„Das Aggressionsniveau war noch nie so hoch“

Interview mit Martin Hoffmann, Forscher am ECPMF.

Exklusives Interview für die BDZV-Mitgliedszeitungen mit Martin Hoffmann, Forscher am ECPMF (European Center for Press And Media Freedom, Leipzig), zu der gewachsenen Bedrohungslage für Reporterinnen und Reporter bei Demonstrationen in Deutschland.

Martin Hoffmann
Iona Dutz

Vor Kurzem hat das ECPMF zum fünften Mal seine Studie „Feindbild Journalist“ veröffentlicht. Wie schätzen Sie die Situation in Deutschland ein?

Das Aggressionsniveau gegen Journalist:innen war seit Beginn unserer Erfassung im Jahr 2015 noch nie so hoch: Die Zahl der Angriffe hat sich von 2019 zu 2020 verfünffacht,  69 gewaltsame Angriffe haben wir von Januar bis Dezember verifiziert. Gewalt gegen Journalist:innen ist spätestens seit dem Chemnitzer Herbst 2018 zum Normalzustand geworden – und eine Beruhigung derzeit nicht in Sicht.

Wie erklären Sie sich die zunehmende Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten? Haben die Corona-Pandemie und das Auftreten der sogenannten Querdenker und Co. die Situation zusätzlich verschärft?

Pandemiebezogene Proteste von Initiativen wie „Querdenken“ haben in der Tat den größten Anteil an dem erneuten Anstieg der Angriffe gegen Medienschaffende. 49 der 69 tätlichen Angriffe haben sich 2020 im Umfeld dieser Versammlungen ereignet. Sowohl im Netz als auch auf der Straße haben Anhänger:innen dieser Initiativen von Anfang an offensiv ihren Pressehass nach außen getragen.

Haben Sie vergleichbare Ausschreitungen gegen die Presse auch in anderen Ländern Europas beobachtet?

Insbesondere in den Niederlanden kam es zuletzt zu vergleichbaren pressefeindlichen Attacken, insbesondere gegen Mitarbeiter:innen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks NOS. Aber auch zuvor in Frankreich bei Gelbwesten-Protesten wurden zahlreiche Journalist:innen tätlich angegriffen und schwer bedroht. Als grobes Muster zeichnet sich ab, dass mit dem Entstehen von Empörungsbewegungen, wie zum Beispiel zuvor auch von Pegida in Deutschland, eine höhere Gefährdung für Medienschaffende entsteht, bei ihrer Arbeit angegriffen zu werden. 

Eine Langzeitstudie der Uni Mainz zeigt, dass 2020 das Vertrauen der deutschen Bevölkerung in die Zuverlässigkeit insbesondere traditioneller Medien gegenüber den Vorjahren erheblich gewachsen ist. Die „Lügenpresse“-Vorwürfe würden deutlich weniger. Wie passt das mit den Angriffen zusammen?

Die Angreifer:innen gehören – sofern sie sich überhaupt an solchen Befragungen beteiligen– zum Kern derjenigen Minderheit von rund zehn bis 20 Prozent der Bevölkerung, die der Presse ablehnend und feindselig gegenüberstehen. Ihr Anteil ist zwar der Mainzer Erhebung zufolge ebenfalls minimal zurückgegangen. Aber es gibt wenig Anhaltspunkte dafür, dass der Hass und die Angriffe der Pressefeinde auf einer differenzierten Analyse der Berichterstattung fußen, sondern eher auf einer pauschalen und einseitigen Realitätswahrnehmung.

Wie können Reporterinnen und Reporter in solch brenzligen Situationen angemessen geschützt werden?

Es braucht gut ausgebildete und energisch handelnde Polizist:innen in ausreichender Personalstärke auf den Demonstrationen, denn dort passieren die meisten Übergriffe. Der Einsatz von Sicherheitspersonal gehört ja bereits seit 2016 bei den Rundfunkhäusern zum Standard, sie konnten in zahlreichen Fällen Medienschaffende schützen. Außerdem brauchen freie Journalist:innen die Sicherheit, bei Angriffen die Kosten für beschädigtes Equipment, ärztliche Behandlung und etwaige juristische Unterstützung nicht allein tragen zu müssen.