Ich habe vor Niemanden Angst

Von Anita Blasberg

Yvette, 14 Jahre alt, ist mehrfach angezeigt wegen Beleidigung, Diebstahl und Körperverletzung. Bericht aus einer Parallelwelt

Immer wenn sie wütend wird, soll sie sich konzentrieren, haben ihr die Sozialarbeiter gesagt. Dann soll sie sich einen Kreis auf dem Boden vorstellen und einen Schritt nach vorne machen, hinein in diesen Kreis. Dort soll sie Luft holen und an etwas denken, das sie mag. Eins, zwei, drei. Und wenn sie sich beruhigt hat, soll sie wieder aus dem Kreis heraustreten.

Yvette (Alle Namen der Minderjährigen von der Redaktion geändert) sagt, sie denkt dabei meistens an ihren Computer, manchmal auch an ihr Handy. Doch das klappt nur zu Hause in der Wohnung, draußen klappt es nicht. Da gibt es ja so wenig Platz für einen Kreis. Aber es gibt viele Dinge, die sie wütend machen.

So wie Lena neulich, die ist zwölf. Lena hat sie vor der Schule eine Hurentochter genannt, da ist Yvette ausgerastet. Sie hat Lena gepackt und an den Haaren zu Boden gerissen, dann hat sie ihren Kopf hin und her geschlagen. Sie hat ihr Backpfeifen verpasst und ihre Finger nach hinten umgeknickt. Dann hat sie ihr eine Kippe ans Haar gehalten und ihr in die Fotze getreten, sagt Yvette. Lena war petzen, auch deshalb ist Yvette heute lieber nicht in der Schule.

Es ist drei Uhr nachmittags, Yvette streift mit müden Augen durch das Gesundbrunnen-Center, einen grauen Einkaufsklotz, der wie ein gigantisches Flughafenterminal im Westberliner Arbeiterbezirk Wedding thront. Hier hängt sie oft rum, bei H&M und Rossmann, bei McDonald’s und vor dem Zoo-Shop. Wenn sie wieder mal nach der zweiten Stunde abgehauen ist, weil sie müde war, weil sie rausgeflogen ist oder weil sie einfach keine Lust mehr hatte.

Yvette hat inzwischen zwölf oder dreizehn Anzeigen, aber so genau weiß sie das nicht. Wegen Körperverletzung, Beleidigung, Diebstahl. Man könnte behaupten, Yvette sei außer Kontrolle. Yvette ist nur eine von vielen, sagen ihre Lehrer. Aber weil sie am härtesten sei, gelte sie unter den Schülerinnen als Vorbild. Junge Mädchen werden immer brutaler, zeigt die Statistik des Bundeskriminalamtes, aber keiner weiß, warum; ihr Anteil an der Jugendkriminalität hat sich in den letzten 15 Jahren vervierfacht, aber niemand hat ein Rezept dagegen. Es ist, als sprächen sie eine fremde, neuartige Sprache.

An diesem Nachmittag ist Yvette gerade erst aufgestanden und gähnt. Sie ist mitten in der Nacht vor einem Gruselfilm eingeschlafen, also hat sie in ihren Klamotten gepennt, mit Haarspray im Haar und den Silbercreolen am Ohr. Sie trägt Ballerinas und eine Jogginghose mit dem goldenen Schriftzug »Cheerleader«. Über ihrer Schulter baumelt ein Umhängebeutel, darin eine Haarbürste, ihr Handy und die Monatskarte, auf der sie sich zwei Jahre älter gemacht hat. »Ich seh in meinem Perso aus wie zwölf, Mann«, sagt Yvette.

Yvette ist 14 und trägt Pferdeschwanz, sie hat ein fein geschnittenes Gesicht und eine Zahnlücke, wenn sie grinst. »Was macht ne Blonde, wenn ein Feuer ausbricht?«, fragt Yvette, dann lacht sie dreckig und rotzt auf den Boden. »Sie drückt am Computer die Löschtaste.« Sie kann sich gut Witze merken und Rapsongs, und am liebsten läuft sie mit federnden Schritten über die Straßen und sammelt Reaktionen. Sie schnorrt Zigaretten, rempelt Leute an. Ab und zu wirft sie prüfende Blicke in die Schaufensterscheiben.

»Ich bin stärker als die meisten«, sagt Yvette, »ich hab vor niemandem Angst.« Neulich hat sie ihre Lehrerin an der Bushaltestelle getroffen, es war dunkel, Yvette drückte ihr ein Snickers in den Rücken. »Die hielt das für ein Messer«, sagt Yvette und grinst.

Die Jungs in der Schule nennen sie Mannsweib. »Du bist kein Mädchen«, sagen sie, »du bist ein Kerl.« – »Und du bist kein Mensch«, sagt Yvette, »du bist ein Hund. Hunde müssen draußen bleiben.« – »Deine Mutter lutscht Schwänze«, sagen sie dann. »Und deine Mutter kriegt gar keine Schwänze ab«, erwidert sie. Yvette hasst es, wenn andere das letzte Wort haben.

Was sie außerdem hasst: »die Lehrerin mit dem breiten Arsch – da braucht der Mann ne Landkarte für, Tokio Hotel – davon bekommt man Ohrenkrebs, Tussis aus Schöneberg, die dumm gucken, Kinderficker, die mir hinterherglotzen, kiffende Gymnasiasten und Sozialarbeiterinnen, die gestelzt daherschwätzen«.

»Wie geht es dir heute, Yvette?«, fragt eine immer, und wenn sie dann antwortet: »Mir geht es scheiße«, fragt die Sozialarbeiterin: »Yvette, muss das sein?« – »Ich hasse dich«, sagt Yvette dann. Und die Sozialarbeiterin sagt: »Das meinst du nicht ernst, oder?« – »Klar mein ich das ernst«, sagt Yvette.

Machen Sie sich auf Beleidigungen gefasst, hatte die Sozialarbeiterin vor der ersten Begegnung gesagt, und Yvette hatte am Telefon genuschelt: »Wenn Sie Scheiße schreiben, landen Sie auf dem Friedhof.«

Es war nicht leicht, Yvette überhaupt zu treffen. Zu unserer ersten Verabredung erschien sie nicht, bei der zweiten kam ihr was dazwischen, bei der dritten gab sie mit reizendem Lächeln die Hand. Sie saß mit ihrer Freundin Kathleen in einer türkischen Bar im Wedding, vor ihnen eine Wasserpfeife, um sie herum Männer mit Bärten. Yvette bestellte eine Cola-Light, sie sagte bitte und danke. »Is ja ein Opablatt«, sagte sie, nachdem sie das ZEITmagazin durchgeblättert hatte. »Wie viel verdienen Sie? Sind Sie Deutsche? Haben Sie Angst vor mir?« Dann zückte sie ihr Handy und spielte die neueste Köpfung aus dem Irak ab.

Es war ein regnerischer Tag im Juni, bald sollte es Zeugnisse geben, und Yvette war wieder mal suspendiert. Wegen der Sache mit Lena, vielleicht aber auch wegen dieses Videos. Sie hatte es im Mathe-Unterricht gedreht, darin zoomt sie auf die Beine ihrer Lehrerin, und aus dem Off tönt ihre Stimme: »Oho, sexy Beine!« Am ersten Schultag hatte die Lehrerin sie begrüßt mit den Worten: noch so ne Tussi. »Tussi« ist so schlimm wie »Opfer«. Seitdem ist sie bei Yvette unten durch. »Guck doch mal, wie du aussiehst«, hatte Yvette erwidert: »Du bist fett und läufst in Säcken rum.«

Yvette scannt Menschen und Situationen blitzschnell. Und wenn sie will, trifft sie genau den wunden Punkt. Yvette geht in die Siebte, ihre Freundin Kathleen in die Neunte. Aber sie sind Blutsschwestern, sie haben sich gemeinsam die Arme geritzt und sie dann aufeinandergedrückt. In der Schule hat Kathleen heute einen Songtext geschrieben, in dem es um ein Mädchen geht, das einen Jungen in die Wüste schickt, weil er »eh nur ficken will«. Ficken und dann weiterschicken. Daneben hat sie notiert: »Der Sturm und Drang – Menschen, die die Widersprüche ihrer Zeit erleiden.« Im Moment muss Kathleen einmal in der Woche auf einen Bauernhof, wo sie Sozialstunden ableistet, weil sie einem Typen das Trommelfell zertrümmert hat. Er wollte nicht hören. Deshalb hat sie seinen Kopf gegen einen Eisenpfahl geschlagen. »Wir Mädchen haben die Oberhand«, sagt Kathleen, deren Mutter Sozialpädagogik studiert. »Wir sind ehrlicher, klüger und krasser.«

»Fresse, du Missgeburt«, sagt Yvette, wenn einer ihr querkommt, und wer nicht hören will, muss fühlen. Bei ihnen an der Schule prügeln sich alle, sagt Yvette. Am beliebtesten sind Elternbeleidigungen, das zieht immer, aber es reicht auch, wenn man jemanden findet, der dumm guckt. Lehrerfertigmachen ist ein Sport, Hausaufgaben machen nur ein paar Streber. In Deutsch geht es gerade irgendwie um Adjektive, sagt Yvette, aber so genau hört sie nicht zu. Die Lehrer sind überfordert, und wenn ein Schüler randaliert oder zu spät kommt, fliegt er eben raus.

Warum macht ihr das? Langeweile, sagt Yvette. Was Yvette auch noch macht, wenn ihr langweilig ist: im Einkaufscenter mit dem Zipper eines Reißverschlusses Toilettentüren öffnen und Leute erschrecken, im Bus rauchen, bis der Fahrer sie rauswirft, mit Kathleen auf Chathouse.de ältere Jungs verarschen.

Yvette schläft heute bei Kathleen, wahrscheinlich werden sie wieder chatten, bis es hell wird. »Wir sehen voll geil aus«, werden sie schreiben, »wir sind 17, tragen Miniröcke und haben Locken bis zum Arsch.« Und wenn die Jungs fast platzen, bestellen Yvette und Kathleen sie zu jemandem, den sie nicht mögen.

In internen Schulvermerken heißt es bezüglich der Schülerin Yvette K.: »Ihre Stärken sind: Eine schnelle Auffassungsgabe. Kann sich gut und zusammenhängend ausdrücken. Saubere und übersichtliche schriftliche Form. Ihr vorzuwerfen ist: Ständiger Verstoß gegen Regeln. Extrem anmaßender Ton. Ständige Beleidigungen und Lügen. Tätliche Angriffe gegen Schüler. Fehlzeiten. Mehrmalige Suspendierung.«

Yvette weiß, dass sie sich anstrengen muss, die Rektorin hat ihr mit Verweis gedroht. »Hauptschule ist scheiße, Sonderschule noch beschissener.« Sie will nicht im Heim landen, auch nicht auf der Straße, wie dieser Penner, der sie auf dem Heimweg um Geld anbettelt. »Der is so dünn«, sagt Yvette. »Der is voll arm dran.« Yvette hat oft Mitleid. Sie klatscht keine Schwächeren, »die können sich nich wehren«, Omas würde sie nie abziehen, und immer wenn sie einen Hund sieht, muss sie stehen bleiben und ihn streicheln.

Yvette sagt, sie will Tierpflegerin werden. Wegen Herrn Dörflein, dem Pfleger von Knut. Oder Hotelfachfrau, zum Beispiel in Dubai, in die Sonne, viel Geld verdienen. Ein paar Brocken Arabisch kann sie schon, und die Hälfte der Kohle würde sie zu Oma und Opa in den Wedding schicken.

Wenn sie Angela Merkel wäre, würde sie: »Alle Drogendealer und Vergewaltiger in den Knast stecken.« Sie würde die Todesstrafe einführen, Hartz IV erhöhen, den Klimawandel rückgängig machen und Feuerwehrmänner besser bezahlen. Sie würde ihre eigene Faulheit abschaffen, ihre Schlägereien und dafür sorgen, dass sie keinen Scheiß mehr baut.

Einmal hat sie mit einer brennenden Packung Tempos den Busch neben ihrer Schule angezündet – einfach so, um zu sehen, was passiert. Als die Flammen bis zum zweiten Stock schossen, wurde ihr mulmig. Sie rief die Feuerwehr und machte sich aus dem Staub. Aber hinterher haben die Polizisten ihren Schülerausweis gefunden. Es ist fast, als wollte sie erwischt werden.

Yvette zeigt ihre Zahnlücke. »Ich wollte ja nich, dass einer krepiert.« Es war beim zweiten Treffen, als sie das erzählte.

Sie rief nun immer öfter an. »Mir ist langweilig«, sagte sie, ohne sich mit Namen zu melden. Wir gingen dann zu McDonald’s oder streiften über die Schönhauser Allee. »Das ist meine Reporterin«, stellte sie mich ihren Freundinnen vor. Yvette gab immer noch zu jeder Begrüßung die Hand, sie zahlte ungefragt Geld zurück, wenn sie sich etwas geliehen hatte. Und irgendwann schenkte sie mir ein Foto. Darauf guckt sie mit ernstem Blick in die Kamera, die Lippen geschlossen, den Kopf leicht geneigt. Ein Mädchen, das ziemlich entschlossen ist, aber noch nicht weiß, wozu.

»Ich bin voll hässlich«, sagt Yvette, die freier spricht, wenn man mit ihr alleine ist. »Ich hab einen Pferdekopp.« Pferdekopp, das sagt ihre Oma immer. Yvette lebt bei ihren Großeltern im Wedding, Nähe U-Bahn-Station Voltastraße. »Komm mit«, sagt sie eines Tages. Im Gewölbe unterm Alex wartet sie auf die Bahn. Sie ist in der Schule gewesen. Sechs Stunden lang, mit Ranzen. Sie sagt, sie meine es nun ernst.

Yvette steigt Voltastraße aus. In Turnschuhen schlendert sie über den Asphalt. Sie trägt fast immer flache Schuhe. Schuhe, mit denen man rennen kann. Sie schlurft am Coiffeur Nalan vorbei und am Wettshop Telebet. Vor einer Mietskaserne aus den Fünfzigern bleibt sie stehen, das Treppenhaus, mit Graffiti besprüht, speichert den Geruch von Gekochtem. Ihr Haus sei gruselig, flüstert Yvette. Im Keller seien die Kiffer, im Flur begegne man der verrückten Türkin, die mit sich selber spreche, und manchmal, sagt sie, schleiche so ein Kinderficker durchs Treppenhaus. Außer ihr wohnen hier nur Ausländer. »Bisse ne Kartoffel?«, wird sie oft gefragt, und Yvette erzählt jedem stolz, dass sie Halbtürkin ist.

»Tschuldigung, is nich aufgeräumt«, sagt sie, als sie die Wohnung betritt. Sie lächelt scheu. In Yvettes Zimmer hängt über dem Bett ein Poster von Sarah Connor, daneben das Foto einer anderen blonden Frau. »Meine Mutter«, sagt Yvette, »als sie noch voll hübsch war.« Wenn sie einen Wunsch frei hätte, würde sie sie wieder lebendig machen. In einer Kiste hütet sie ein Foto, das ihre Mutter in einem weißen Klinikbett zeigt: Es war der 17. März 1993, mit stolzem Lächeln wiegt sie ihr Baby im Arm; Yvette sollte es heißen, weil das so schön nobel klingt. Ein paar Stunden später setzte die Mutter sich den nächsten Schuss. Als die Tochter sechs war, malte sie mit Filzstiften einen Sarg mit Blumengirlanden.

Ihre Mutter hatte sich mit HIV infiziert, als Yvette zwei Monate alt war. »Wär ich später geboren, hätt ich jetzt Aids«, sagt Yvette. Sie redet darüber ganz sachlich. Neulich hat sie mit den Sozialarbeitern Wir Kinder vom Bahnhof Zoo gesehen, jetzt kann sie sich vorstellen, wie ihre Mutter gelebt hat. Die hatte Würde, sagt sie. Wer ihre Mutter beleidigt, wird verdroschen. Erst vor einer Woche hat ein Mädchen Yvettes Mutter Drogenhure genannt, und natürlich hat Yvette ihr eine geklatscht.

Wenn man sie fragt, warum sie so jähzornig ist, zuckt sie mit den Schultern. Es ist eine unbestimmte Wut, und sie kommt über sie, solange sie denken kann. Das erste Mal, dass sie sich nicht kontrollieren konnte, war in der ersten Klasse, da hatte eine Mitschülerin ihr die Knetmasse zermanscht. Seitdem hat sie ihren Zorn nicht mehr unterdrückt, sondern ausgelebt. Vielleicht hat sie festgestellt, dass er ihr Macht verleiht. Wenn sie ausrastet, fühlt sie sich frei. Für kurze Zeit.

Zweimal in der Woche geht sie zu den Sozialarbeitern, die mit ihr über ihre Probleme reden, ihre Wut. Aber die Sozialarbeiter seien ängstlich, sagt Yvette. Beim nächsten Ausrasten, glaubt sie, kann sie ins Heim kommen oder in den Jugendknast. »Dann würde ich mich ritzen«, sagt sie und krempelt den Ärmel ihres Pullovers hoch. Sie hat es schon einmal versucht, aber nicht mit aller Entschlossenheit.

Das Charakterliche habe Yvette vom Vater, sagt ihre Oma oft. »Die hat viel Istanbul im Blut.« Yvettes Oma ist eine hagere Frau, der das Leben tiefe Furchen ins Gesicht gegraben hat. »Wenn ich nachdenken würde, hätt ich nur noch Depressionen«, sagt sie. Nach Yvettes Geburt mied sie das Krankenhaus, sie wollte »damit nix zu tun haben«. Sie war ja schon 50 und hatte »schon zwei Kleene im Haus«. Aber nach einem halben Jahr hat sie es doch nicht ausgehalten und nahm das Baby, das inzwischen bei einer Pflegefamilie lebte, mit.

Zu Hause haben sie in jedem Raum einen Fernseher. Die Großeltern sitzen oft auf der Couch und rauchen die Stunden weg. Und Yvette spielt am Computer Sims, das Spiel, bei dem man sich im Internet ein virtuelles Zuhause einrichtet. Yvette hat dort ein großes Haus, einen treuen Mann und zwei Kinder.

Yvette kenne keine Geborgenheit, sagt ihre Sozialarbeiterin. Als Yvette das erste Mal zu ihr kam, stand sie freiwillig in der Tür, da war sie 13 und hatte einen Raub mit gefährlicher Körperverletzung begangen. Yvette suche nach Vorbildern, sagt die Sozialarbeiterin. Weil sie kein Urvertrauen entwickelt habe, sei sie emotional instabil, und es könne sein, dass Yvette unter dem Borderlinesyndrom leide, das habe sie in einem Buch nachgelesen: »Komm mir nicht zu nahe, aber verlass mich nicht.« Yvette brauche dringend eine Therapie, aber ohne die Einwilligung der Großeltern sei sie machtlos. Sie könne nicht fordern, nicht drohen. Sie könne nur bitten und hoffen.

Die wollen mir das Kind ja doch nur wegnehmen, sagt Yvettes Oma. Yvettes Bruder, den hätten sie mal in ein Heim gebracht und bis oben hin mit Ritalin vollgepumpt. »Borderline«, schnaubt sie, »so ein Quatsch!« Ständig rufen Lehrer an, Sozialarbeiter. Ständig hat sie diese Kopfschmerzen. »Die sollen sich nicht in Dinge einmischen, die sie nichts angehen. Wir haben unseren eigenen Kopp«, sagt sie.

Yvettes Opa hat sich in den Siebzigern, da war er noch DDR-Bürger, mal so lange mit einem Plakat auf die Friedrichstraße gesetzt, bis sie ihn kassierten. Auf dem Plakat stand »Demonstriere für meine Ausreise in den Westen«. Zwei Jahre hat er gesessen, dann hat die Bundesrepublik ihn freigekauft. Yvette wird weich, wenn sie von ihrem Opa spricht. Ihr Opa lässt sie gewähren, er mischt sich nicht ein. Silvester hat er ihr gesagt: »Komm nach Hause, wenn dir die Knaller uffen Kopp fallen. Aber pass uff, Kleene.« Sie erinnert ihn an ihre Mutter, das weiß sie.

Was Yvette außer ihrem Opa noch mag: Long Island Ice Tea, Lehrer, die streng, aber gerecht sind, Bio, Physik und Chemie, wo sie eine Eins hat. Sie liebt es, sich nachts gruselige Dinge einzubilden, zum Beispiel, dass jemand hinter ihr her ist. Und sie mag den Schauder, wenn Paul, ihr schwarzer Kater, plötzlich mit seinen Neonaugen aus dem Schrank wischt.

Die Dämmerung bricht schon herein, als Yvette ein paar Tage später mit Kathleen am Rand des großen Brunnens auf dem Alex sitzt. Sie fixieren das leuchtende Schild des Park Inn Hotels hoch über ihren Köpfen und ziehen an ihren Zigaretten. Yvette ist aufgekratzt. Heute haben sie Zeugnisse bekommen, Yvette ist versetzt worden. Ihre Lehrer haben ihre Drohung nicht wahr gemacht, und man weiß nicht, ob das nun Yvettes Glück ist oder eben nicht.

Sie hat die Traurige gespielt, als noch alles offen war, sagt sie, und dann demonstriert sie es, indem sie guckt wie ein angeschossenes Reh. Yvette weiß um ihren Charme. Für die Versetzung hat sie vom Opa 50 Euro geschenkt bekommen, und die hat sie gleich im Einkaufscenter gelassen: für eine Hose, eine Kapuzenjacke und eine Kette mit einem großen Herz aus Strasssteinen, die sie jetzt um ihren Hals trägt.

Aus den Augenwinkeln beobachtet Yvette die Punks, die sich jetzt ein paar Meter entfernt niederlassen. Sie zögert, dann geht sie zu ihnen rüber. Als einer der Punks beginnt, sein Zeugnis zu verbrennen, taxiert sie ihn, 16 ist der vielleicht, Army-Klamotten, ein Mercedesstern um den Hals. »Kann ich Deinen Mercedesstern haben?«, fragt sie. – »Nö. Nur wenn ich dein Strassherz bekomme.« Yvette tippt sich an die Stirn.

»Die sind voll hässlich«, sagt Yvette im Weggehen. Punks sind zwar gegen die Gesellschaft, aber sie sehen kacke aus. Lieber hängt sie mit den Jungs am Kottbusser Tor in Kreuzberg rum, die sind viel cooler, Türken und Araber, die Nike tragen und adidas. Ein paar von denen haben große Brüder, die Bushido kennen. Die meisten Deutschen, sagt Yvette, sind Opfer, und wenn sie glauben würde, dann am ehesten an Allah. Neulich hat ihr eine Freundin mal den Koran gezeigt, »da stehen voll wahre Geschichten drin«. Sie will bald sogar fasten, wegen Ramadan.

Yvette und Kathleen sind ausgelassen. Endlich große Ferien. Aber sie haben kein Ziel und keinen Plan. Die ganzen Ferien werden so verlaufen: von der Shisha-Bar am Rosenthaler Platz zum Gesundbrunnen-Center, von dort zum Alex und zu McDonald’s auf der Schönhauser Allee. Und manchmal werden sie mit der S-Bahn rausfahren zum Kiessee hinter Pankow. Wie immer wird Yvette weit hinausschwimmen, je tiefer und dunkler das Wasser, desto besser. Dann werden ihr die anderen wieder hinterherrufen, dass sie verrückt sei. Aber Yvette hat keine Angst. Sie war fünf, als sie allein auf einer Luftmatratze im Mühlenbecker See trieb, 50 Meter vom Ufer entfernt, und als plötzlich die Luft aus der Matratze wich, hat keiner sie gehört. Yvette grinst. Das war, als sie schwimmen gelernt hat. »Ich will nie alt werden«, sagt sie.

Wenn eine U-Bahn einfährt, läuft sie zentimeternah an ihr vorbei, um den modrigen Luftzug zu spüren, den die Waggons aus dem Schacht tragen. Sie flirtet mit der Bahnsteigkante wie mit ihren Lehrern, ihren Feinden.

Die Ferien neigen sich ihrem Ende zu, als Yvette mit gelangweilter Miene bei McDonald’s sitzt und mit ihrem Löffel Eiswürfel in Richtung anderer Gäste schnipst. Einfach so, aus Protest. Wenn man sie fragt, wogegen, verdreht sie die Augen. Sie feilt mit ihrer Nagelfeile am Sitzpolster herum.

Immer seltener lässt sie sich nun auf ein Gespräch ein, und meistens bringt sie zu Verabredungen eine Freundin mit. Sie verschläft, sagt ab, ist nicht zu erreichen. Später ruft sie an, zerknirscht und zuckersüß, »Stress in der Schule«, sagt sie leise, »durfte nicht raus«. Und während man oft vergeblich auf sie wartet, denkt man viel über dieses Mädchen nach, das man ins Herz geschlossen hat. Man kann nur dabei zuschauen, wie sie mehr und mehr entgleitet. Wenn man einmal glaubt, man komme ihr nahe, nimmt sie Reißaus. So wie vor Max. Mit dem hat sie Schluss gemacht, obwohl sie »echt verliebt« in ihn war, »mit dem konnte man reden«. Aber neulich hat sie ihn vor seinen Freunden verprügelt, und als er auf dem Boden lag, riss sie einen Witz. Wochen später steht in ihrem Regal trotzdem noch sein Foto: ein Junge mit weichem Gesicht und offenem Lächeln. Er bedeutet ihr etwas. Vielleicht war das sein Fehler.

Yvette ist wie eine Raubkatze, die entdeckt, dass sie mit ihren Krallen verletzen kann. Das Verletzen ist wie ein Spiel. Die Frage ist, ob sie damit noch rechtzeitig aufhören kann. Als Yvette an diesem Tag aus dem McDonald’s auf die Straße tritt, lutscht sie ihre Papierserviette zu kleinen Kugeln und spuckt sie mit einem Strohhalm Passanten ins Gesicht. Keine Reaktion ist das Schlimmste.

In den Unterlagen zur Schulhilfe-Konferenz bezüglich der Schülerin Yvette K. heißt es: »Auffälligkeiten, die beobachtet wurden: Extrem störend in Ton und Verhalten. Missachtet sämtliche Regeln. Sehr häufig aggressionsgeladen und angespannt.« Die meisten Sorgen mache man sich darüber, dass Yvette »vorgibt zu verstehen, was mit ihrem Verhalten nicht in Ordnung ist. Daraus aber erfolgt keine Reaktion. Die Frage ist: Kann sie ihr Verhalten wirklich allein steuern?«

Seit Yvette vor einem halben Jahr auf diese Schule gewechselt sei, bringe sie Unruhe herein, sagt die Soziallehrerin, die sich um die Problemfälle kümmert. Yvette hetze ihre Mitschüler gegeneinander auf, teile sie ein in Oben und Unten. In der einen Minute sei sie liebenswert, dann wieder bollere sie los, ziellos gegen alles und jeden. Tadel hätten sie erteilt und Suspendierungen ausgesprochen, Gespräche geführt mit den Großeltern, dem Jugendamt, der Schuldirektion. Was sollen sie noch tun? Was bringe ein Verweis, wenn sie auf einer anderen Schule doch nur dasselbe mache?

Die Schule hat schon wieder begonnen, als Yvette mit ihrer Freundin Alina im Bus Richtung Moabit sitzt. Zu den Sozialarbeitern, zu denen sie freiwillig ging, hat sie den Kontakt abgebrochen. »Die haben ja keine Ahnung«, sagt Yvette. »Die haben mich behandelt wie ein dummes Kind.«

Sie hat jetzt etwas Spannenderes zu tun. Zusammen mit Alina ist sie auf dem Weg zu ihrer Theatergruppe. »Theater für Frieden und Gerechtigkeit und Rassismus oder so«, sagt Yvette. Seit drei Wochen geht sie da hin. Weil Alina dort mit Elvis zusammen ist und Yvette bis vorgestern mit Ali. Eine Stunde lang haben sie sich bei Alina geschminkt. Sie tuscheln, als zwei arabische Jungs in den Bus steigen.

»Ey, Schlampe, was geht?«, fragt einer. »Schnauze, Bastard!«, sagt Yvette. »Was willst du?« »Fick deine Mutter!« »Fick sie doch selber, du Hure.« »Haste ne Kippe?«, fragt Yvette auf einmal, zeigt ihre Zahnlücke und grinst. Der Junge hält ihr seine Schachtel hin. »Du hast se doch nicht mehr alle«, zischt er kopfschüttelnd im Rausgehen. »Ich hoff, der Fahrer ruft die Polizei.«

Yvette zündet sich die Kippe an und hustet. Wegen einer Angina war sie heute nicht in der Schule. Sie geht immer seltener hin und hängt stattdessen mit den Jungs aus der Nachbarschaft rum. »Ich wollt mich ja ändern«, sagt Yvette. Aber irgendwas ist immer dazwischengekommen.

Ihre Lehrer haben in den letzten Wochen eine Liste über ihr Verhalten erstellt, und wenn man so will, protokollieren sie darin ihre eigene Ohnmacht. Mittwoch, steht da, 29.8.07: »Y wirft ihren Stift nach vorne, ich sammle ihn auf und packe ihn weg. Y sagt mehrfach, sie wolle ihn zurückhaben. Schließlich stellt sie sich nach vorn an den Lehrertisch und weigert sich minutenlang, auf ihren Platz zurückzugehen.« Donnerstag, 30.8.07: »Eine Schülerin kommt zu mir und behauptet, Y habe ihr die Haare angezündet. Es gibt dafür mehrere Zeuginnen.« Donnerstag, 6.9.07: »Y legt ihre Beine auf die Stühle, blickt mich an und singt laut dazwischen: ›Und diese dicke, fette Hummel, die ich meine…‹« – »Y stört in unverschämtem Ton. Schließlich von mir nach Hause geschickt.« Yvettes Verhalten sei kaum mehr zu beeinflussen, sagt ihre Soziallehrerin. Sie sei inzwischen unberechenbar.

An einem Spätnachmittag im November steht Yvette in Moabit vor der Bühne, auf der sie und ein paar andere Jugendliche gleich ihr Stück aufführen werden. Yvette hat Kratzspuren im Gesicht von einer Rauferei, die Haare trägt sie jetzt rot gefärbt. Wochenlang hatte sie sich nicht gemeldet, und jetzt lächelt sie schüchtern. Es ist ihr großer Tag. Mit einem arabischstämmigen Sozialarbeiter haben sie Szenen ausgearbeitet, in denen es um Menschenrechte geht. Zweimal in der Woche geht Yvette zu dieser Theatergruppe, im Moment gibt es nichts Wichtigeres für sie. Vielleicht ist es so etwas wie ihre letzte Chance.

Gerade erst wurde sie an einer S-Bahn-Station aufgegriffen, weil sie eine Fremde geschlagen hat; einer Lehrerin, sagt sie, hat sie ins Gesicht geboxt. In der Schule haben sie Yvette aus der Klasse genommen. Sie wird separat unterrichtet und muss regelmäßig mit einem Psychologen reden. Zum nächsten Halbjahr wird sie wohl endgültig von der Schule verwiesen. Vielleicht ahnen die Lehrer, dass sie Yvette längst verloren haben. Vielleicht ahnen sie, dass Reden nicht mehr hilft.

Im Theater muss Yvette nicht reden, sie soll singen und tanzen. Ahmed, der Regisseur, schwärmt von ihrem Talent, von ihrem Potenzial. Und vielleicht spricht er ja ihre Sprache. Neulich hat Yvette ein Buch von ihm zerrissen, Seite für Seite, säuberlich in fünf Teile. Er hat sie rausgeschmissen. Sie ist aber nicht gegangen, sondern blieb vor der Tür, zwei Stunden lang. Da hat er ihr die Hand gereicht und gesagt: »Komm.«

Yvette kam. Dieses Mal.

Erschienen in: „Die Zeit“ am 31. Januar 2008