Frau Meer schreibt keine Briefe mehr

Von Christian Muggenthaler

Das Private nimmt in der Gesellschaft immer mehr Raum ein, aber es analphabetisiert sich zugleich

Finster? Was war denn am Mittelalter eigentlich so finster? Besonders grausam war es beispielsweise schon einmal nicht. Jedenfalls nicht grausamer als alle anderen Zeiten davor und danach auch. Die Lichtarmut rührt auch nicht unbedingt von einem Mangel an Zivilisation her. Denn nach dem Zusammenbruch des wohlorganisierten Römischen Reichs in der Zeit der Völkerwanderung erfand sich Zentraleuropa rasch neu, benutzte auch antike Traditionen und setzte aus diesem Zusammenfluss eine neue Kultur zusammen: In der vor kurzem neu eröffneten Mittelalterabteilung des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg ist die Großartigkeit dieser Kultur deutlich zu sehen.

Gar nicht finster also, dieses Mittelalter. Ganz im Gegenteil. Wenn man sich den Blick nicht durch heutige Sehweisen verstellt, so war das Mittelalter genau wie alle anderen Zeiten produktiv, modern, ganz und gar nicht statisch und immer wieder auch revolutionär. Woher kommt also dieser oft konstatierte Mangel an Licht? Es ist eine Armut an Schrift! Es ist die Nachrichtenlosigkeit, die uns weite Zeiträume so fern erscheinen lässt. Es gibt nur relativ wenige schriftliche Quellen, die uns darüber aufklären könnten, wie es damals war. Und es gibt praktisch überhaupt keine, die uns zeigen könnten, wie der Alltagsmensch gelebt, gehandelt, gedacht hat. Er kommt in der Erinnerung gar nicht vor.

In der Finsternis

Das finstere Mittelalter ist mithin finster, weil es eine größtenteils mündliche und rituelle Kultur war, eine des Analphabetismus’, in der die Kunst zu lesen und zu schreiben sich phasenweise auf regelrechte Kulturinseln zurückgezogen hatte: in die Schreibstuben der Klöster. Das macht es dem Historiker schwer, sein Handwerk zu betreiben, da er doch zum allergrößten Teil auf Schriftquellen angewiesen ist. Geschichtsschreibung hat, so steckt’s im Wort, etwas mit dem Schreiben zu tun, und wo das Schriftgut rar ist, bleibt auch die Erinnerung schwach: als ob man mit einer Hals-Nasen-Ohrenarzt-Stablampe eine gigantische Tropfsteinhöhle erforschen wolle.

Die weitere Entwicklung der Geschichte ist dann die flutartige Steigerung des Schrifttums, bis die Archive überquollen. Schon vom späten Mittelalter an lappt die Sache zunehmend ins Unübersichtliche: Man badet seitdem in einem Buchstabensuppenmeer. (Ob das dann immer auch ein Mehr an Inhalt ist, ist eine ganz andere Frage.) Und wenn die Wörter dann schon einmal mehr und gewichtiger werden, beginnt auch rasch die Angst vor ihnen – allerspätestens seit dem Beginn des Buchdrucks.

Einst war die Kunst des Schreibens wenigen vorbehalten, dem Adel, der Kirche, dem gehobenen Stadtbürgertum. Wenn aber erst einmal Kreti und Pleti das Lesen und Schreiben als Schlüssel zur Erkenntnis beherrschen, dann wird’s rasch eng auf den Machtgipfeln. Denn wer liest, denkt; wer denkt, zweifelt; und wer zweifelt, trachtet nach Veränderung. So kam es, dass die Machthaber in wachsender Verzweiflung versuchten, den gärenden Buchmarkt mit Zensurmaßnahmen zurechtzuhacken, um ihre Positionen zu halten – vergeblich. Der Württembergische Herzog Karl Eugen beispielsweise hat seinem Landeskind Friedrich Schiller mal eben so die Poesie verboten – und er schrieb trotzdem seine „Räuber“.

Das alles war einmal. Heute stehen wir am Beginn einer neuen dunklen Zeit. Wir betreten die dunkle Neuzeit. Denn wenn dermaleinst – so sich die Menschheit nicht vorher der eigenen beraubt hat – in 500 Jahren ein Geschichtswissenschaftler beispielsweise das Jahr 2008 näher ins Auge fassen will, wird er feststellen müssen, dass es ihn anschweigt. Zwar werden ihm allerhand offizielle Quellen zur Verfügung stehen, Druckerzeugnisse von der Tageszeitung bis zur Stabmixerbedienungsanleitung. Aber der Alltagsmensch hinterlässt schon heute so gut wie keine handfesten Erinnerungsspuren mehr.

Die Not der Biografen

Versetzen wir uns einmal in die Situation eines handelsüblichen Biografen: Die Lebensgeschichte von Frau Meer will Herr Knurr erzählen. Die hat, sagen wir einmal, von 1888 bis 1955 gelebt, zunächst in Freyung im Bayerischen Wald, dann in München, schließlich als Exilantin in Shanghai und zuletzt in Philadelphia in den USA. Sie hat, nehmen wir weiters einmal an, ein gutes Dutzend expressionistischer Theaterstücke geschrieben, die selten gespielt werden. Viel zu selten, findet Herr Knurr, und erforscht Frau Meerens Lebensweg. Eine entfernte Deggendorfer Verwandte der Meer – Knurr hat sie alle abgeklappert – hat auf ihrem Speicher zwei Koffer stehen, in denen ein großes Bündel Schreibhefte lagert und ein Paket Briefe. Und im Philadelphia Museum for Literature findet sich die restliche Hinterlassenschaft der Autorin, die von ihrer letzten Freundin dorthin verschenkt wurde.

Was ist da also nicht alles neben den Stücken! Allerlei Paralipomena beispielsweise, in den Endfassungen nicht benutzte Textpassagen der Stücke. Die Tagebücher, in Deggendorf die bis zur Flucht aus Deutschland, in Philadelphia die amerikanischen, die dazwischen sind verloren. Und dann gibt es da die zahlreichen Briefe, die Auskunft geben über den Alltag der Meer, über ihre Lust zu reisen und ihre Probleme zu lieben, über ihre Zweifel an ihren Stücken und den zeitweilig aufwallenden Triumphgefühlen über die an sich selbst entdeckte Genialität – Strohfeuer meist. Das alles erführe Herr Knurr aus den schriftlichen Hinterlassenschaften der Frau Meer, so es sie denn gegeben hätte. Er läse, was sie geschrieben hat, und ihm rundete sich das Bild einer Dame des Worts.

Lebte Frau Meer aber heute, gäbe es ihr Leben schon in 50 Jahren nicht mehr. Frau Meer schreibt keine Briefe mehr. Sie schreibt stattdessen E-Mails und verschickt SMS über ihr Mobiltelefon. Und löscht sie alle wieder, wenn der Speicher voll ist: Auf derlei Speichern bleibt nichts mehr stehen, keine Koffer, keine Hefte, keine Inhalte. Sie führt auch kein Tagebuch, sondern sie bloggt. Das ist schön und unterhaltsam, zugleich aber auch an die Gegenwart verschwendet. Und all die Daten, die gespeicherten, gesicherten, sind bald weg und verschwunden: Sei es, dass das Speichermedium allmählich versagt, sei es, dass die fünftnächste Computergeneration es einfach nicht mehr lesen kann. Von Frau Meer bleibt nichts mehr. Und dabei ist sie ja noch Schriftstellerin. Anderswo ist die Entschriftung des Lebens schon viel weiter vorangetrieben! Natürlich hat auch früher nicht jeder geschrieben, aber die, die es taten, taten es bleibend.

Das Private hinter dem Offiziellen nimmt in der Gesellschaft immer mehr Raum ein, zugleich wird dessen schriftliche Basis immer geringer. Es analphabetisiert sich. Es findet derzeit eine massive Vergegenwärtigung der Existenz statt, die für die Zukunft keinen Platz mehr lässt. Die Speicherkapazität unserer privat betriebenen Kommunikation reicht nicht für sehr lang. Danach wird alles, was wir gedacht, mitgeteilt, was wir uns erarbeitet und ersonnen haben, für immer verschwunden sein, sofern es nicht ausgedruckt, hingeschrieben, festgedengelt ist. Wer auch immer in der Zukunft Biografien und Alltagsgeschichte schreiben will, wird ein ganz, ganz großes Problem haben.

Rückgang des Schriftlichen

Besagter Analphabetisierungsprozess beschränkt sich nicht auf den raschen Rückgang schriftlicher Hinterlassenschaften. Es kommt noch dicker. Denn in einer Welt großer Medienvielfalt verliert die Eigenleistung in der Kommunikation deutlich an Wert. Natürlich ist die Einrichtung von – weltweiten – Chatrooms ein großer Vorteil gegenüber früheren Zeiten. Aber zugleich ist es andererseits eigentlich gar nicht mehr nötig, das Gespräch mit jemandem anderen zu suchen – und vielleicht auch noch aufzustehen und vor die Haustür gehen zu müssen –, wenn Fernsehgerät und Internet eine gemietete Fremdkommunikation ins Haus bringen.

Und während sich ältere Menschen vielleicht noch fragen, weshalb man mit einem Telefon eigentlich fotografieren können muss, sind die jüngeren da schon viel weiter: Es gibt neben der gleitenden Entschriftlichung der Privat- und Alltagskultur eine parallel dazu stattfindende Zunahme der Visualisierung – übrigens ähnlich wie im schriftlosen Mittelalter. Man lässt Bilder sprechen. Handyfotografie ersetzt das Handgeschriebene. Die Sprache ist als Mittel der Kommunikation in der Defensive gegenüber dem Bild; nicht wer schreibt, bleibt, sondern wer filmt und fotografiert. Von dorther kommt auch der Hang, im Fernsehen ohne jegliches Schamgefühl selbst das Privateste von sich preiszugeben. Es hat auf dem Weg zur Visualisierung von Inhalten vor allem durch das Privatfernsehen ein erstaunlicher Umschwung vom Heimlichen zum Öffentlichen stattgefunden.

Wer Dinge aufschreibt, wird zwangsläufig immer auch darauf achten, dass man das Geschriebene erneut lesen kann. Die Absichten sind dabei unterschiedlich, die Absicht ist beispielsweise Mitteilung im Brief oder Erinnerung im Tagebuch. Geachtet wird jedenfalls vom Schreibenden stets auch auf den dokumentarischen Charakter des Geschriebenen für sich selbst oder andere. Das macht den Schreibenden vorsichtig in der Formulierung. Was liegt, das pickt. Verschnellert sich die Kommunikation und verliert sie ihren Erinnerungscharakter, kann man mit Form und Inhalten viel schlampiger – und eben auch schamloser – umgehen. Es entwickeln sich E-Mail und SMS-Sprachen, die rasch auf einen Punkt kommen, der ebenso rasch wieder vergessen ist.

Kein Grund, wehzuklagen

Schrift und Sprache sind in der Moderne in Zentraleuropa schwer erkämpftes zivilisatorisches Allgemeingut geworden, an dem sich jeder bedienen kann – so er denn will. Deren Bedeutung ist aber Veränderungen unterworfen, so wie Kommunikation sich insgesamt laufend wandelt. Festzustellen ist eine rasante Abnahme später verwertbarer Dokumentation privaten Lebens in der heutigen Form. Ein Grund, wehzuklagen, ist das alles allerdings nicht. Denn mit Veränderungen – gleich welcher Art – hat die Geschichtswissenschaft ohnehin stets zu tun. Ohne Veränderungen gäbe es keine Geschichte.

Erschienen in: „Straubinger Tagblatt“ / „Landshuter Zeitung“ am 6. September 2008