadt von den Unternehmen Bilfinger Berger, Züblin und Wayss & Freitag, die sich zu einer »Arbeitsgemeinschaft« (Arge) zusammengeschlossen haben. Und natürlich hat auch die Arge eigene Gutachter benannt.

Unter den Sachverständigen herrschte zumindest anfangs »eine Atmosphäre von Misstrauen und Geheimniskrämerei«, sagt ein Insider. »Die haben sich fast darum gekloppt, wer zuerst nach Beweismitteln bohren darf«, ergänzt ein anderer. Nach Informationen des Kölner Stadt-Anzeiger vermuten zumindest die Tiefbaugutachter der Staatsanwaltschaft die Ursache für das Unglück mittlerweile einige Meter unterhalb der Bausohle. Jedenfalls soll es zahlreiche Indizien für eine löchrige Schlitzwand in dieser Tiefe geben. Das Wasser, das den Untergrund des Stadtarchivs mit in die Baugrube schwemmte und ihm dadurch den Boden entzog, könnte durch dieses Leck geströmt sein.

Eine defekte Wand jedenfalls hatten auch einige am Bau beteiligte Fachleute bei ihren Vernehmungen durch die Kriminalpolizei als eine mögliche Unglücksursache angegeben. Einige Experten hielten es jedoch ebenso für denkbar, dass das Wasser durch den Boden gebrochen ist. Denn zu allen Problemen auf der Baustelle kam noch ein weiteres: Das Gutachten, das vor Beginn der Arbeiten über den Untergrund angefertigt wurde, hatte entscheidende Fehler. Eine etwa 40 Zentimeter starke Schicht aus Lehm und Ton sowie eine bis zu 1,5 Meter dicke Braunkohleschicht waren schlichtweg übersehen worden.

Die These, dass das zerstörerische Nass als »hydraulischer Bruch« von unten kam, ist zwar noch nicht vom Tisch, scheint der überwiegenden Zahl der Gutachter derzeit aber als wenig realistisch. Beispielsweise hätten Probebohrungen nach dem Einsturz gezeigt, dass die Kies-, Sand-, Lehm- und Kohle-Schichten unterhalb der Bausohle relativ intakt und unbeschädigt sind, berichtet ein Insider. Wäre das Wasser durch den Boden gebrochen, müssten diese Schichten jedoch zerstört oder deutlich unsortierter sein. Gegen die These vom Grundbruch sprechen dem Vernehmen nach auch die Ergebnisse einer sogenannte »Rammsondierung«. Dabei wurden, einfach ausgedrückt, Stangen in die Erde getrieben und anhand der dafür notwendigen Schläge die Dichtigkeit und Beschaffenheit des Untergrundes berechnet.

Wenn also das Wasser nicht durch den Boden gekommen sein sollte, woher kam es dann? Hinweise dazu haben geothermische Messungen gegeben. Durch ein Bohrloch außerhalb der Schlitzwand wurde Grundwasser unterhalb der verschütteten Bausohle erhitzt. Mit Hilfe von Infrarotaufnahmen wurden dann die Fließbewegungen analysiert. Dabei soll sich gezeigt haben, dass das heiße Wasser durch eine »Fehlstelle« in der Schlitzwand in die Grube geflossen ist.

Noch aber fehlt die letzte Gewissheit, dass die Lücke auch vor dem Einsturz schon bestand. Die »indirekten« Untersuchungen reichen den Gutachtern der Staatsanwaltschaft nicht aus, um ihren Expertisen eine Sicherheit zu verleihen, die problemlos auch vor Gericht bestehen könnte. Deshalb wollen die Sachverständigen die noch verschüttete Stelle sehen, die der Auslöser des Unglücks gewesen sein könnte. Dazu soll außerhalb der U-Bahn-Grube ein »Erkundungsschacht « gegraben werden.

Aber auch wenn der Zugang in einigen Monaten realisiert werden sollte und einen freien Blick auf die vermeintliche Unglücksursache freigibt, rechnen Insider mit keinem schnellen Ergebnis. Denn je nach Form und Größe des möglichen Loches würden sich zahlreiche weitere Fragen stellen: Wie, wann und warum ist das Leck entstanden? Lag es beispielsweise am verarbeiteten Stahl, am Beton oder am Einbau? Wer ist verantwortlich dafür? Hätte der Fehler zu einem späteren Zeitpunkt bemerkt werden können oder müssen? Wurden Anzeichen übersehen oder falsch gedeutet? Haben beispielsweise die Probleme mit den Brunnen und dem Grundwasser einen Einfluss auf die denkbaren »Fehlstellen« in der Schlitzwand gehabt? Die Wertung, ob etwas ursächlich für den Einsturz oder einfach nur schlechtes Baustellen-Management war, wird schwierig werden. »Da sind, je nachdem was wir vorfinden, zahlreiche Kombinations-Möglichkeiten denkbar«, sagt ein Fahnder.

Der Kölner Rechtsanwalt Andreas Kerkhof jedenfalls, der die Angehörigen eines der Opfer der Katastrophe vertritt, spricht von »einem Skandal«. Die bisherige Aktenlage lasse auf »zahlreiche Fehler und Schlampigkeiten schließen«. Die Vertreter der Arge-Unternehmen jedoch wollten sich zu »derartigen Spekulationen « nicht äußern. Die Ursachen des Einsturzes seien noch völlig unklar, sagte ein Sprecher und betonte: »Keinesfalls gibt es Erkenntnisse, die darauf hinweisen, dass die Schlitzwand defekt war.«

Auf die Annahme, die Wand könne löchrig gewesen sein, sollen einige Arge- Leute schon kurz nach dem Einsturz allergisch reagiert haben. Bei einer gemeinsamen Besprechung hatte der Chef der Brunnenbauer in der Waidmarkt- Grube berichtet, seine Mitarbeiter hätten deutlich gesehen, wie das Wasser aus der Wand gekommen sei. Er möge Ruhe bewahren und vor allem »Stillschweigen «, sei er daraufhin wiederholt bestürmt worden, gab er später bei der Polizei an. Es sei doch klar, dass der Einbruch durch den Boden gekommen sei, habe ein Arge-Anwalt gesagt. Ein hydraulischer Grundbruch eben, ein unvermeidbares Risiko, für das niemand etwas könne.

Doch der Brunnenbauer ließ sich nicht beeindrucken. Er beharrte auf seiner Sichtweise. Die Beobachtungen seiner Mitarbeiter werde er an die Staatsanwaltschaft weiterleiten, habe er seinen Kritikern entgegnet: »Da wurden erst mal alle kreidebleich. Ich denke, die wussten genau, was los war.«

KÖLNER STADT-ANZEIGER

Nr. 304 vom 31. Dezember 2009