Chaos im Kopf

von Anna Petersen

Die erste Wohnung, der erste Freund, der erste Job: Julie macht sich auf in ein selbstständiges Leben. Vom Erwachsenwerden mit dem Fetalen Alkoholsyndrom.

Manchmal ist es, als hätte das Einhorn auf der Fußmatte Julies* Glück schon beim Verlassen der Wohnung aufgespießt und in Stücke gerissen. Diese verträumte Miene. Dieses auf Kokosfasern gedruckte falsche Versprechen einer Welt, die es so nicht gibt: einfach und mit ganz viel Glitzer drauf. Jenseits der Fußmatte ist gar nichts einfach, zumindest für Julie. Dort lauert das Chaos – immer und überall. Da reicht manchmal schon ein Anruf vom Arzt, der einen Termin verschieben will, ein platter Fahrradreifen oder ein Kollege im Café, der ihr Arbeit „wegnimmt“. Dann geht Julies Plan nicht mehr auf, ihr Plan vom „Normalsein“. Dann schmeißt sie sich zu Boden, schreit und weint. Schreit und weint, weil sie schreit und weint. Weil sie anders ist.

Landeszeitung für die Lüneburger Heide

„Das hab ich halt von meiner Mutter her“, sagt Julie. Das klingt zu einfach, ist aber ärztlich diagnostiziert: Ihre Mutter hatte während der Schwangerschaft getrunken. Alkohol floss durch die Nabelschnur in Julies kleinen Körper. Ihre unreife Leber konnte das Gift nicht abbauen, der Alkohol griff ihr Gehirn an. Zur Welt kamen 2700 Gramm Leben, die erst vor Hunger und Müdigkeit schrien, und mit jedem weiteren Tag ein bisschen mehr auch aus Verzweiflung. Allein im Jahr 2014 sollen in Deutschland einer Studie des Münchener Instituts für Therapieforschung (IFT) zufolge fast 13000 Kinder mit alkoholbedingten Gesundheitsschäden zur Welt gekommen sein, darunter knapp 3000 Babys mit der schweren Form, dem Fetalen Alkoholsyndrom (FAS). So wie Julie.

Unkontrollierte Gefühlsausbrüche, Vergesslichkeit, Hyperaktivität, Depression – die Liste an möglichen Folgen ist lang. „Kein Erwachsener kriegt damit sein Leben ganz normal auf die Reihe“, sagt der Berliner Kinderarzt und FAS-Experte Hans-Ludwig Spohr. Doch genau das hat sich Julie in den Kopf gesetzt: ein normales Leben. Ende 2018 ist die 21-Jährige aus ihrer betreuten Wohngruppe in Uelzen ausgezogen – in eine eigene Wohnung. Die LZ hat sie ein Jahr lang bei den ersten Schritten in ein selbstständiges Leben begleitet.

Frühling

Heute ist ein guter Tag. Die Wohnung ist aufgeräumt, Betreuer „Olli“ sitzt an seinem Platz am Küchentisch, die Redakteurin ist pünktlich. Ein bisschen zu jung vielleicht, urteilt Julie spontan, und ein bisschen zu neugierig. Aber alles läuft nach Plan – und darauf kommt es schließlich an. Julie kann nun endlich einen Haken setzen bei „Besuch empfangen“ auf der Liste zwischen Aufräumen und Wäsche waschen – erst im Kopf und später dann, wenn alle weg sind, auch auf dem Papier. Muss ja nicht gleich jeder wissen, das mit den Plänen.

An diesem Tag sieht der Himmel fast so aus wie die Wände im Schlafzimmer: türkisblau. An türkisblauen Tagen huscht einmal öfter ein Lächeln über Julies blasses Gesicht. Da kommen die dunklen Gedanken seltener, die Selbstzweifel und auch die immer wiederkehrende Frage, ob das Leben noch lebenswert ist.

Das weiß niemand besser als „Olli“, der „Krisenmanager“ vom ambulant betreuten Wohnen. Den ruft sie an, wenn die Depressionen sie tagsüber an die Matratze tackern, der räumt mit ihr auf, wenn sie den Haushaltsplan aus dem Blick verliert, öffnet mit Julie unangenehme Briefe und nickt bestätigend, wenn sie sich gerade nicht sicher ist, ob das, was sie der Redakteurin erzählt, verständlich ist.

Olli hat auch geholfen, als ihre gesetzliche Betreuerin im Herbst die Wohnung in Uelzen organisierte: Möbel kaufen, streichen, einräumen. „Das war sehr aufregend für mich“, erzählt sie. „Man muss ziemlich viel allein machen, was ich so noch nicht gemacht habe.“ Auch jetzt noch, wo alles an seinem Platz steht – damit sich das Chaos vor der Fußmatte nicht auch in ihrer Wohnung breitmacht.
Aber Julie hat alles im Griff. Julie hat einen Schwerbehindertenausweis – ja, aber doch nicht, weil sie behindert ist... Dass sie damit kostenlos Zug fahren und manchmal günstiger ins Kino kann, sagt sie. Dass sie den wohl hat, weil sie oft traurig ist und ziemlich wütend. Also, früher mal. „Ich hab damals andere Menschen verletzt – und das wollte ich dann irgendwann nicht mehr.“ Schluss, aus, vorbei!
„Ich bin halt seeehr viel bei Psychologen gewesen.“

FAS ist nicht heilbar. Was ein Mensch mit FAS braucht, ist eine Strategie – so sieht das Julie. Wenn sie also wütend wird, dann hört sie seit neuestem laut Musik. Zwischen den orange gestrichenen Wohnzimmerwänden hat sie ein Regal mit CDs vollgepackt. „Namika“ zum Beispiel, die singt auf Deutsch – und Julie aus der Seele: „Sie haben mich runtergebrochen auf 30 Billionen Zellen und 212 Knochen, doch das Herz schlägt und sehnt sich nach mehr.“ Nach mehr Glitzer und Frieden mit dem, was passiert ist.
Die Vergangenheit. Das ist ein Kapitel, das hat keinen Platz in ihrer neuen Wohnung. Lediglich zwei Bilder von früher durften einziehen: eins von Julie, da ist sie vielleicht drei oder vier Jahre alt, kurze dunkle Haare, schüchternes Lächeln. Und eins von ihrer Mutter beim Schneeschippen im Winter.

„Mehr möcht ich nicht“, sagt Julie ziemlich ernst. Als handele es sich dabei um einen schwarzen Fleck in diesem quietschorangen Kosmos der Glückseligkeit.

Ihr Vater starb, da war Julie zwei Jahre alt. „Meine Mutter konnte sich nicht um mich kümmern. Sie war sehr krank und ist sehr krank und bleibt sehr krank – glaube ich.“ Und wer krank ist, dem darf man nicht böse sein, oder? Und wenn man eine Mutter hat, darf man sie nicht nicht lieben, oder doch? Julie ist sich da nicht so sicher. „Aber meine Pflegemutter lieb ich mehr.“ Mit acht Jahren zog Julie nach Bienenbüttel – in eine neue Familie. „Weil ich viele Schicksalsschläge hinter mir hab“, erklärt sie. „Meine Mutter hat sich nicht um mich gekümmert, sie hat mich teilweise verhungern lassen, sie hat mich geschlagen, sie hat mir wehgetan.“ Jetzt ist Julie doch ein bisschen wütend.

Vieles von dem, was in ihren ersten acht Lebensjahren vorgefallen ist, lässt sich heute kaum noch rekonstruieren. Weil Julie noch klein war, vermutlich aber auch, weil ihre Gedächtnisleistung durch das „Passivtrinken“ Schaden genommen hat. Es ist, als hätte der Speicher in ihrem Kopf Löcher. Julie meint sich zu erinnern, dass es „Fremde“ gab, die sie nachts mit dem Taxi durch die Gegend fuhren – kann jedoch nicht sagen, ob es Männer oder Frauen waren. Sie berichtet, dass ihre Mutter ihr vor einem Jahr mitgeteilt habe, sie wolle keinen Kontakt mehr – weiß aber nicht mehr, ob das bei einem Treffen war oder am Telefon. Nur noch, dass es wehtat.

Eine, die sich noch gut erinnern kann, ist Julies Kindergärtnerin. Sie zögert zunächst, will dann aber doch erzählen: die Geschichte eines Mädchens, das in einem Obdachlosenheim aufwuchs und schon als Dreijährige mit Fäusten und Kraftausdrücken alle vergraulte, die ihr zu nahe kamen. Oft sei Julie nicht warm genug angezogen gewesen, erzählt die Kindergärtnerin, also habe sie Kleiderspenden von anderen Eltern erworben.

Sie erinnerte die Mutter an wichtige Arzttermine, spielte Zahnfee und Weihnachtsmann – kurz: übernahm die Verantwortung, die sonst niemand übernehmen konnte oder wollte. „Das Jugendamt war da immer mit im Spiel“, betont sie, mehrfach habe sie auf die Vernachlässigung hingewiesen.

„Aber die meinten immer noch, dass das ausreichend ist.“

Später, als Mutter und Kind in eine eigene Wohnung zogen, habe es nur sie zwei gegeben, einige Katzen und eine „verwahrloste“ Bekannte, die in dem Chaos ein und aus ging. Julies Mutter sei nicht grob gewesen, nur ihrer Aufgabe geistig nicht gewachsen. Letztlich habe wohl die Schule auf den Umzug in eine Pflegefamilie gedrängt. „Aber das hätte schon viel früher passieren müssen.“

Jetzt sitzt Julie in ihrer eigenen Wohnung, in der es keine Katzen gibt und kein Chaos. In einer Wohnung, für die sie Geld verdienen geht – im Uelzener Café Samocca. Dort sind viele Menschen mit einer Behinderung beschäftigt. An fünf Tagen pro Woche arbeitet Julie sechs Stunden als Servicekraft, an türkisblauen wie an grauen Tagen. Ende 2017 bescheinigte ihr die Stiftung „Leben leben“, die das Café betreibt, den Abschluss einer hausinternen Qualifizierung zur Servicekraft in der Hauswirtschaft. „Das war ein sehr, sehr schöner und wichtiger Moment für mich, dass ich so was machen konnte und auch bestanden habe“, erzählt Julie. Warum? Ganz einfach: „Ich will nicht so wie meine Mutter enden – dass ich irgendwann keine Arbeit mehr hab und so.“

Sommer

Neulich ist es doch wieder passiert: Julie ist ausgerastet – dreimal in nur einer Woche. „Geschrien, geweint, abgehauen“, fasst sie knapp zusammen. Sie sitzt genau dort, wo es passiert ist – mitten im Café Samocca –, nippt an ihrem Tee und grübelt über die Auslöser. Legt das Gesicht in Falten, zuckt mit den Schultern: „Keine Ahnung.“ Es ist später Mittag, bis eben musste Julie noch die Gäste bedienen. Sie hat jetzt jeden Tag Frühschicht. Julie weiß: Die Alternative wäre eine Versetzung in die Werkstätten der Stiftung „Leben leben“ gewesen: Mappen heften, Rollläden zusammenbauen. Das hat sie schon einmal gemacht – und sich dabei gelangweilt. Dann doch lieber um 6 Uhr morgens aufstehen.

Gut, dass es Finn* gibt, Julies „große Liebe“. Der sitzt schweigend neben ihr, studiert die Karte und kritzelt mit einem Stift ein Kreuz hinter den Kräutertee. Eine Bedienung kommt und sammelt das Kärtchen ein. Julie findet das Bestellprinzip äußerst praktisch. So passieren keine Fehler – Julie hasst Fehler, besonders ihre eigenen.

„Finn hat nur ein ganz kleines Handicap“, erzählt sie, und dass sie sich schon aus der Förderschule kennen. Er wird ein bisschen rot. „Ich brauch bei manchen Sachen halt ein wenig länger, bis ich sie kann“, nuschelt er und will es dabei auch gern belassen. Julie aber nicht: „Er hat seinen Abschluss geschafft und seinen Traumjob gefunden“, plappert sie aufgeregt über das Café-Gemurmel hinweg.
„Er hat was aus sich gemacht.“

Jetzt soll Finn auch mal was sagen – über sie. „Da fällt mir spontan gar nichts ein“, sagt er. „Du siehst halt gut aus.“ Julie ist nicht zufrieden. Finn grübelt weiter. „Ihre Art finde ich auch gut. Sie kann schon mal ganz witzig sein.“ Julie: „Echt?“ Finn: „Joa.“ Julie kichert. Neulich, als sie ausgerastet ist, da hat sie sofort Finns Nummer gewählt. Der ist in den nächsten Zug nach Uelzen gesprungen und hat 
sie aufgefangen, hat gesagt: „So was geht eigentlich nicht. Du musst dich entschuldigen.“ Julie nickt: „Da war ich tapfer. Obwohl ich das überhaupt nicht gern mache – irgendwo anrufen. Aber ich musste mich bei ein paar Gästen entschuldigen, die haben das ja alle mitbekommen...“

Seit ein paar Wochen schläft Julie schlecht. Stundenlang starrt sie nachts auf die türkisblaue Wand und grübelt: Warum habe ich mich nicht im Griff? Was passiert als nächstes? Und: Wie geht es Mama? „Ich denk halt immer mal wieder darüber nach, Kontakt zu ihr aufzunehmen...“ Nur mal nachfragen, wie es ihr geht. Und vielleicht ein bisschen erzählen von dem, was sie so vor hat. „Aber nein, das mache ich nicht!“ Dabei gäbe es so viel zu erzählen. Fast hätte Julie vergessen, das Wichtigste zu erwähnen: die Verlobung. Ende April ist Finn vor ihr auf die Knie gegangen. „Wo war das noch? Auf dem Krakelberg?“ Finn verdreht die Augen: „Kaaaalkberg, nicht Krakelberg.“ Jedenfalls meint Julie, habe sie das schon den ganzen Tag geahnt. „Er hat dann ein paar Worte gesagt, so was wie: Wir sind ja jetzt schon... Wie lange zusammen?“ Sie winkt ab. „Egal.“ Spätestens in zwei Jahren wollen sie heiraten. Am liebsten am Strand in einem dieser trägerlosen weißen Kleider, wie sie die Frauen in den Hollywood-Filmen tragen. „Aber das ist zu teuer.“ Finn möchte das so nicht stehen lassen. „Vielleicht hab ich bis dahin auch mega Erfolg und verdiene einen Haufen Kohle.“

Finn will Beikoch werden, Julie zweifelt derweil immer öfter, ob im Café ihre Zukunft liegt. Neulich sollte sie das Frühstück organisieren. „Das hat nicht geklappt. Ich hab das einfach nicht auf die Reihe gekriegt“, flucht Julie: zu viele Dinge auf einmal, zu wenig Anleitung. Jetzt bastelt sie die Präsentkörbe. Geschenke sind eine tolle Sache, findet Julie. Geschenke machen glücklich.

Aber soll es das wirklich schon gewesen sein? Vor kurzem hat sich ein Mann von der Lebenshilfe im Café erkundigt, ob jemand ein Praktikum im Pflegeheim machen will. Da hat sich Julie sofort gemeldet. „Weil ich halt keine Oma und keinen Opa mehr habe und mich gern um Menschen kümmere“, erklärt sie. Besonders um solche, die es schlecht haben. „Auch, wenn ich mit behinderten Leuten arbeiten würde, würde mich das total faszinieren.“

Herbst

Der Herbst hat durchaus seine Vorzüge: Pilze. Julie kennt sie alle beim Namen. Heute zieht sie mit einem Korb in der Hand und ihrem Pflegevater Karsten* suchend durch die Wälder bei Bienenbüttel. Das haben sie immer schon so gemacht. Weil es sonst wenig gab, was Julie interessierte. „Das war sie anfangs einfach nicht gewohnt“, sagt Karsten und beugt sich zu Boden, um einen Pilz... „Nicht abschneiden“, brüllt Julie aus der Ferne. Warum? „Weil ich das so gelernt habe.“ Karsten fügt sich. In diesem Metier macht ihr niemand etwas vor.

Verzweifelt hatte die Familie in den ersten Wochen nach ihrer Zusammenführung nach Dingen gesucht, die Julie begeistern könnten: Schwimmen, Basteln, Bücher... Pilze waren das erste, wofür sich Julie erwärmen konnte. An diesem Oktobertag verspricht die Ausbeute groß zu werden.

Vielleicht ein guter Moment, um nochmal auf die Kindheit zu sprechen zu kommen...

Julie, hast du dir eigentlich Geschwister gewünscht? „Ich wusste gar nicht, dass es so was gibt. Siehst du den Pilz? Der ist schön.“
Wart ihr viel unter Menschen? „Nö. Da, wieder einer!“

Und dein Vater...? „Hat sich totgesoffen. Wir spielen jetzt ein Spiel: Wer zuerst eine Marone sieht!“ Weg ist sie.

Karsten beobachtet mit mildem Lächeln, wie seine Pflegetochter gedankenversunken durch den Wald flitzt. Ein hagerer Mann mit tiefen Lachfalten, schulterlangen grauen Haaren und einer Stimme, so leise, dass man ihn manchmal kaum versteht. So jemanden bringt nichts aus der Ruhe, könnte man annehmen. Das hatte Karsten von sich selbst auch geglaubt – bis Julie kam. „Bei der ersten Begegnung wirkte sie total süß. Ich dachte: Das wird bestimmt nett werden. Aber, na ja...“ Er sucht nach einem passenden Begriff. „Nett“ jedenfalls ist der falsche.

„Wir mussten sehr viel aufräumen damals“, erinnert sich auch Pflegemutter Ilona*, als die Familie am Esstisch Pilze putzt. „Julie hat ihr Zimmer oft zertrümmert, manchmal im Garten Büsche ausgerupft.“ Druck abbauen. Der ganz normale Alltag schien Julie zu überfordern, Nähe auch, Veränderungen sowieso. „Es ging die ersten Jahre immer nur darum, dass sie es schafft, regelmäßig zur Schule zu gehen.“ Oft saßen die Eltern abends zusammen und schmiedeten Pläne, wie sie ihre Pflegetochter am Folgetag bei Laune halten könnten. Oft müssen sich die Nachbarn gewundert haben, wenn das Vorhaben wieder mal scheiterte, Julie wütend ein Fenster aufriss und aus Leibeskräften schrie: „Hilfe, Polizei!“ Immer wieder fragte sich das Paar, wie lange sie das noch durchhalten würden. Und warum Julie so ist, wie sie ist.

Eine Antwort bekamen die Pflegeeltern erst nach sechs Jahren – und zwar von Hans-Ludwig Spohr. Der Leiter des FAS-Zentrums der Charité in Berlin hat bis zu seinem Ruhestand jährlich rund 300 verzweifelte Familien in seinem Behandlungszimmer empfangen, weit über 90 Prozent der untersuchten Kinder stammten aus Pflege- und Adoptivfamilien. Denn mit der Diagnose FAS geht für die Mütter auch das Eingeständnis einher, mit ihrem Alkoholkonsum während der Schwangerschaft Schuld auf sich geladen zu haben. Die Angst vor der Erkenntnis ist groß, die Dunkelziffer dementsprechend hoch.

Spohr studierte Julies Geburtsunterlagen, vermaß ihr Gesicht, stellte Fragen zu ihrem Verhalten. Julies Kopfumfang war zu klein, die Oberlippe zu schmal und die Rinne zwischen Nase und Mund abgeflacht – typische Gesichtsmerkmale eines alkoholgeschädigten Kindes. Davon ist kaum noch etwas zu erkennen, was aber immer bleiben wird, das sind die sozialen und emotionalen Defizite: Viele Betroffene sind unberechenbar – verlieren sich in Depressionen oder bekommen aus dem Nichts heftige Wutausbrüche. „Wahrscheinlich, weil sie sich überfordert fühlen, weil sie merken, dass sie nicht dasselbe leisten können wie alle anderen“, vermutet Spohr.

Dazu die Vergesslichkeit, das fehlende Gespür für Zahlen und Geld – Symptome, die die meisten von Spohrs Patienten früher oder später an ihrem Alltag scheitern lassen. Auch Freundschaften sind selten von Dauer – Julie weiß nicht mal, ob sie jemals Freunde gehabt hat. Vielleicht mal ein paar Tage lang – dann gab es Streit. Dann wollten sie nichts mehr mit ihr zu tun haben.

So hatte es sich auch angefühlt, als die Pflegefamilie entschied, dass es so nicht weitergehen könnte: Julie war 16, da bereiteten sie den Umzug in ein Wohnheim für Kinder mit einer Behinderung vor. Julie hatte inzwischen Geschwister, denen machte der Dauerstress zu Hause zu schaffen, und das Heim lag quasi um die Ecke. Karsten und Ilona dachten, sie könnten eine Familie bleiben, Julie aber fühlte sich ausgeschlossen. Sie kann darüber bis heute nicht ohne anklagenden Unterton sprechen:

„Ich war sauer auf euch, das hat wehgetan.“ Ganze zwei Jahre nach dem Umzug herrschte Funkstille. Erst als Julie in eine Wohngruppe für Erwachsene zog, näherte sie sich der Familie wieder an. Das macht was mit einem Menschen – wenn nichts klappt, wie es klappen sollte. Wenn die Anforderungen des Lebens wachsen, nicht aber die Fähigkeit, ihnen gerecht zu werden. Das sorgt für Verunsicherung. Für Chaos. Ein hämisch grinsendes Einhorn, das das Glück im Kopf zerstört, noch bevor es wachsen kann.

Als Julie jünger war, klaute sie öfter mal Dinge. Das hat sie heute im Griff, diese „mangelnde Impulskontrolle“, von der Kinderarzt Spohr spricht. „Viele Jugendliche lügen und stehlen“, ein Grund, weshalb sie mitunter auf der Straße landen, im Gefängnis, in der Psychiatrie. Spohr: „Ich bin voller Zorn über diese Krankheit.“

Für Julie sollte es anders laufen. Besser. Das hatten sich ihre Pflegeeltern vorgenommen. Als Julie nach der Grundschule auf eine Förderschule wechselte, bekam sie eine Schulbegleiterin: Karin Bende. Wenn die 64-Jährige an die Zeit zurückdenkt, dann schüttelt sie immer wieder lachend mit dem Kopf, eine Mischung aus Zuneigung und Ratlosigkeit. Mehrfach hatte sie sich Blessuren zugezogen, wenn sie sich mit dem ganzen Körper auf Julie schmiss, um einen ihrer Wutausbrüche zu stoppen. Sie hat Julie die Grundlagen der Mathematik erklärt – jeden Tag wieder von vorne – und aus dem Buchstabensalat, den Julie in ihre Hefte kritzelte, geduldig richtige Worte geformt.

Manchmal hat sie auch gestaunt – wie an dem Tag, als die Klasse „Ronja Räubertochter“ aufführte und Julie die Texte aller Rollen mitsprechen konnte. Vielleicht hätte es ein Hauptschulabschluss werden können, wenn es nicht immer wieder zu Eskalationen gekommen wäre. „Sie stand ja permanent unter dem Druck, den Alltag durchzuhalten – das war viel“, weiß Pflegemutter Ilona.
Vielleicht am Ende ein bisschen zu viel.

Winter

Alle Jahre wieder sucht Julie die Grippe heim – immer passend zu Weihnachten. „Mit Weihnachten komm ich nicht klar“, sagt Julie. Da sitzt sie in ihrer Wohnung, vor sich ein Karton voller bunt verpackter Geschenke, und klagt Manuela ihr Leid. Manuela ist die neue Betreuerin, Julies neuer „Olli“.

Wie es ihr geht, will sie von Julie wissen. „Hmmm... Ich nehme wieder Tabletten: Antidepressiva“, flüstert Julie, fast als wäre ihr das unangenehm. Die Tabletten braucht sie öfter, wenn die Tage kürzer werden und der graue Himmel ihr auf die Stimmung schlägt. Dazu die Angst, dass die Grippe ihr wieder Weihnachten verhageln könnte und der ganze Stress mit Finn…

Seit einiger Zeit wechselt Julie ihr WhatsApp-Bild im Wochentakt: Foto mit Finn, Foto ohne Finn – eine Statusbeschreibung ihrer Beziehung. „Wir haben viel Stress momentan“, erklärt Julie. Erst vor ein paar Tagen wurden wieder heftig die Türen geknallt. Darum hat sie Finn mit zu ihrem Psychologen genommen, damit der ihm erklärt, was das FAS mit ihr macht. Warum sie ist, wie sie ist. Im Augenblick vor allem traurig und angeschlagen.

Alle zwei Wochen fehlt Julie bei der Arbeit. Mal tut der Arm weh, mal der Kopf. „Der Arzt sagt, das sei Psychosomatik“, erklärt Julie. „Und wenn es Psychosomatik ist, soll ich trotzdem zur Arbeit gehen – auch wenn es Schmerzen verursacht.“ Im Café haben sie ihre Stundenzahl von sechs auf vier reduziert. Das soll Entlastung bringen. Grundsätzlich eine gute Sache, findet Julie, aber sie macht sich Sorgen um ihre Finanzen.

240 Euro verdient Julie im Monat. Das reicht natürlich nicht zum Leben. Neben Kindergeld und Halbwaisenrente kommt noch ein bisschen was vom Amt obendrauf. Alle zwei Wochen hebt sie zusammen mit Manuela eine größere Summe vom Konto ab und verwahrt sie neben der Karte in einem blauen Tresor. Den Schlüssel dafür behält Manuela – zur Sicherheit. „Weil, bei mir ist es so, dass ich gern mehr abhebe und ausgebe als ich darf.“ Einmal ist das schon passiert. Da war plötzlich das Konto leer, Rechnungen konnten nicht bezahlt werden.

Jetzt kommen die Betreuer jeden Montag und Freitag und holen mit Julie zusammen Geld aus der Kasse: 45 Euro für Lebensmittel pro Woche. Dann schnappt sich Julie ihren Einkaufstrolley und wandert zum Supermarkt um die Ecke. An diesem Montag kann sie Manuela überreden, mitzukommen – obwohl Julie das eigentlich schon ganz gut alleine schafft.

Julie schiebt den Wagen zielstrebig durch die Gänge, die Preise immer im Blick. „Ich gehe gern einkaufen, weil man dabei Geld ausgeben kann“, erklärt sie, während sie acht Schokoriegel in den Wagen schmeißt. Dabei lacht sie entschuldigend: „Der Preis macht den Unterschied.“ Weiter geht’s, vorbei an Windeln und Babynahrung. „Wenn Finn und ich geheiratet haben, möchte ich eine Familie gründen.“ Erst heiraten, dann Kinder – so sieht es Julies Plan vom „Normalsein“ vor. Da können die anderen sagen, was sie wollen. „Wir schaffen das“, sagt Julie und schiebt den Einkaufswagen entschlossen in Richtung Kasse. Julie hält es mit der Zukunft, wie es der lilafarbene Pullover, den sie an diesem Tag trägt, nahelegt: „Wir alle sollten Träumer sein“, steht darauf aus dem Englischen übersetzt. Sie hat sich ihren Traum von einem Beruf erfüllt, ihren Traum von einer Beziehung und einer eigenen Wohnung. Nein, vor und hinter der Fußmatte ist gar nichts einfach. Aber vieles möglich.

*Namen der Protagonistin, ihres Partners und ihrer Familie von der Redaktion geändert.