Eine Ostquote im Jahr 2020? Warum das sinnvoller wäre, als du denkst

von Tobias Zuttmann

Wie viele Ostdeutsche arbeiten in Spitzenpositionen auf Bundesebene? Die Antwort darauf ist ein Armutszeugnis – 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Ein Plädoyer für eine Ostquote.

Brauchen wir 30 Jahre nach der Wiedervereinigung eine Ostquote? Wer sich noch nie mit diesem Thema auseinandergesetzt hat, dem wird das erst mal komisch vorkommen. Schließlich wird Deutschland von einer ostdeutschen Frau regiert, bis vor Kurzem war ein Ostdeutscher Bundespräsident. Warum sollte es bitte so etwas wie eine Quote brauchen? Doch der Schein trügt. Ebenso wenig wie Merkel die Chancengleichheit von Frauen verkörpert, kann ihre Wahl als Gleichstellung von Ost und West gewertet werden. Denn sie ist immer noch die Ausnahme von der Regel.

Eine Studie der Universität Leipzig im Auftrag des MDR ergab im Jahr 2016, dass nur 1,7% der Spitzenpositionen auf Bundesebene von Ostdeutschen besetzt werden. Eine angemessene Repräsentation ist das nicht. Der Bevölkerungsanteil der Ostdeutschen in Deutschland ist rund 10-mal so hoch. Selbst in den neuen Bundesländern ist die Repräsentation gering. Nur 1/4 der Spitzenpositionen haben gebürtige Ostdeutsche inne – bei einem Bevölkerungsanteil von 85%. Das zeigt eine Studie der Regierungskommission »30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit«, die dem Redaktionsnetzwerk Deutschland vorliegt.

Es gibt keine:n ostdeutschen Universitätsdirektor:in in Deutschland, nur 2% der DAX-Vorstände stammen aus Ostdeutschland und erst am Freitag, dem 3. Juli 2020, wurde zum ersten Mal ein Richter aus dem Osten an das Bundesverfassungsgericht berufen.

Zeit für die Ursachenforschung

Gründe für das Ungleichgewicht gibt es viele. Als nach der Wende die Führungspositionen neu besetzt wurden, bekamen oft Westdeutsche den Vortritt, die sich besser mit den Institutionen in den alten Bundesländern und ihren Gesetzen auskannten. »Viele Ostdeutsche hatten damals nicht die erforderliche Berufserfahrung für Führungspositionen. Zum Teil waren sie nicht qualifiziert genug, aber oft verfügten sie auch einfach nicht über die entsprechenden Netzwerke«, bestätigt die Professorin des Instituts für Soziologie und Demographie der Universität Rostock, Heike Trappe, im Telefoninterview.

Auch in den Jahren nach der Wende beförderten westdeutsche Chef:innen lieber westdeutsche Angestellte. Diese diskriminierenden Seilschaften sind aus der Gleichstellungsproblematik von Mann und Frau nur allzu bekannt. In der Soziologie nennt sich dieses Phänomen »Homophilie«. Menschen bauen Beziehungen zu Menschen auf, die ihnen ähnlich sind. Im Arbeitsleben befördern sie diese bevorzugt.

Trappe sieht noch eine andere Ursache für die Unterrepräsentation von Ostdeutschen: »Die Westdeutschen, die Anfang der 90er-Jahre in die Chefpositionen kamen, waren ausgesprochen junge Menschen, sie waren Anfang oder Mitte 30. Und das heißt, dass sie zu einem großen Teil noch heute in diesen Positionen sind.«

Auch die Abwanderungsbewegung Anfang der 90er-Jahre wirkt sich noch heute aus, meint die Soziologin. »Viele der Menschen, die Ostdeutschland damals verlassen haben, waren hoch qualifiziert. Ihr Fehlen merkt man noch heute.« Seit der Gründung der DDR bis zu ihrem Zusammenbruch sind mehr als 4,6 Millionen Bürger:innen geflohen. In den ersten vier Jahren nach dem Mauerfall sind weitere 1,4 Millionen Menschen aus Ostdeutschland weggezogen.

Dazu gesellen sich die strukturelle sowie die finanzielle Benachteiligung. Wie ungleich das Vermögen in Deutschland verteilt ist, zeigt ein Blick auf die Konten der Deutschen. So haben Westdeutsche ein Bruttogeldvermögen von mehr als 63.100 Euro, Ostdeutsche lediglich von 40.300 Euro.

Müssen jetzt alle Elite werden?

Ostdeutsche tun sich also schwer, in die obersten Chefetagen zu rücken – aber ist das so schlimm? Es hat die letzten 30 Jahre doch auch ohne eine nennenswerte ostdeutsche Elite funktioniert. Warum muss sich das jetzt auf einmal ändern?

Weil die mangelnde Repräsentation massive Folgen hat: 1/3 der Ostdeutschen fühlt sich als Bürger:in zweiter Klasse. Das ergab eine Studie des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung aus dem Jahr 2019.

Welche Konsequenzen dieses Gefühl der Wertlosigkeit haben kann, zeigte sich bei der Bundestagswahl 2017.

Die AfD holte 12,6% der Stimmen – in den neuen Ländern wählten 21,9% der Bürger:innen die vom Verfassungsschutz als teilweise rechtsextrem eingestufte Partei. In vier von fünf ostdeutschen Bundesländern wurde die AfD zweitstärkste Kraft, in Sachsen holte sie sogar die meisten Stimmen. Plötzlich stand der Osten im Fokus der Republik, dabei war das Ergebnis keineswegs eine Überraschung. Bereits 2016 holte die AfD bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt und in Brandenburg mehr als 20% der Stimmen und wiederholte 2019 ihren Erfolg bei den Wahlen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen.

Generell scheint in Ostdeutschland das Vertrauen in den Staat und in die Demokratie deutlich geringer als im Rest der Bundesrepublik. Nur 42% der Ostdeutschen meinen laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie Allenbach, dass die Demokratie in Deutschland die beste Staatsform ist – in Westdeutschland sind es hingegen 77%.

Einige der Gründe für das mangelnde Vertrauen der Ostdeutschen in den Staat sind der Elitenaustausch in den 90er-Jahren und die fehlende Repräsentation, meint die Soziologin Trappe.

Wie war das mit der Frauenquote?

Ein Blick auf die Frauenquote zeigt, dass Quoten wirken können. Als sich im Jahr 1979 die Grünen gründeten, legten sie fest, dass mindestens die Hälfte ihrer Mandate und Ämter von Frauen besetzt werden müssen. In den folgenden Jahren zogen SPD und Linke nach und auch die CDU führte eine abgeschwächte Form der Frauenquote ein. Der Anteil der Frauen im Parlament stieg daraufhin rapide an. Lag er im Jahr 1987 noch bei 10%, so erreichte er 1998 schon über 30%.

Auch in der Wirtschaft hat die Frauenquote Wirkung gezeigt. So führte die Bundesregierung im Jahr 2015 für mitbestimmungspflichtige, börsennotierte Unternehmen eine Frauenquote in den Aufsichtsräten von mindestens 30% ein. Dieses Gesetz betrifft aktuell 105 Unternehmen. Eine Studie der Initiative »Frauen in die Aufsichtsräte« ergab, dass in diesen Unternehmen der Frauenanteil seit 2015 um 13,9% auf 35,2% gestiegen ist. Bei weiteren 83 untersuchten Unternehmen, die nicht der verpflichtenden Quote unterliegen, stieg der Frauenanteil zwar ebenfalls in diesem Zeitraum, allerdings nur um 9,1% auf 22,8%.

In Westdeutschland befürworten weniger als 1/4 eine Ostquote. Im Osten sind es hingegen mehr als die Hälfte.

2019 stimmte der Bundestag gegen eine Quote für Ostdeutsche in Bundesbehörden. Ein Fehler? Denn vielleicht wäre gerade sie die einzig richtige Strategie, um nicht nur Ostdeutschen den Willen zur Gleichberechtigung zu signalisieren, sondern auch dem wachsenden Rechtsextremismus in den neuen Bundesländern effektiv entgegenzuwirken.