Ich gegen den Dax

Von Heike Faller

Kann ich mein Geld in zwölf Monaten verdoppeln? ZEITmagazin-Redakteurin Heike Faller begab sich unter die Spekulanten, setzte auf riskante Investitionen – und machte mitten im Crash ihre größten Gewinne

An einem Abend im April stand ich mit einem Finnen, der mir als »ultrareich« vorgestellt worden war, am Flughafen von Kopenhagen. »Große Krisen bergen die Gefahr, dass viele ihr Geld verlieren«, sagte er, ganz sachlich, als wir in der Check-in-Schlange warteten. »Und dass einige wenige viel Geld gewinnen.«

Ich hatte ihm gerade erklärt, warum ich hier war: Anfang des Jahres hatte ich mich unter die Spekulanten begeben mit dem Ziel, einen Geldbetrag, maximal 20.000 Euro, zu verdoppeln. Nicht aus Geldgier, sondern weil mir das Streben nach Profit einfach der beste Reiseführer schien durch die wilde Welt des entfesselten Kapitalismus. Ich wollte Märkte und Messen besuchen und Börsen obskurer Länder. Ich wollte die Welt durchkämmen und mich dabei nur von einem Prinzip leiten lassen: dem der Gewinnmaximierung. Über das, was ich unter Fondsmanagern und Spekulanten erlebte, wollte ich ein Buch schreiben.

Als ich mit dem Finnen am Flughafen stand, waren wir auf dem Weg in den Nordirak, zusammen mit dem schwedischen Manager eines Fonds namens »Babylon«, der als erster nach dem Krieg in irakischen Aktien investiert hatte. Das Land ist reich, wird langsam sicherer, die Aktienkurse lagen am Boden – das war, zusammengefasst, die Idee. Außerdem gebe es, so wurde mir erklärt, kaum eine Börse, die so abgeschnitten sei von den weltweiten Finanzströmen wie die irakische, was bei der Krise im Westen, die bereits in der Luft lag, natürlich ein Vorteil sei.

Der Finne schien mein Vorhaben weder lächerlich noch größenwahnsinnig zu finden. »Verdoppeln«, sagte er. »Verdoppeln. In einem Jahr. Okay. Lass mich nachdenken.« Dann schloss er die Augen und lenkte seine Energien offenbar in den Teil des Gehirns, der für riskante Finanzanlagen zuständig war. Schließlich sagte er: »Ich kenne eine Papiermühle in Nordfinnland. Sie ist extrem unterbewertet. Sie hat ernste Probleme. Der Kurs ist extrem gesunken. Wenn sie überlebt, sind fünfzig Prozent Rendite möglich. Für hundert Prozent brauchtest du Leverage. Kennst du Leverage?«

Ich nickte stolz. Leverage ist die Kunst, durch Schuldenmachen seine Rendite zu steigern. Früher hatte ich geglaubt, dass nur Arme Schulden haben. Aber unter Spekulanten wurde mir klar, dass die Reichen die größten Schuldner sind. Das Konzept des Leveragings war mir im März begegnet, als die amerikanische Investmentbank Bear Stearns nur durch eine Zwangsverheiratung vor der Pleite bewahrt werden konnte: Sie hatte (wie fast alle Banken und Hedgefonds) Fremdkapital zu billigen Zinsen aufgenommen in der Hoffnung, mit dem fremden Geld mehr zu erwirtschaften, als sie dafür bezahlen musste.

Leverage, zu Deutsch Hebelwirkung, entsteht dann, wenn die Rendite die Schuldzinsen übersteigt. Steigen die Zinsen oder sinkt die Rendite, dann kann daraus über Nacht ein Bankrott werden. (Das billige Geld der letzten Jahrzehnte, das die Banken dazu einlud, Kredite aufzunehmen, hat diese Praxis gefördert – weshalb jetzt immer öfter Alan Greenspan für die Krise verantwortlich gemacht wird, der den Leitzins über Jahre niedrig gehalten hatte. Ich habe mein halbes Leben in einem »Zinstal« verbracht, aber das beginne ich, wie viele, erst jetzt zu begreifen.)

Damals am Flughafen von Kopenhagen lernte ich meine Anfängerlektion Kapitalismus: Wer sein Geld verdoppeln möchte, schafft dies nicht durch Cleverness oder Fleiß. Er muss dafür vor allem ein hohes Risiko eingehen. Risiko und Rendite sind im Kapitalismus auf so existenzielle und tragische Weise verbunden wie siamesische Zwillinge: Eins kann nicht ohne das andere.

Wer investiert, setzt sein Geld, wie beim Roulette, für einen bestimmten Zeitraum dem Lauf des Schicksals aus. Das gilt übrigens auch für Oma-Anlagen. Sie gehen selten pleite, aber sie können pleitegehen, und Sparbuchzinsen sind nicht, wie ich das seit den Weltspartagen meiner Kindheit geglaubt hatte, der Lohn fürs brave Sparen, sondern der (geringe) Lohn der (geringen) Unsicherheit. Wer beim Roulette sein Geld auf eine Zahl setzt, hat eine Chance von 1:37, das 36-Fache seines Einsatzes zurückzubekommen. Wer sein Geld auf Rot oder Schwarz setzt, verdoppelt seinen Einsatz mit einer Wahrscheinlichkeit von nahezu fünfzig Prozent. Wer es aufs Bankkonto legt, der bekommt nur drei Prozent, aber dafür gehen Banken auch nur einmal oder zweimal pro Jahrhundert bankrott. Hohes Risiko – hoher Gewinn; kleines Risiko – kleiner Gewinn. Es ist das Grundgesetz des Kapitalismus, an diese einfache Tatsache sollte man sich halten. Auch wenn in den letzten Jahren selbst vergleichsweise vorsichtige Banker wie Josef Ackermann gehofft haben mögen, mit »innovativen Finanzinstrumenten« die siamesischen Zwillinge getrennt zu haben.

Noch vor neun Monaten konnte ich keinen Wirtschaftsteil lesen, weil ich nach höchstens drei Sätzen an einer mir unbekannten Vokabel hängen blieb. Ich hätte nicht erklären können, was einen Hedgefonds von einem braven Deka-Fonds unterscheidet. Ich verstand nur ansatzweise, warum alle Welt auf die »Zinserhöhungen« oder »Zinssenkungen« des »Zentralbankvorsitzenden« wartete, und immer wenn ein Politiker über eine Abschwächung des Wirtschaftswachstums klagte, spürte ich einen leisen Widerstand, weil mir nicht klar war, wozu die Wirtschaft eigentlich immer weiter wachsen musste. Ging es uns nicht auch so schon gut genug?

Wie viele Leute war ich »im Kapitalismus« groß geworden, ohne je eines seiner Sakramente empfangen zu haben: Ich habe noch nie einen Kredit aufgenommen, noch nie »Produktionsmittel« besessen, erst spät mein Geld »für mich arbeiten lassen«: Das war vor vier Jahren, als ich die erste Investitionsentscheidung meines Lebens fällte. Damals habe ich, mehr aus einem Gefühl heraus, meine Ersparnisse in Edelmetalle gesteckt. Zwei bayerische Bankrebellen, die zu dieser Zeit bei einer kleinen Sparkasse arbeiteten, hatten mich auf die Idee gebracht.

Der Westen sei unrettbar verschuldet, erzählten sie, Greenspan »pumpe« seit Jahren mehr Geld in die Wirtschaft, als Amerika erarbeite, es drohten Übertreibungen, Bankenpleiten und früher oder später eine Inflation. Das war 2004. Die beiden Propheten, die mir das verrieten, arbeiteten damals bei den Vereinigten Sparkassen Oberpfalz, Neustadt an der Waldnaab, Vohenstauß. Sie waren kurz zuvor im FAZ-Wirtschaftsteil (den ein Kollege gelesen hatte) dadurch aufgefallen, dass sie in einer Zeit großer Kursverluste mit ihrem »Musterdepot« unglaubliche Gewinne erzielt hatten. Sie hießen Christian Wolf und Uwe Bergold und sprachen davon, dass gegen all jene Geißeln nur Gold helfe, von alters her die Ersatzwährung der Menschheit.

Ich konnte natürlich nicht beurteilen, ob das stimmte. Aber mir gefiel, dass sie bayerisch sprachen und dass sie ein Angebot aus Frankfurt abgelehnt hatten, weil sie sich nicht dem »Herdentrieb« der Anzugträger unterwerfen wollten, der die Jasager belohne, solange sie nur Fehler machten, die alle machten. Herrrdentrrieb, sagten sie, mit böse grollendem r. Ihr Büro war ebenerdig. Ich sah aus dem Fenster. Mit Blick auf Felder und Wälder und einem netten Sparkassendirektor im Rücken konnte man offenbar weitsichtigere Entscheidungen treffen als in einem Bankenhochhaus in Frankfurt.

Ich kaufte mir Gold, Silber, Palladium, Platin in Barren und Münzen und schichtete diese vorsichtig in ein Kästlein, das ich in einem Schließfach der Sparkasse deponierte. Als Geheimnummer wählte ich eine Zahl, die ich mir gut merken konnte: 1929. So wie damals, hatte man mir gesagt, würde die Welt aussehen, wenn ich eines Tages wiederkäme, um meine Schätze abzuholen.

Als ich Jahre später auf den Goldpreis blickte, hatten sich meine Ersparnisse verdoppelt. Das gab mir das Selbstvertrauen – auch ohne detaillierte Kenntnisse von Kurs-Gewinn-Verhältnissen –, Geld an den Märkten verdienen zu können. Anscheinend hatte ich zumindest ein gutes Händchen in der Auswahl von Finanzberatern.

Als ich Anfang dieses Jahres mein Experiment der Geldvermehrung begann, spekulierte ich also, geprägt von den beiden Goldpropheten, darauf, Geld an einer Katastrophe zu verdienen. Das mag sich unsympathisch anhören, aber es erschien mir nicht unmoralisch, mein Geld in Anlagen zu stecken, deren Wert in Krisenzeiten steigen würde. Gibt es einen Grund, zu verarmen, nur weil andere verarmen? Sollten diesmal die Banken ihr Geld verlieren. Ich würde Kuchen essen.

Bereits im Sommer 2007 schienen sich die apokalyptischen Prognosen der Bayern zu bewahrheiten. Deutsche Landesbanken bekamen ernste Liquiditätsprobleme, nachdem ihre Bilanzen von amerikanischen Hypothekenpapieren kontaminiert worden waren. Von Inflation war die Rede. Der Goldpreis kletterte stetig seinem neuen Rekord entgegen. Ich entnahm den Wirtschaftsteilen, die ich nun immer flüssiger lesen konnte, dass die US-Immobilienwerte sanken, was ein Problem war, weil sie eigentlich als Sicherheit hatten dienen sollen für Darlehen, die auf dem Weg der »Verbriefung« handelbar gemacht und weltweit verschickt worden waren. Und ich lernte, dass diese Verbreitung jener Schuldscheine (die mittlerweile auch Laien als Collateralized Debt Obligations oder CDOs kennen) das Risiko nicht streute, sondern wie eine Viruskrankheit die ganze Welt ansteckte.

Im November 2007, kurz bevor mein Spekulantenjahr begann, war ich mit Wolf und Bergold auf der Goldmesse in München verabredet, um das weitere Vorgehen zu besprechen. »Denken Sie nicht, dass ich einen Teil meiner Gewinne diversifizieren sollte?«, fragte ich sie, als ich endlich zu ihnen vorgedrungen war. Parallel zum Goldpreis waren die beiden in der öffentlichen Wertschätzung stark gestiegen. Anzugmänner zupften und zerrten an ihnen wie rumänische Waisenkinder an potenziellen Adoptiveltern.

»Diversifizieren ist immer gut«, sagte Wolf. »Aber beim Gold ist das Signal zum Ausstieg noch nicht da. Fundamental spricht alles für einen krassen Anstieg. Wenn wir uns in einem Jahr wiedersehen, wird eine Menge passiert sein.«

Wenn Diversifizieren »immer gut« ist, war die Frage nur: Was, außer Gold, würde in einem zusammenbrechenden Finanzsystem noch gut laufen? Hätte ich Anfang des Jahres bereits gewusst, wie man von sinkenden Bankkursen profitiert, hätte ich es vielleicht getan. Aber damals beherrschte ich diesen Trick noch nicht. Mangels besserer Ideen kaufte ich Call-Optionsscheine auf Gold und Goldminen, das sind »Finanzprodukte«, die überproportional von Kurssteigerungen profitieren. Nach meinem Besuch in Kurdistan kaufte ich außerdem, überzeugt von der »Irak-Story«, Aktien eines Hotels und einer Bank in Bagdad. Und ich ging eines Tages mit 7500 Euro in der Tasche ins Spielkasino, um mich gegen die Gefühle der Gier und der Angst zu desensibilisieren, die man angeblich im Griff haben muss, wenn man Geld an den Märkten verdienen will. (Ich behielt sie im Griff.)

Meine Spekulantenkarriere war gerade ein paar Monate alt, als mein Katastrophenszenario nach und nach Wirklichkeit wurde. Trotzdem lag ich summa summarum 2500 Euro im Minus. Wie konnte das sein? Seit Jahren war mir eingebläut worden, dass Gold von Krisen profitiere, nun aber sank sein Preis. Wie in einem schlechten Krimi tauchten mit einem Mal neue Faktoren auf, die das Geschehen beeinflussten und von denen anfangs keine Rede gewesen war.

Plötzlich hieß es, der Goldpreis hänge nicht nur mit dem Vertrauen in die Finanzmärkte zusammen, sondern auch mit dem Ölpreis, der zu jener Zeit bereits wieder im Sinken begriffen war (und der seinerseits mit hunderttausend, sich gegenseitig beeinflussenden Faktoren zusammenhing). Meine Verwirrung erreichte ihren Höhepunkt an dem Tag, an dem der Goldpreis um neun Euro abstürzte, was damit erklärt wurde, dass auch der Ölpreis gesunken sei, was wiederum damit erklärt wurde, dass die Firma Chevron eine Pipeline in Nigeria wieder in Betrieb genommen habe, wodurch das Angebot erhöht worden und somit der Preis gefallen sei. Hä?

Ich geriet in eine wochenlange Phase der Lähmung. Je mehr ich über die Märkte wusste, desto klarer wurde mir, was ich alles nicht wusste. Und dass Leute, die sich seit Jahren mit der Materie beschäftigten, genauso ratlos waren wie ich.

In der Financial Times, die ich mittlerweile täglich las, vertraten die einen jene, die anderen die gegenteilige Meinung, die dritte Fraktion wog beide Meinungen ab. Finanzmänner neigen nicht zu großspurigen Aussagen über die Zukunft. Wer in seinem Portfolio ständig sieht, wie oft er falsch gelegen hat, lernt schnell, den eigenen Vorstellungen zu misstrauen. So machohaft die Fondsmanager, die ich kennenlernte, sich geben mochten: Wenn man sie nach der Zukunft fragte, hatten sie alle etwas auffallend Demütiges, Mürbes, Vorsichtiges. Wie Männer eben, die schon viele Niederlagen erlitten haben.

Im August bekam ich Beileidsmails von meinen neuen Freunden. »Musste neulich an Dich denken«, schrieb der Irak-Fonds-Manager. »Sind keine einfachen Marktbedingungen für ein Projekt wie Deines.«

Ich rief den Finnen an: Konnte es denn wirklich sein, dass die Bankenkrise schon vorbei war? »Manche denken das. Andere haben Angst, dass wir das Schlimmste noch nicht gesehen haben«, sagte er düster. »Ein Großer könnte sich dieses Jahr noch verabschieden.« »Ein Großer?« »Eine große Bank.« »Also bleibe ich in Gold?« »Wenn ich du wäre, würde ich jetzt wirkliche Investitionen machen. In solide Unternehmen mit einem guten Geschäftsmodell.« »Ich glaube dir, Juha«, sagte ich, »jedenfalls was mein privates Geld angeht. Aber was mein Buchprojekt angeht, da habe ich einfach nicht mehr jahrelang Zeit.«

»Hör auf zu spekulieren und mach langfristige, solide Investments. Aktien von Unternehmen, die du gut kennst, solide Firmen. Warte auf eine wirklich schlimme Woche, wenn es die Märkte durchschleudert, und dann rein in den Markt.« »Es gibt keine Unternehmen, die ich richtig gut kenne, Juha.« Er schwieg. »Glaubst du denn, es schleudert die Märkte noch mal durch?«, fragte ich. »Es gibt Menschen, die das glauben«, sagte er geheimnisvoll. »Glaubst du, es wird bald passieren?« »Keiner kennt den Tag, Heike.«

Marktteilnehmer können ihre Entscheidungen nicht allein auf der Grundlage von Informationen treffen«, schreibt George Soros, einer der erfolgreichsten lebenden Spekulanten, der im Lauf dieses Jahres immer mehr zu meinem Vorbild wurde. Das Wissen der Handelnden sei immer unvollständig, sie neigten zu Fehlurteilen. Eigentlich wollte Soros damit das herrschende Paradigma vom perfekten Markt infrage stellen, der die Dinge besser regle als zum Beispiel der Staat. Mich befreite er damit von dem Zwang, alles verstehen zu müssen, ehe ich kaufte.

»Wenn man sehr rational ist und organisiert handelt«, sagte er einmal, »ist es schwieriger, reich zu werden, als wenn man fantasievoll und dynamisch ist. Wir leben nicht in einer perfekten Welt. Deshalb ist es nicht schlecht, wenn man selbst auch nicht so perfekt ist.« Wer würde sich da nicht wiedererkennen?

Wer investiert, muss sich klarmachen, dass seine Entscheidung immer auch eine Glaubensfrage ist, weil man niemals alles wissen kann. Und selbst wenn man mit seiner Einschätzung eigentlich richtiglag, kann man im Timing danebenliegen und in den Jahren des Darbens Mut und Geld verlieren. Falls sich also, wie in meinem Fall, die Dinge anders entwickelten, als man geglaubt habe, erklärte mir ein Fondsmanager, müsse man sich deshalb nur eine Frage stellen: »Hat sich an meinen Grundannahmen etwas geändert?« Falls nicht, gelte es vor allem: Haltung zu bewahren.

Ich stellte mir also die Gretchenfrage. Hatte sich an meinen Annahmen etwas geändert? Die Antwort war: nein. Ich glaubte weiterhin daran, dass alles noch viel schlimmer werden würde. Warum? Bauchgefühl.

Im August kaufte ich mir also ein Portfolio zusammen, mit dem ich Geld an Katastrophen und Krisen der Finanzwelt verdienen würde. Ich nannte es mein »Portfolio Miserabilis«. Es bestand aus Aktien von börsennotierten Pfandleihketten in England und Amerika, mit denen es in einer Krise ja nun wirklich aufwärtsgehen müsste, sowie einer Goldmine, weil ich von der Goldstory trotz aller Rückschläge nicht loskam.

In der Zwischenzeit hatte ich zudem gelernt, wie man von fallenden Aktien profitieren kann. Ich hatte sogenannte Put-Optionen gekauft, das sind Papiere, die steigen, wenn der Kurs – das Underlying –, auf den sie gesetzt haben, fällt. Auf diese Weise wettete ich gegen verschiedene Banken sowie gegen den britischen Aktienindex FTSE, weil ich gelesen hatte, dass der Wertverfall britischer Immobilien erst noch so richtig losgehen würde. Des Weiteren hatte ich noch Puts auf Versicherungen gekauft. Ein pensionierter Bankmann hatte mich auf die Idee gebracht.

»Haben Sie schon mal von CDS gehört, Credit Default Swaps?«, hatte der silberhaarige Gentleman zu mir gesagt, ein ehemaliger Deutschland-Chef einer amerikanischen Bank, der so nett war, mir hin und wieder ein bisschen Nachhilfe zu geben. Das war im Sommer, und ich hatte zu diesem Zeitpunkt gerade mal gelernt, was CDOs waren. CDS kannte ich noch nicht. »Das sind Kreditausfallversicherungen«, sagte er, während wir in einem Berliner Café Sahnetorte mampften. »Und wer bekommt jetzt als Nächstes Probleme?«, fragte ich in der Hoffnung auf neue Anlageideen. »Überlegen Sie sich einfach mal«, sagte er, »wer Credit Default Swaps bereitstellt.« Versicherungen!

Mein Portfolio Miserabilis war gerade ein paar Tage alt, als an einem Wochenende Mitte September über die Zukunft der angeschlagenen Investmentbank Lehman Brothers verhandelt wurde.

Den Montagmorgen verbrachte ich – in der Gewissheit, dass Lehman über Nacht einen Käufer gefunden hatte und meine Wette mal wieder nicht aufgegangen war – beim Zahnarzt in Charlottenburg und blätterte in der Financial Times. Neben mir telefonierte ein Typ, der plötzlich in meine Richtung sagte: »Lehman ist pleite.« Die lachsfarbene FT, die mir seit einem halben Jahr immer aus irgendeiner Tasche guckte, wurde von Männern im Allgemeinen so gedeutet, dass sie mich, halb flirtend, um einen Aktientipp bitten konnten. Meistens musste ich sie enttäuschen. Seitdem ich unter die Spekulanten gegangen war, steckte ich so tief in den Märkten, dass eine harmlose Frage bei mir einen zehnminütigen, Zeugen-Jehovas-artigen Vortrag über den drohenden Kollaps des Dollars, das Ende der Finanzwelt, die Geldmenge M3 und das Jahr 1929 triggerte.

An diesem Tag, beim Zahnarzt, hob ich nur kurz den Daumen, als ich von der Lehman-Pleite hörte. Der Mann neben mir telefonierte mit einem Geschäftspartner in London. »Hier hat offenbar jemand gegen Lehman gewettet«, sagte er und ging raus, weil er im Gegensatz zu mir offenbar nicht von den Weltläuften profitierte und erst mal eine rauchen musste.

Ich hielt zwar keine Puts auf Lehman, aber die Tatsache, dass die Regierung sich entschlossen hatte, die Investmentbank nicht zu retten, konnte nur bedeuten, dass die Aktionäre auch das Vertrauen in sämtliche anderen Finanzwerte verloren hatten. Die Börse, auch das hatte ich gelernt, reagiert in Zeiten von Panik selten differenziert, sondern nimmt gleich alle in Sippenhaft.

Und so war es auch. Als ich am Nachmittag dieses schwarzen Montags die Kurse überprüfte, war mein Portfolio Miserabilis dank der Puts innerhalb einer Woche um 800 Euro gestiegen. Die Gewinne auf den Aktienindex, 500 Euro, kassierte ich. Die Banken behielt ich. Ich ging weiter davon aus, dass alles noch schlimmer werden würde. Und tatsächlich kam am Tag darauf die amerikanische Riesenversicherung AIG in Schwierigkeiten.

Ende September flog ich nach London, um das Ende dieser fürchterlichsten Börsenwochen seit dem Crash von 1929 mitzuerleben. Es war acht Uhr morgens, und die Sonne schien weiß auf die gebeinfarbenen Fassaden des Londoner Finanzdistrikts. Ich stand am Ausgang der U-Bahn-Station Bank und beobachtete Männer in Nadelstreifen und Frauen in Kostümen der Größe Zero, wie sie die letzten Stufen ans Licht nahmen und in ihre Büros hasteten, vorbei an einem Zeitungsverkäufer, dessen Schlagzeilen sie schon kannten: »Zentralbanker schlagen zurück«, stand auf der Titelseite der Financial Times. Am Abend zuvor hatte die britische Finanzbehörde das Shortselling für 29 Aktien aus dem Finanzbereich verboten, also das Spekulieren auf deren fallende Kurse.

Dank des neuen Gesetzes wussten nun auch die Leser von Boulevardzeitungen, wie eigentlich das Wunder funktionierte, Geld an fallenden Kursen zu verdienen: Spekulant leiht sich eine Aktie von großem Investor und zahlt dafür eine Gebühr. Dann verkauft er das Papier in der Hoffnung, es später, nachdem die Preise gefallen sind, billiger zurückkaufen (und zurückgeben) zu können. Die Differenz ist des Spekulanten Gewinn. Und natürlich trägt er mit seinen Verkäufen dazu bei, den Preis weiter zu drücken.

»Jetzt bluten die Hedgefonds«, schrieb eine Boulevardzeitung. (Konventionellen Fonds war das Selling nur in gewissen Grenzen erlaubt. Deshalb wurden vor allem die offshore, also in unregulierten Südseeparadiesen registrierten Hedgefonds für die Kursstürze verantwortlich gemacht.)

Ich war in London mit dem Manager einer kleinen Investmentfirma verabredet, der sich bereit erklärt hatte, mich ein paar Tage beim Handeln zuschauen zu lassen. Die Firma, SVS Securities, verkaufte irgendein neuartiges »Finanzprodukt«, mit dem vor allem Privatanleger von »Kursdifferenzen« profitieren konnten. Ich verstand nicht genau, welch ein Konstrukt das sein sollte, war aber dankbar, dass es in so einer Woche in der »City« überhaupt Leute gab, die mit mir reden wollten. Das Büro war im Erdgeschoss eines zweistöckigen Altbaus, umstellt von Bürohochhäusern. Torben Friis, der Manager, holte mich am Empfang ab. Im Vorbeigehen öffnete er für mich kurz die Tür zum »Trading Floor«: Ich sah junge Männer in weißen Hemden, die stehend telefonierten, Geschrei, Gewusel. Dann schloss er den Raubtierkäfig schnell wieder, und wir gingen in einen Park um die Ecke, um die Ereignisse des noch neuen Tages zu besprechen.

»Geld ist wie Wasser, es findet immer einen Weg zu laufen«, sagte er zum Shortselling-Verbot, mit dem verhindert werden sollte, dass den Bankaktien weiter Kapital entzogen wurde. Torben war Däne, und er bestand darauf, deutsch mit mir zu sprechen, was sich bei Dänen immer ein wenig kindlich anhört. Mir war es recht, so konnte er zumindest nicht in Fachjargon verfallen. »Seit heut Nacht gibt es blöde Regel von die Behörde«, erklärte er das neue Gesetz. »Ich weiß«, sagte ich. »Ich habe auch gegen Banken gewettet.« Er grinste anerkennend. »Du bicht auch short?« »Na ja, nicht in großem Stil«, sagte ich und erzählte ihm von meinem Portfolio Miserabilis. Trug ich mit meinen Put-Optionen denn tatsächlich eine Mitschuld an den fallenden Kursen? »Möglich«, sagte Torben.

Musste auch ich verkaufen? »Alle Short-Positionen muss bis Dienstag geschlossen werden. Kann sein, du bekommst E-Mail von deine Bank, dass sie muss leider deine Opchion verkaufen. Ist wie immer: gut für Bank als Mittelmann, schlecht für die Kunde.«

Bei meinen Gesprächen mit Finanzmännern hatte ich noch keinen getroffen, der nicht voller Kritik für »das System« gewesen wäre. Die Banker: inkompetent, gierig, arrogant; die Zentralbank: eine Gelddruckmaschine; Greenspan: an allem schuld; das Geld selbst: zunehmend wertlos.

Als ich begonnen hatte, mich auf die Märkte zu begeben, hatte mich diese Selbstzerfleischung überrascht. Mittlerweile fand ich sie plausibel. Die meisten Leute sprechen schlecht über die eigene Branche, schließlich wissen sie am besten, was alles schiefläuft und wie es besser laufen könnte. Wenn nur endlich irgendwer auf sie hören würde.

Am Vorabend war ich mit meinen Puts 20 Prozent im Plus gewesen. Dass ich ausgerechnet in einem Moment verkaufen sollte, in dem es, dank des neuen Gesetzes, mit den Märkten – kurzfristig? – aufwärts- und mit meinen Optionen abwärtsging, war tatsächlich nicht in meinem Interesse. Torben saugte gedankenverloren an seinem Kaffeebecher. Er trug einen braunen Anzug und an den Füßen eine Kreuzung aus Budapestern und Cowboystiefeln: Sie hatten die Lochnähte von Budapestern, liefen aber vorne spitz zu. Ich wusste nicht, ob er einfach nur einen ausgefallenen Geschmack hatte oder ob sein Outfit etwas Rebellisches, Außenseitermäßiges signalisieren sollte. Er ließ sich einen kurzen Bart stehen, hatte klare blaugraue Augen und einen offenen, fast unschuldigen Blick. »Financhystem ist vielleicht kaputt«, sagte er.

Im Raubtierkäfig war die Stimmung gut. Dank des Shortselling-Verbots und eines neuen Rettungsplanes des US-Finanzministers stiegen die Kurse wieder. Torbens Chefhändler hatte seine sechs Mitarbeiter angewiesen, einzusteigen und nach wenigen Stunden wieder zu verkaufen.

Er hieß Tim, und er strahlte. »Wir machen heute Range Trading«, sagte er. »Rein – raus, rein – raus. Bis jetzt hat es ziemlich gut funktioniert. Wir haben seit heute Morgen für unsere Kunden etwa 360000 Pfund gemacht.«

Es war elf Uhr vormittags. »Den Gewinnen nach war heute vielleicht sogar unser bester Tag. Wir waren heute Morgen long in Finanzwerten«, sagte er. »Ich bin ja leider short«, sagte ich. »Kein Problem. Der Aufschwung wird sich wieder legen«, sagte Tim. »Ist nur eine kurze Rally. Ich glaube nicht, dass der Markt schon seinen Boden erreicht hat. Kann sein, dass es Anfang nächster Woche erst mal aufwärtsgeht, aber früher oder später…« Er schüttelte den Kopf. »…wird alles zusammenbrechen?« »Nun, der Konsens ist: ja. Das Schlimmste ist noch nicht vorbei.«

Aber fürs Erste stiegen die Kurse. Dem amerikanischen Kongress war gerade das 700-Milliarden-Dollar-Hilfspaket für die Banken vorgelegt worden. Woher nehmen die Amerikaner eigentlich dieses Geld? Diese Frage stellte ich Rob Hain, der in London eine »Fonds-Boutique« betreibt. Er lachte: »Indem sie es drucken. Man nennt das Inflation.«

Das Thema war mir, dank der beiden Bayern, natürlich schon öfter begegnet. Es gibt eine Schule der Ökonomie, die glaubt, dass Inflation entsteht, wenn die staatlich ausgegebene Geldmenge stärker wächst als das Bruttosozialprodukt. Wenn also mehr Geld da ist als Waren. Das eine abzüglich des anderen ergibt die Geldmenge M3. (Es gibt natürlich auch andere Denkrichtungen: Keynesianer zum Beispiel rechnen eher mit einer Deflation.) »M3 steigt seit Jahren krass«, hatten die beiden Bayern immer gesagt. »Dann zahlen die Kleinen.«

»Es gibt kein schlimmeres Gift für den sozialen Kitt als Inflation«, sagte Hain, als wir in London bei Starbucks Kaffee tranken. »Keiner weiß, wo sie herkommt, am Ende werden Spekulanten oder andere Länder verantwortlich gemacht, und sie trifft die Armen am stärksten.« Dann sagte er eindringlich: »Reservieren Sie Ihr letztes Kapitel für das Thema Inflation.«

Ein paar Tage später, bevor die G8 mir mit einem weiteren Rettungspaket meine Strategie verhageln konnten, verkaufte ich meine Puts. Alles in allem hatte ich seit der Lehman-Krise 1400 Euro verdient.

Wirtschaftskrisen sind nicht gut für den Kopf, selbst wenn man zu den Krisengewinnlern gehört: In diesen Herbstwochen sehe ich überall Zeichen des Untergangs, vielleicht weil das Gehirn versucht, im Alltag eine Entsprechung für die abstrakte Katastrophe zu finden, von der ich täglich lese.

Zurück in Berlin, will ich in England anrufen und komme nicht durch. Im Supermarkt geht die Tür nicht auf, als ich hinauswill. Aus dem S-Bahnhof Hackescher Markt fährt kurz nach Mitternacht eine S-Bahn, ein Waggon ist von außen versiegelt, drinnen brennt das Licht, und die Sitze sind mit einer weißen Staubschicht überzogen. Ich gehe weiter, und auf der Treppe nach unten steht ein einsamer alter Koffer mit Holzleisten, der aussieht, als hätte ihn jemand vor langer Zeit hier stehen lassen, 1929 vielleicht. Als ich später nach Hause komme, sitzen im Treppenhaus Marienkäfer, die kaum noch vom Fleck kommen, und ich weiß nicht mehr, ob es so ist, dass Marienkäfer im Winter sterben, oder ob dieses Phänomen irgendwie auf das Ende von etwas hindeutet, das Ende eines langen, großen, wunderbaren Wohlstandszyklus.

Mein Leben lang habe ich Katastrophen so weit wie möglich ignoriert, getragen vom Urvertrauen der Generation Golf, dass die da vorne am Steuer schon alles richtig machen werden. Nun setzt mir nicht nur die tägliche Überdosis an lachsfarbenen Horrornachrichten zu, sondern auch die Dissonanz zwischen diesen Meldungen und dem, was ich sehe. Überall heißt es, dass es noch ein wenig dauern wird, bis wir die Krise spüren, bis das Virus von der »Finanzindustrie« auf die »Realwirtschaft« überspringen wird, bis die Kredite teurer werden und die gesunkene Einkaufslibido der Leute sich auf Produktion, Arbeit, Gesundheit, Wahlentscheidungen auswirken wird.

Noch sitze ich im Café Einstein mit einem befreundeten Paar, wir essen Fisch an geschäumtem Gemüse, und ich verstehe nicht, wieso uns daran »das Finanzsystem« in Zukunft hindern sollte. Wieso können nicht, denke ich, einfach alle ihre Arbeit machen wie bisher?

Die Leute, mit denen ich esse, sind wohlhabend. Sie haben eine Villa und ein kleines Unternehmen. Sie sind beunruhigt, wollen meine Meinung hören, weil sie denken, ich verstünde etwas von diesen Dingen, da ich schon letztes Jahr ab und zu vom Banken-Armageddon gesprochen habe. »Ich bleib in den Aktien«, sagt er, der sich seit Jahrzehnten um sein Geld kümmert und von diesen Dingen sehr viel mehr Ahnung hat als ich. »Daimler, VW, das verschwindet doch nicht einfach in einer Weltwirtschaftskrise.« Ich habe nicht gehört, ob das am Ende des Satzes ein Ausrufezeichen war oder ein Fragezeichen, und hebe nur die Schultern, womit ich sagen will: Wer weiß das schon? Die beiden schauen mich alarmiert an. Ich muss lachen und sage: »Ich hab doch auch keine Ahnung, Leute.«

Später an diesem Montag steigen die Kurse wieder: Zinssenkungen und ein »Aktionsplan« der G8-Regierungen zeigen Wirkung. Mein Gefühl sagt mir, dass hier Feuer mit Feuer bekämpft wird. War nicht das überschüssige Geld genau das Problem?

Und wenn die Inflation kommt, was wäre dann zu tun? Ich ertappe mich bei dem Gedanken, mir nächstes Jahr eine Eigentumswohnung zu kaufen, einfach nur um meine Ruhe zu haben. Aber dann fällt mir ein, dass diese Wohnung dann in der Hauptstadt eines verfallenden Industriegiganten der westlichen Welt stehen würde und dass auch Eigentumswohnungen ihren Wert verlieren können.

Das Schlimme am Investieren ist, dass es nie aufhört. Das ist auch der Grund, vermute ich, warum ich noch nie von einem Multimillionär gehört habe, der sich mit, sagen wir, 20 Millionen zufriedengegeben und seine Zeit den Kindern oder einem wohltätigen Zweck gewidmet hätte. Es ist ein Unglück des Menschen, dass man seine Zufriedenheit immer nur an sich selbst messen kann, denke ich, und deshalb sind die Wünsche der meisten Menschen grenzenlos, und deshalb hängen Glück und das Gefühl von Sicherheit oder Optimismus nur zu einem so geringen Grade von dem ab, was man hat, sondern von dem, was man gestern hatte.

Und ich vermute, dass ich, wenn ich nur ein wenig weiterdenken könnte, etwas sehr Profundes über die condition humaine begreifen würde, über den Zen-Weg der Geldvermehrung. Aber ich kann nicht weiterdenken, ich muss weiterhandeln, muss neue Puts kaufen, von dem Geld, das gerade frei geworden ist, denn die Gelegenheit ist günstig, und bevor das Jahr zu Ende geht, will ich im Plus sein.

Erschienen in: „Die Zeit“ am 30. Oktober 2008