Der brave Parteisoldat

Von Jörn Martin Behrens

Hermann Stief ist jetzt 80 Jahre in der Partei, Hubertus Heil noch keine 20. Stief hat unter dem Terror der Nationalsozialisten gelitten, unter der Folter, dem Zuchthaus. Heil, so sagen die, die ihn kennen, leidet derzeit vor allem unter Franz Müntefering.

Die Welt des Hermann Stief, die er heute feiern soll, kennt Hubertus Heil nur aus den Geschichtsbüchern. Es ist eine Welt, die wenig gemein hat mit dieser hier im feudalen Festsaal des Lemgoer Schlosses Brake, in dem die Kronleuchter funkeln und der Champagner in Sektgläsern perlt.

Hermann Stief ist jetzt 97 Jahre alt. Es ist nicht mehr seine Welt, diese Welt hier, in der der Generalsekretär der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Hubertus Heil heißt, 36 Jahre jung ist und sich jetzt gerade mit 20 Minuten Verspätung links neben ihn an den Tisch gesetzt hat.

Heil nickt in die Runde, grüßt Stief, legt ihm die Hand auf die Schulter, klatscht wie ein Zirkusdirektor beim Einlauf in die Manege. Er setzt sich, verschränkt die Arme vor der Brust und nimmt jene so oft gesehene Pose des Denkers und aufmerksamen Zuhörers ein. Hermann Stief lässt sich nichts anmerken.

Hubertus Heil kennt die Welt des Hermann Stief, weil er sie kennen muss, weil sie immer noch Bezugsrahmen der deutschen Sozialdemokratie ist, weil sie immer noch Kern der Basiserzählung dieser Partei ist - auch wenn sich der Anachronismus an Tagen wie diesem kaum mehr verbergen lässt. Diese Welt erinnert aber nicht nur an große Ideale, sie lindert auch die Sorgen der Gegenwart. "Bei allen Schwierigkeiten, wir Sozialdemokraten jammern doch auf hohem Niveau", wird Heil gleich rufen.

Brandt - für ihn kein Vorbild

Hermann Stief sitzt während all dessen stoisch auf seinem Platz hinter dem roten Tischwimpel. Er nickt manchmal, dann scheint er sich wieder ganz in sich zurückzuziehen. "Gerechtigkeit", "Solidarität" und "Freiheit" steht auf dem Wimpel: alles noch lesbar, wenn man weiß, welche Worte da hingehören. Jedes Einzelne aber ist nur angedeutet.

Stief ist ein schmächtiger Mann mit tiefen Falten auf der Stirn. Heute trägt er einen dunkelblauen Dreiteiler und eine rote Fliege. Er hört aufmerksam zu,  dreht seine Daumen umeinander, schaut immer mal wieder nach links zum Generalsekretär, als wolle er ihn nur widerwillig einmal kurz rastern, nur wenige Sekunden. Er legt seine Stirn dann noch tiefer in Falten, presst seine Lippen aufeinander und hebt seine Augenbrauen. Dann atmet er tief aus, schaut kurz in die Runde und versinkt wieder in Gedanken.

Hubertus Heil weiß nicht viel über Hermann Stief. Muss er aber auch nicht. Vielleicht ist es sogar besser so. Vielleicht hat er aber ja zumindest einmal kurz auf die Vita geschaut, die ihm der Ortsverband gefaxt hat. Da steht auf knapp drei Seiten alles Wesentliche drin über das Leben des Genossen: geboren 1911 in Worms; 1928 Eintritt in die SPD und die Sozialistische Arbeiter-Jugend "Falken"; SPD-Bezirkskassierer in Essen; Trommelchorführer bei den Kinderfreunden; Hundertschaftsführer der "Eisernen Front" im Straßenkampf gegen Hitlers SA; 1936 Verhaftung durch die Gestapo; Verurteilung zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus; schwere gesundheitliche Schäden bis heute; nach 1945 dann von den Briten eingesetzt als Kreisjugendpfleger in Lemgo bis zur Pensionierung vor 32 Jahren; Träger des Bundesverdienstkreuzes für sein Engagement im Jugendaustausch. Es sind Daten,  Fakten, Worte.

Dass er immer noch Mitglied der SPD ist, das ist das eigentlich Wichtige an diesem Abend, der auch für Hubertus Heil jene Woche beendet, in der Wolfgang Clement nach knapp 40 Jahren seinen Genossen wutentbrannt das Parteibuch vor die Füße geworfen hatte. Da tut einer wie Stief gut. Heil muss ja nicht zu tief eindringen in seine Welt. Die Menschen sind nun einmal komplizierter als die einfache Semantik der hohen Ideale. Heil weiß nicht, was Stief denkt.  Und Stief sagt es heute Abend auch nicht, das hat er sich vorgenommen. Wenn er ihm tief in die Augen schauen würde, dann könnte auch Heil sehen, dass da Wehmut und Bitterkeit sind.

"Bei so einer Ehrung wird doch nur das Positive erwähnt", hat Stief vor ein paar Tagen gesagt, bei sich im Wohnzimmer. Er lebt immer noch alleine in seinem kleinen Häuschen neben dem Friedhof. Er kocht noch, er spült, räumt im Keller auf, er geht spazieren, sieht fern, trifft Bekannte, er liest gerne, zuletzt Dieter Hildebrandt. "Hitler und Stalin" steht ganz links im Bücherregal, rechts Ulrich Wickerts "Buch der Tugenden", dazwischen große Literatur. Auch eine Brandt-Biografie. Ein Vorbild? "So wie er seine Frau misshandelt hat?"

Stief war immer ein Mann der Prinzipien, 52 Jahre verheiratet, 80 Jahre in der Partei. Beide Bindungen hätten Außenstehende oft nicht verstanden. Er redet wie ein alter Mann, der sich seiner ersten Liebe erinnert, wenn er von seinen Trommlerchören spricht, davon, wie er am Tag der Reichstagswahl vom 6.  November 1932 als Kassierer mit der Sympathisantenliste unter dem Lodenmantel von Haustür zu Haustür ging, den Maikowsky-Sturm der SA im Rücken, aber das Ziel, die NSDAP zu verhindern, vor Augen. "Das waren noch andere Wahlkämpfe damals", lacht er mit funkelnden Augen. Dann wird er wieder ganz ernst. "An diesem Tag haben wir völlig versagt. Plötzlich waren überall SA-Leute. Wir mussten uns auflösen und einzeln abziehen." Seine Erinnerung lässt ihn nicht im Stich, nur Namen, die werfe er manchmal durcheinander.

Genau erinnert er sich aber noch an die Tritte und Schläge der Gestapo beim Verhör, damals im Januar 1936 in Bochum, nachdem seine "Roten Kämpfer" im Ruhrgebiet aufflogen . Er sei immer ein ganz Linker gewesen in der SPD, sagt er, habe sich auch deshalb nach 1933 dieser rätekommunistischen Gruppe angeschlossen. Auch das kann Heil nicht wissen, denn es steht ja nicht in der Vita, obgleich es das organisatorische Versagen dieser Gruppe war, das Stief ins Zuchthaus brachte. Aber wie soll Heil in diesen Tagen auch noch mit diesem Erbe umgehen?

"Ich hatte als Einziger der Essener Gruppe ein Motorrad", erzählt Stief - "eine Zündapp 200." Und mit der rauschte er nachts nach Wattenscheid, wo ein Genosse aus Berlin zugeschickte Negative entwickelte. "Das war alles gut durchdacht. Wäre die Post außerhalb der Dunkelkammer geöffnet worden, wären die Filme sofort zerstört gewesen."

Acht Seiten sozialistischer Kampfschriften waren auf jedem der postkartengroßen Bilder abfotografiert. "Dass es ausgerechnet das Versagen eines unserer Führungsleute war, das uns auffliegen ließ, hat mich getroffen", seufzt Stief und lehnt sich zurück. Der Wattenscheider gab die Materialien einem befreundeten Kommunisten, der fragte am Stammtisch dann einen Neuling, ob der "mal was Illegales sehen" wolle. ",Na dann zeich man her‘, hat der gesagt und seinen Mantel geöffnet", erzählt Stief: "Das goldene Parteiabzeichen. Puff, da war es aus." Ein paar Wochen später klopfte die Gestapo auch an seine Türe. Stief erzählt, wie die Stiefeltritte immer heftiger wurden beim Verhör. "Ich lag gekrümmt am Boden, bis das Blut aus dem After lief."

Vielleicht denkt Stief jetzt an diese Bilder, während die Genossen im Festsaal singen. Auch Stief stimmt ein, sogar Heil kennt sie noch, die alten Lieder: "Brüder zur Sonne, zur Freiheit / Brüder, zum Lichte empor! / Hell aus dem dunklen Vergangnen / leuchtet die Zukunft hervor!"

Zinnober - braucht er nicht

Für Stief sind das die Lieder seiner Jugend, für Heil gelernte Tradition. Er hat sich erhoben, wirkt ein wenig wie der stolze Sohn, der seinen Text gut auswendig gelernt hat. Er hat noch einmal kräftig geklatscht und in die Kameras gelächelt. Er zitiert jetzt Otto Wels, alles Standardprogramm: "Die Freiheit und das Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht."

Sie klatschen alle im Saal. Er habe einmal Besuch gehabt von einer Delegation der Kommunistischen Partei Chinas, erzählt er weiter. Bei aller Kritik, geschätzt habe er "deren Ehrfurcht vor dem Alter". Damit hat er die Brücke geschlagen, von ihm, Hermann Stief, zum Großen und Ganzen, zur SPD. Stief wusste ja vorher, dass er "nur eine Figur ist" an diesem Abend. "Um mich als Person geht es doch gar nicht." Für ihn hätte man sich diesen ganzen Zinnober mit Heil, Sekt und Lebkuchenherz "Ein großes Herz für die SPD" sowieso sparen können: "Für mich war es selbstverständlich, dass ich auch im Dritten Reich aktiv war." Für ihn. Aber die Zeiten sind andere geworden.

Ganz andere. "Natürlich bin ich von meiner Partei enttäuscht, laufend sogar", hat Stief kurz nach dem Clement-Coup gesagt. "Viele wären an meiner Stelle doch längst ausgetreten!" Aber ein Parteiaustritt sei für ihn wie ein Kirchenaustritt: "Es verbietet sich halt." Um Clement sei es aber nicht schade, sagt er. "Ein furchtbar gehässiger Mensch." Ihm habe ein ganz anderer Parteiaustritt zugesetzt: "Der Oskar, das war immer mein Mann. Da ist damals ein Ideal kaputt gegangen bei mir." Stief seufzt, lehnt sich zurück in seinem Sessel und vergräbt sein Gesicht in seiner faltigen Hand. Oskar Lafontaine, wenn Heil das wüsste.

Er weiß es nicht. Er sinniert jetzt über den Sinn der Sozialdemokratie. "Warum gibt es die SPD als Partei? Die Frage hat mich beschäftigt", erzählt er. Eine Frage, die sich viele stellen in diesen Monaten der nicht enden wollenden Selbstzerfleischung. Er also auch. "Diese Flügelkämpfe sind furchtbar schädlich", findet Stief. Heils Antwort auf die Sinnfrage freilich ist die übliche: Die Partei werde einfach gebraucht. "Wir haben den Sozialstaat erstritten, den Rechtsstaat", ruft er. "...und Hartz IV", scherzt ein Genosse ganz hinten. Weil sich die SPD an das halte, was die Prinzipien guter Politik seien, existiere sie noch, sagt Heil weiter: "Verantwortung, Leidenschaft und Augenmaß."

Hermann Stief sieht das anders, aber das muss Heil nicht stören, denn Stief schweigt ja diskret. "Unsere Ideale haben wir doch schon lange verloren", hat er in seinem Wohnzimmer noch gesagt. "Es ist schon bitter zu erleben, wie ein Ideal nach dem anderen bröckelt." Stief hat einmal an den Sozialismus geglaubt. "Solange ich mir sicher war, dass die Arbeiterklasse etwas ganz Besonderes ist, war ja auch alles in Ordnung", sagt er. "Aber vielleicht waren die Menschen auch einfach nicht reif für unsere Idee."

Heil weiß nicht, dass Stief so denkt. Er erinnert jetzt gerade an jene großen Sozialdemokraten, die immer da gewesen seien für Deutschland in dunkler Stunde: "Friedrich Ebert", sagt er. Er kann ja nicht wissen, was Stief über den Reichskanzler denkt, dass "der so dolle doch nun nicht gewesen" sei. Stief habe seine frühen Vorbilder in Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gefunden. "Die hatten noch Feuer!" Erst viel später habe er erkannt, dass auch sie "genauso utopisch" gewesen seien wie heute Lafontaine. Aber er steht zu der Faszination, die er angesichts der Kommunisten verspürt habe. Der SPD sei er beigetreten, weil er trotz allem, "ein guter Staatsbürger sein wollte". Er ist es dann auch geworden, aber oft daran verzweifelt.

"Natürlich bin ich der SPD gegenüber kritischer geworden, aber ich war es auch früher. Nur, man muss schon sagen, dass die führenden Genossen damals deutlich sozialer waren als heute." Aber er will das nicht als Vorwurf verstehen: "Ich habe diese Entwicklung vom Radikalinsky zum Gemäßigten ja auch mitgemacht."

Karrieristen - mag er nicht

Hubertus Heil war nie radikal, außer in der Konsequenz, mit der er seine Karriere verfolgte. Stief ist so etwas suspekt, für ihn waren die Ideale immer wichtiger, deshalb hat er sich nach dem Krieg auch für die Jugend - und gegen die Parteiarbeit entschieden. "Mir war intuitiv klar, dass beides nicht geht." Es ist halt eine andere Welt, in der der junge Generalsekretär lebt.

Hermann Stief konnte nie viel anfangen mit ihr. Man solle "die Kontraste auf sich wirken lassen", hat der Kreisverbandschef Dirk Becker gemahnt, als Stief den Neumitgliedern die Hand schüttelte. Er sollte eine Symbiose von "Vergangenheit und Zukunft" werden, dieser Akt. Doch auch Heil wirkt wie ein Neumitglied gegenüber dem alten Schlachtross. "Für mich war die Partei immer mein Leben, aber das kann ich doch heute von keinem mehr erwarten", sagt Hermann Stief. Er meinte das nicht böse, im Gegenteil. "So ist es nun einmal. "

Erschienen in der „Frankfurter Rundschau“ am 2. Dezember 2008 und

in Teilen in der „Lippischen Landeszeitung“ am 1. Dezember 2008