Frauen: Lasst die Vollzeit! Und Männer: Ihr auch!

von Julia Schaaf

Frauen sollten sich stärker hinter ihre Karriere klemmen, wird oft gefordert, zuletzt auch von unserer Wirtschaftsredaktion. Julia Schaaf findet: Das ist der falsche Weg. Die Zeitnot treibt Familien in den Wahnsinn. Ein Kulturwandel muss her.

Mockup des nominierten Textes von Julia Schaaf von der FAZ-Schule-Website
FAZ Schule / BDZV

Zu meinen wichtigsten Lektionen als Mutter gehört es, nicht mehr über all jene Frauen herzuziehen, die es anders machen als ich. Stillen oder Fläschchen, Einschlaftraining oder Elternbett, klare Ansagen oder Endlosdiskussionen über so profane Dinge wie das Fingernägelschneiden – ich finde, wenn man Kinder kriegt, ist das Leben aufreibend genug. Es reicht, wenn sich Passanten auf der Straße und die Schwiegereltern in die Erziehung einmischen und das große gesellschaftliche Raunen einem ständig suggeriert, irgendetwas mache man gerade wieder falsch. Wir Frauen sollten einander in Ruhe lassen. Die leidige Debatte zwischen Glucken und Rabenmüttern, ob wir besser zu Hause bleiben oder weiter arbeiten gehen, liegt glücklicherweise hinter uns. Es gibt so eine Art Vereinbarkeitskonsens, der lautet: Jede regelt das Zusammenspiel aus Beruf und Familie so, wie es in ihrem Fall am besten ist.

Trotzdem oder gerade deshalb habe ich mich geärgert, als Inge Kloepfer vor zwei Wochen im Wirtschaftsteil dieser Zeitung schrieb: "Frauen, lasst die Teilzeit bleiben!" Die Forderung hört man ja immer wieder. Ich halte sie für falsch.

Dabei hat die Kollegin in gewisser Weise recht: Wenn wir Gleichberechtigung wollen, wenn wir wollen, dass Frauen in gleichem Maß wie Männer über die Geschicke unseres Landes entscheiden, wenn Frauen in Führungsetagen und Aufsichtsräten, in Leitungsfunktionen und Regierungsämtern endlich angemessen repräsentiert sein sollen, führt kein Weg daran vorbei, dass auch Frauen sich mit ganzer Kraft hinter ihre Karriere klemmen – jedenfalls bisher.

Wir Teilzeitmütter haben uns damals weggeduckt, als uns das "Lean in!" der Facebook-Vorzeige-Mutter Sheryl Sandberg entgegenschallte. In den Jahren danach hat dieser Weckruf durch die Diskussionen über Frauenquoten und "Gender Pay Gap" zusätzlich Relevanz bekommen. Spätestens seit #MeToo sind wir uns alle bewusst, dass die Gesellschaft von einem geschlechtsspezifischen Machtgefälle durchzogen ist, an dem sich nur dann etwas ändern wird, wenn mehr Frauen in Schlüsselpositionen aufrücken. Die Forderung nach Frauen in Vollzeit scheint nicht nur als Schutz vor weiblicher Altersarmut und aus volkswirtschaftlichen Gründen geboten. Sie wirkt wie das gleichstellungspolitische Instrument der Stunde.

Für die Familien jedoch bedeutet dieser emanzipatorische Impuls einen doppelten Rückschritt.

Erstens: Kinder kommen in der Argumentation gar nicht vor. Das ist dieselbe Logik, mit der in den vergangenen 15 Jahren familienpolitischer Fortschritt vor allem am Ausbau von Krippenplätzen und Ganztagsschulen sowie in einer Ausweitung der Betreuungszeiten gemessen wurde. Die Fragen nach der Qualität der Angebote und dem Wohlbefinden der Kinder standen hinten an. Als wäre die 24-Stunden-Kita tatsächlich ein Ideal.

Zweitens: Das gesellschaftliche Leitbild der Zweiverdienerfamilie, das sowohl das Alleinernährer- als auch das Zuverdienermodell abgelöst hat, privatisiert den Preis dieser Entwicklung. Ich persönlich kenne keine Familie mit kleinen Kindern, in der beide Eltern Vollzeit arbeiten und in der das Gewebe des Alltags nicht auf Naht genäht wäre – mit Ausnahme vielleicht des luxuriösen Beispiels, in dem der Arbeitgeber eine in England ausgebildete Vollzeit-Nanny finanziert, die den Kühlschrank checkt, bevor sie das Jüngste aus der Krippe abholt, so dass samstags nicht einmal mehr der Wochenendeinkauf gemacht werden muss.

In allen anderen Fällen stehen Väter und Mütter unter Dauerstrom; die Kinder lernen zu funktionieren. Vielleicht seufzen die gehetzten Frauen selbstkritisch, sie müssten an ihrem Perfektionismus arbeiten und zum Kita-Sommerfest mal ohne selbstgebackenen Kuchen erscheinen. Aber wehe, das Kind ist länger krank als die zwei, drei Tage, die man als Paar untereinander aufteilen kann, ohne im Büro das Gesicht zu verlieren. Oder der Geschirrspüler geht kaputt. Das Vollzeit-Zweiverdiener-Modell ist chronisch am Anschlag. Puffer kennt es nicht.

Ich selbst wollte nie in Teilzeit arbeiten. Ich gehöre genau zu jenen Frauen, bei denen der "Mommy Effect" besonders stark zuschlägt, den Inge Kloepfer mit Bezug auf eine neuere angloamerikanische Studie beschrieben hat. Ich habe die Chancen überschätzt, mit Kind weiterzuarbeiten wie zuvor und meine berufliche Entwicklung voranzutreiben.

Die "emotionalen Kosten" des Mutterseins dagegen habe ich unterschätzt. Das Schlafdefizit. Die Schuldgefühle nach beiden Seiten, Familie und Arbeitgeber gegenüber. Die Erkenntnis, dass nicht nur meine Kinder gut betreut sein müssen, sondern dass auch ich sie schrecklich vermisse, wenn ich sie nach einem langen Redaktionstag abends nicht mehr sehe. Die Forscher benennen das ziemlich genau so, wie ich es erlebt habe. Ich ziehe daraus jedoch einen völlig anderen Schluss. Teilzeit bedeutet nicht, wie die Studie nahelegt, die Verschwendung von Ressourcen, weil aus mangelnder Voraussicht die eigenen Bildungsinvestitionen gewissermaßen aus dem Fenster geworfen würden. Meiner Meinung nach ist Teilzeit die angemessene und sehr vernünftige Antwort auf die Erfahrung, dass Zeit und Kraft endlich sind und dass ein Teil davon, wenn man Kinder hat, dringend auf diesem Feld des Lebens gebraucht wird.

In meinem Fall war das ein Lernprozess. In der Kitalotterie einer westdeutschen Großstadt hatten wir für unser erstes Kind ein Jahr nach der Geburt eine Art Trostpreis gezogen: einen sogenannten Zweidrittelplatz in einer kleinen familiären Krabbelstube. Die Eltern mussten reihum kochen und putzen, Abholen war nach dem Mittagsschlaf gegen 14.30 Uhr. Wir fluchten. Verlassen Sie mal eine Zeitungsredaktion um 14 Uhr! Da kommen die Kollegen gerade vom Mittagessen zurück. Aber wir hatten keine Wahl. Unserer Tochter ging es prima. Sie genoss die Nachmittage mit uns, zweimal die Woche Papa, zweimal Mama, einmal übernahm die Oma.

Ein knappes Jahr später wurde uns in der Einrichtung unserer Träume ein Nachrückerplatz angeboten. Eine große, professionell geführte Kita mit langen Öffnungszeiten, Bildungskonzept und eigener Küche: der perfekte Dienstleister für berufstätige Eltern. Nachdem wir den Vertrag unterschrieben hatten, wollten wir bei einem Glas Wein auf dem Balkon unser Glück feiern. Aber wir waren irgendwie gar nicht froh. Hatten wir eigentlich im Sinne unserer Tochter entschieden? Oder ging es um unsere Jobs? Ein Segen, dass sich der geplante Wechsel rückgängig machen ließ.

Seitdem ist in meiner Familie genau das passiert, was die sozialwissenschaftliche Forschung seit vielen Jahren beobachtet: Vor der Geburt der Kinder sind Männer und Frauen vergleichbar gut ausgebildet und erfolgreich und engagiert im Beruf. Anschließend kommt es zu einer Retraditionalisierung der Rollen. Wir haben inzwischen zwei Kinder, und mein Mann hat eine Karriere. Ich arbeite gern und viel, aber eben nicht voll, damit es zu Hause funktioniert. Manchmal ist es ziemlich stressig, und ich schreie ungerecht herum. Oft genieße ich es, dass ich diejenige bin, die miterlebt, wie die Kinder lossprudeln, wenn sie aus der Schule kommen. Von "Quality Time" habe ich nie etwas gehalten. Weder Trotzanfälle noch Teenager-Kummer richten sich nach verabredeten Zeitfenstern für intensives Beisammensein. Mit dem Alter der Kinder nehmen meine Spielräume wieder zu.

Schade eigentlich, dass der Feminismus zentrale familienpolitische Erkenntnisse dem konservativen, in vielen Fällen antiemanzipatorischen Lager überlassen hat. Wenn man die Meinung vertritt, dass Familien Zeit benötigen und Kinder ausreichend präsente Eltern, wenn man darüber hinaus noch findet, dass Sorgearbeit mehr gesellschaftliche Anerkennung verdient, klingt das schnell nach dem zu Recht als "Herdprämie" verspotteten Betreuungsgeld der CSU und nach Kristina Schröder. Meine Kollegin Inge Kloepfer hat für ihren Artikel mit der ehemaligen Familienministerin telefoniert, während diese gerade mit ihrem dritten Kind auf dem Arm in der Musikschule auf eine ältere Tochter wartete. Schröder, die sich aus der aktiven Politik verabschiedet hat und Teilzeit in einer Beratungsfirma arbeitet, die sie mit ihrem Mann gegründet hat, lebt die Behauptung, Frauen würden für die Kinder aus freien Stücken die Karriere zurückstellen.

Ich halte das für einen Trugschluss. Schröder verkennt, unter welchen gesellschaftlichen Zwängen Frauen ihre Teilzeitentscheidung treffen. Wenn 70 Prozent der Mütter, aber nur sechs Prozent der Väter teilzeitbeschäftigt sind, läuft grundlegend etwas schief.

Eigentlich liegt auf der Hand, was nötig wäre, um die Verhältnisse zu verändern. Nicht wir Frauen müssen von der Teilzeit lassen, sondern: Es braucht mehr Männer, die auch Teilzeit arbeiten. Es braucht Männer und Frauen, die in Teilzeit Führungsaufgaben übernehmen und Karriere machen, und dafür braucht es eine Arbeitswelt, die sich auf einen solchen Kulturwandel einlässt. Die Fiktion des flexiblen, mobilen, allzeit verfügbaren Beschäftigten, die aus Zeiten stammt, in denen die Hausfrau ihrem Ernährergatten den Rücken freihielt, ist für die Wirtschaft bequem. Sie passt aber nicht in eine Welt, in der Frauen wie Männer Verpflichtungen jenseits ihres Berufs wahrnehmen wollen und müssen. Da sind ja nicht nur die Kinder. Ohne Pflege, ohne Ehrenamt, ohne ein bisschen Vorsorge für die eigene Gesundheit funktioniert in dieser Gesellschaft nichts.

Zeitnot, schrieb die Familiensoziologin Karin Jurczyk kürzlich, sei die größte Herausforderung im Leben von Familien, und sie stellt klar: Es geht nicht um besseres Zeitmanagement im Einzelfall, sondern um ein strukturelles Problem, für das es gesellschaftspolitische Lösungen braucht. Jurczyk schlägt "atmende Lebensläufe" vor, in denen ein Zeitbudget für familiäres, aber auch gesellschaftliches Engagement und sogar Selbstsorge vorgesehen ist, auf das je nach persönlichem Bedarf und Lebenslage zugegriffen werden kann. Das wäre eine umfassende, finanziell abgesicherte und institutionalisierte Anerkennung von "Care".

Junge Paare brauchen genau das. Seit Jahren findet jede Studie zum Thema Vereinbarkeit heraus, dass Eltern sich eine gleichberechtigte Aufteilung von Arbeit und Kinderbetreuung wünschen. Als im Sommer 2015 das Elterngeld Plus eingeführt wurde, das solchen partnerschaftlichen Lösungen einen Weg ebnen soll, habe ich für diese Zeitung werdende Eltern befragt, wie sie sich ihre künftigen Rollen vorstellen. Einer der angehenden Väter, ein promovierter Naturwissenschaftler, hatte einen bahnbrechenden Plan. Damit er genug Zeit mit seinem Kind verbringen würde, damit auch seine Partnerin sich beruflich entwickeln könnte und damit das Paar sich die Hausarbeit gerecht würde teilen können, wollte er sich mit einem befreundeten Wissenschaftler gemeinsam auf Professorenstellen bewerben. Schon im Anschreiben wollten die Männer klarstellen, welche Ziele und Vorteile mit so einer geteilten Professur verbunden wären – für sie selbst, für ihre Frauen und Kinder, aber auch für die Gesellschaft und die Universität, die sich einer Pioniertat würde rühmen können.

Anderthalb Jahre später rief ich den jungen Mann an. Er hatte auf seine Bewerbungen nicht eine einzige Antwort bekommen.

Soviel zum Stand der Dinge.

Mit wohlwollender Neugier beobachte ich, wie junge Väter und Mütter im Bekanntenkreis sich schon jetzt wacker schlagen. Es gibt Familien, bei denen dank Elterngeld nach der Geburt des Babys alle gemeinsam zwei Monate zu Hause sind, um sich aneinander und das Leben zu dritt zu gewöhnen. Mittelschichtspaare, die es sich leisten können, nutzen die Vätermonate für eine lange Auslandsreise mit ihrem Kind. Ob sich die familienpolitische Leistung durch diese Umwidmung noch wie gewünscht auf die Rollenverteilung auswirkt, sei dahingestellt. Das andere mit dem Elterngeld verknüpfte Ziel, Mütter schneller wieder in den Beruf zu bringen und so ihre Erwerbstätigkeit abzusichern, empfinden die Paare offenbar nicht als drängend.

Wissenschaftlerinnen am Deutschen Jugendinstitut haben jüngst einen interessanten Befund veröffentlicht: In Familien, in denen Väter einen aktiven Part in der Kinderbetreuung übernehmen, heißt das nicht zwangsläufig, dass die Mütter an Zeit gewinnen würden. Im Gegenteil: Auch die Frauen kümmern sich verstärkt daheim. Offenbar gibt es ein genuines Bedürfnis, bei beiden Geschlechtern, einander nicht nur die Klinke in die Hand zu geben, um Arbeit, Kinder, Haushalt optimal aufeinander abgestimmt zu bewältigen. Die Studie legt nahe: Familien finden es einfach schön und wichtig, gemeinsam Zeit zu verbringen.

Als Teilzeitfrau bin ich davon alles andere als überrascht. Denn nicht die Teilzeit ist unser Problem. Die Vollzeitnorm macht Familien das Leben schwer.