Weil du Jude bist

von Verena Mayer und Thorsten Schmitz

Ein 14-Jähriger wird so lange geschlagen, getreten und gemobbt, bis er seine Schule in Berlin verlässt. Das ist seine Geschichte.

Paul macht jetzt Karate. Einmal die Woche trainiert er schlagen, blocken, treten. Er will sich wehren können, wenn er angegriffen wird. Nie wieder, hat er sich vorgenommen, will er ein Opfer sein. Nie wieder möchte er um sein Leben fürchten.

Mockup des nominierten Textes von Verena Mayer und Thorsten Schmitz von der SZ-Website
Süddeutsche Zeitung / BDZV

Paul sitzt in der Küche seiner Familie in Berlin-Charlottenburg. Altbauwohnung, Parkett, hohe Decken, Kunst an den Wänden. Paul hat seinen Rucksack mit den Sportsachen auf dem Schoß, er rutscht hin und her. Gleich muss er los, zum Training. Wenn Paul erzählt, wie er zum Opfer wurde, sagt er oft „das“. „Das“ sei ganz schön krass gewesen, oder, ja, heute würde er „das“ anders machen. Als wolle er seine Erfahrungen von sich abkapseln.

Pauls Geschichte ist die Geschichte eines Teenagers in Deutschland im Jahr 2017. Ein Junge, 14 Jahre alt, wird über Monate hinweg an seiner Schule beschimpft, gemobbt und geschlagen – weil er Jude ist. Zurück bleibt der verstörende Gedanke: Kann es in Deutschland keine Sicherheit geben für jüdische Schulkinder?

Pauls Mutter Emma Budinsky ist Britin und betreibt ein Cateringunternehmen, sein Vater ist Berliner und arbeitet für eine internationale Menschenrechtsgruppe. Gemeinsam mit Paul hat Emma Budinsky ein Gewaltprotokoll geschrieben. Sie legt es auf den Küchentisch. Es belegt, wie gefährlich es sein kann, wenn man sich an einer Berliner Schule als Jude zu erkennen gibt.

Paul freute sich auf seine neue Schule. Die alte in Potsdam hatte er im November verlassen, weil sie zu weit weg lag und ihm deren Schwerpunkt Film nicht gefiel. Paul steht auf Rap. Bekannte hatten der Familie die Schule in Friedenau empfohlen, „wegen der bunten Mischung, das fanden wir cool“, sagt die Mutter. Sie bittet darum, ihre Namen zu ändern, denn bis heute bekommt Paul hässliche Whatsapp-Nachrichten von früheren Mitschülern.

Du bist ein Babo, aber ich kann nicht mit dir befreundet sein.

Die ersten drei Tage auf der neuen Schule sind für Paul: cool. Seine Augen leuchten, wenn er von den anderen Jungs erzählt, von Eren etwa, der aus einer türkischen Familie stammt und Beats macht wie Paul. Dann ist Donnerstag, Ethikunterricht. Es geht um die verschiedenen Religionen, um Moscheen und Synagogen. Paul sagt, dass auch er schon mal in einer Synagoge war, „ich bin jüdisch“. Er wird angestarrt, auch von Eren, dem türkischen Klassenkameraden, mit dem er die Liebe zum Rap teilt. „Es wurde total still in der Klasse“, erzählt Paul, „und ich dachte, das ist ein Zeichen für etwas.“ Am nächsten Tag läuft Paul mit Eren zum Bus. Paul will sich zum Rappen verabreden, doch Eren sagt: „Du bist ein Babo, aber ich kann nicht mit dir befreundet sein.“ Weil er Jude sei, und „Juden sind egoistisch und Mörder und nur auf Geld aus“.

Paul sitzt in der Küche, er rekapituliert. „Ich habe erst mal überhaupt nicht gecheckt, worum es geht.“ Klar, er wusste, dass Rapper wie Bushido mit einer Landkarte vom Nahen Osten posieren, auf der Israel fehlt. Aber antisemitische Klischees waren ihm fremd. Nach Erens Verdikt, sagt Paul, sei er „eine Art Freiwild“ geworden. Ständig fragt man ihn: „Bist du wirklich Jude?“ Im Vorbeigehen wird Paul gerempelt und beschimpft, so, als sei das völlig normal. Im Protokoll steht: „Eren schubst mich mehrmals. Eslem und Binnur sagen zu mir einen Witz: Ein Jude sagt zum Spiegel an der Wand: Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist der Schönste im ganzen Land? – Du hast kein Land.“ Pauls Schulalltag wird zum Albtraum. Der endet erst, als seine Eltern ihn von der staatlichen Schule abmelden.

In den Pausen wird Paul getreten, geboxt, gestupst, manche Schüler schlagen ihm mit der flachen Hand in den Nacken. Immer sind es die Jungs, seltener auch Mädchen, mit arabischem, palästinensischem oder türkischem Familienhintergrund. Es gibt Nachmittage, da kommt Paul mit Blutergüssen nach Hause. Ein Schüler schleudert ihm „Fick Israel“ ins Gesicht, eine Schülerin ruft: „Türkei fickt Israel.“ Ein Schüler behauptet: „Alle Juden hassen Palästinenser.“ Gerüchte werden gestreut. Eines lautet, Paul habe gesagt: „Israel fickt Palästina.“ Paul sagt: „So rede ich gar nicht.“ Er hat einen leichten englischen Akzent und erzählt sachlich, als ginge es um eine Schulstunde. Seine Mutter wirkt aufgelöst. Paul hat noch zwei ältere Geschwister, aber nie, sagt Emma Budinsky, hätten sie etwas erlebt, das an „das“ heranreiche. Der britische Jewish Chronicle macht die Tortur publik, nachdem sich Pauls Eltern an ihn gewandt hatten, dann stürzen sich die Berliner Lokalzeitungen darauf (und illustrieren ihre Artikel mit einem orthodoxen kippatragenden Juden, obwohl die Budinskys nicht besonders religiös sind). Wie ein Schüler vor den Augen von Lehrern und Schulleitung gemobbt werden könne, über Monate hinweg, fragen sich seitdem Politiker und Bildungsexperten. Einige Eltern von Pauls Schule dagegen sind um den Ruf ihrer Schule besorgt. In einem offenen Brief klagen sie, die Berichterstattung sei „erschreckend unreflektiert“ und wirke sich „rufschädigend“ für die Schule aus. Es sei nun mal so, dass im Nahen Osten „ein nicht enden wollender Konflikt existiert“, Berlin könne „vor den Auswüchsen internationaler Konflikte nicht verschont bleiben“. Was Paul mit dem Nahostkonflikt zu tun hat? Nichts. Er ist in London geboren und in Berlin aufgewachsen. In Israel war er noch nie.

Im Eingang der Friedenauer Gemeinschaftsschule hängt ein Transparent. Man kann es leicht übersehen, es hängt sehr hoch. „Wir gehen freundlich und respektvoll miteinander um“, steht darauf. Es ist Freitagmittag. Langsam, ihre Köpfe über Handys gebeugt, verlässt eine Gruppe von vier Grundschülern das Gebäude.

„Ey, du Jude“, sagt einer der Jungs zu seinem Freund. „Was machst du jetzt?“

„Ich geh jetzt ficken, alter Jude.“

Alle vier lachen, klatschen zum Abschied Highfive, dann beugen sie ihre Köpfe über die Handys und verschwinden ins Wochenende.

Uwe Runkel leitet diese Schule seit neun Jahren. Ein Gespräch war ihm nicht ganz recht, er hat in den vergangenen Wochen Hunderte Hassmails bekommen. Er und seine Kollegen, ließ er in einem ersten Telefongespräch wissen, „wollen jetzt eigentlich in die Zukunft schauen und nicht schon wieder nacherzählen, was passiert ist“. Dann willigt er doch ein.  

Fast zwei Stunden beantwortet Runkel in seinem Büro Fragen, bei manchen ringt er um Antworten. Dass ein Schüler gemobbt wird, über Monate hinweg, sei ihm „nicht bewusst gewesen“. Er habe Paul sechs Stunden in der Woche in Mathe unterrichtet, „und mir ist nichts aufgefallen“.

Über sechzig Prozent seiner Schüler verfügen über eine nicht deutsche Herkunft, die meisten kommen aus arabischen oder türkischen Familien. Antisemitismus? Antiisraelismus? „Hier an der Schule“, sagt der Schulleiter, „ist das ein neues Thema.“ Runkel redet in langen, gefeilten Sätzen. Nach zwei Stunden räumt er ein: „Im Nachhinein muss ich sagen, hätte ich mich da eher persönlich einschalten müssen.“

Es gibt viele Projekte gegen Antisemitismus und Diskriminierung. Ich erwarte, dass diese auch genutzt werden.

Ein paar Tage nach dem Gespräch meldet Berlins Schulbehörde einen traurigen Rekord. Allein im ersten Halbjahr 2016/17 wurden dem Schulsenat 2069 Vorfälle gemeldet, darunter 1065 Beleidigungen, 431 schwere körperliche Gewalttaten, 228 Bedrohungen, 50 Mobbing-Attacken. Grund für die Gewalt: Rassismus, Hass, Homophobie, Antisemitismus. Will man mit Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) über Pauls Fall reden, erhält man von ihrer Presseabteilung eine lange, vorformulierte Mail mit Dutzenden Projekten zu Rassismus und Antisemitismus, Rahmenlehrplänen und zwei nichtssagenden Sätze der Senatorin: „Es gibt viele Projekte gegen Antisemitismus und Diskriminierung. Ich erwarte, dass diese auch genutzt werden.“

An der Friedenauer Schule gab es so ein Projekt, eines, das zurückschaut in die Vergangenheit: „Auf den Spuren der Friedenauer Juden“. In dieser Projektwoche hat auch Eren, der Paul die Freundschaft gekündigt hatte, ein Referat gehalten über Juden, die nicht mehr leben. Aber selbst der Schulleiter bezweifelt, ob so etwas nachhaltig ist: „Wir haben Projekte zu diesem Thema gemacht, aber ich frage mich: Wo bleibt das hängen bei unseren Schülern?“

Fast vier Monate lang wird Paul gemobbt, getreten und einmal so stark geboxt, dass ihm schwindelig wird und er glaubt, sich übergeben zu müssen. Zwei kurze E-Mails hat Runkel bis dahin den Eltern geschrieben. Nach vier Monaten sitzt er ihnen zum ersten Mal gegenüber. Das Gespräch verläuft in angespannter Atmosphäre. Pauls Eltern bitten Runkel, sofort in allen Klassen über Rassismus und Antisemitismus zu reden. Der Direktor entgegnet, es müsse eine „gründliche Vor- und Nachbereitung“ geben, alles sei „in einen schulischen Kontext einzubetten, dass es nachhaltig ist“. Dann sagt er einen Satz, der zum Ende des Gesprächs führt und dazu, dass Pauls Eltern den Jewish Chronicle informieren. „Ihr Aktionismus“, sagt Runkel, „bringt uns nicht weiter.“

Runkel, 51, stammt aus Frankfurt. Aus privaten Gründen hat er sich 2008 nach Berlin versetzen lassen. Die vergangenen Jahre hat er damit verbracht, mehrere Kiezschulen zur Friedenauer Gemeinschaftsschule zu fusionieren. In einer Stadt, in der Schulen so lange kaputtgespart werden, dass es oft nicht mal für funktionierende Toiletten reicht, hat Runkel einen guten Job gemacht. Wäre er allerdings ein Politiker, würde man sagen, er hat den Kontakt zur Basis verloren, dem Geschehen auf dem Schulhof. Es gibt zum Beispiel keine Konfliktlotsen, also Schüler, die Verantwortung haben, bei Streit eingreifen und schlichten, etwas, was an Schwerpunktschulen seit Langem üblich ist.

Vor Kurzem hat der Expertenkreis Antisemitismus im Berliner Reichstag seinen neuen Bericht vorgestellt. Auf 300 Seiten stellen neun Wissenschaftler dar, wie sich antisemitische Einstellungen in Deutschland aktuell entwickelt haben. Eine Zahl ist besonders erschreckend: Während der „klassische“ Antisemitismus zurückgehe, finde der „israelbezogene Antisemitismus“ bei 40 Prozent der Bevölkerung Akzeptanz. Eine weitere Kernaussage: Immer mehr Juden in Deutschland verheimlichten, dass sie Juden seien. Aus Angst. Und: Der Hass auf Juden komme immer mehr aus der Mitte der Gesellschaft.

Ich bediene keine Juden.

Antisemitische, antiisraelische Vorfälle sind in Berlin keine Seltenheit. 470 Vorfälle gab es allein letztes Jahr – offiziell. Manche Juden trauen sich in Stadtteile wie Neukölln oder Wedding nicht mehr hinein. Aber es gibt auch bürgerliche Orte wie Schöneberg, wo man als Jude nicht sicher sein kann. Unweit der Friedenauer Gemeinschaftsschule ist ein Rabbiner von vier arabischen Jugendlichen zusammengeschlagen worden, sie brachen ihm das Jochbein. In einem Schnellimbiss auf dem Alexanderplatz hat eine Bedienung einem israelischen Touristen gesagt: „Ich bediene keine Juden.“ Im Treptower Park wurde ein Jude zusammengeschlagen, in Neukölln ein Kippa tragender Israeli bespuckt. In allen Fällen hatten die Täter arabische oder türkische Wurzeln. Wer sind diese Jugendlichen? Wie denken sie?

Zu dritt, hatten die Jungs zugesagt, würde man sie auf dem Karl-Marx-Platz treffen können für ein Gespräch, im Herzen von Neukölln. Man hatte sie einfach auf einer Demonstration am 1. Mai angesprochen. „Geht klar“, hatten sie gesagt. Eine halbe Stunde vergeht, 40 Minuten, dann eine Textnachricht. „Sind gleich da.“ Es kommen dann nur zwei. „Unser Kumpel pennt noch“, sagt Mustafa. Elf Uhr sei dem Kumpel „zu früh“. Es ist Mittwoch. Mustafa und sein Freund stammen aus türkischen Familien, geboren sind sie in Berlin. Von der Welt kennen sie Kreuzberg und die Küstenvororte bei Izmir, wenn die Verwandten besucht werden, alle zwei Jahre. Sie tragen schwarze Jogginghosen, schwarze Baseballkappen, auf denen gelbe Hammer und Sichel prangen. Sie sympathisieren mit dem Berliner „Jugendwiderstand“, einer polizeibekannten Gruppe Jugendlicher, die Marx verehren und die Palästinaflaggen auf Neuköllner Bolzplätzen anbringen, auf denen „Fick Israel und die USA“ steht.

Sie zünden sich Zigaretten an, setzen sich auf die Rückenlehne einer Parkbank und überlegen, wen sie noch treffen könnten. Schule? Wird geschwänzt, so oft wie möglich. Die Lehrer? „Alle schwul.“ Ja, sagt Mustafa, er habe von dem jüdischen Jungen gehört, der weggemobbt wurde. „Voll korrekt“, sagt er. „Denen“ gehöre doch „die ganze Welt“. Denen? „Den Israelis.“ Dass Paul aus London stammt, noch nie in Israel war und Berlin sein Zuhause ist, halten die 15 und 16 Jahre alten Jungs für eine Erfindung. Ein Durchdringen in ihr Gedankengebäude ist nicht möglich. „Den Juden“, sagt Mustafa, „gehört doch alles, Coca-Cola und Google und so. Die lassen unsere Brüder im Gazastreifen verhungern.“

Eine Dreiviertelstunde kann man mit den beiden verbringen, über Israel reden, Hamas, Juden, Muslime und über die Männer vom IS. Und alles, was aus ihrem Mund kommt, klingt wie die Videos, die sie einem auf ihren Smartphones zeigen. Videos mit Bildern vom Gazastreifen nach einem israelischen Luftangriff und Premierminister Netanjahu in SS-Uniform. (Das sind noch die harmloseren Videos.)

Und die vermitteln: Wenn man Juden schadet, beweist man besondere Stärke.

Ein paar Kilometer weiter sitzt Aycan Demirel in seinem Büro. Demirel arbeitet für die „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“. Nicht weit von hier liegt eine Synagoge, die schon öfter mit Molotowcocktails angegriffen wurde. Demirel hat die Studie des Expertenkreises Antisemitismus mit verfasst. Muslimische Jungs wie Mustafa kennt er. Diese machten in Deutschland ständig Diskriminierungserfahrungen. Aus dem Gefühl heraus, ein Opfer zu sein, suchten sie sich dann Identifikationsfiguren, die versprechen, sich im Namen des Islam zu wehren, oft seien das Mitglieder von Hamas und Hisbollah. „Und die vermitteln: Wenn man Juden schadet, beweist man besondere Stärke.“

Früher, sagt Demirel, seien türkische Jugendliche kaum mit Judenfeindlichkeit aufgefallen, „das hat sie nicht berührt“. Seit sich die Beziehungen zwischen Israel und der Türkei verschlechtert haben, sei das allerdings anders: „Da kommt viel aus den Elternhäusern.“

Es muss eine breite, öffentliche Ächtung von Antisemitismus geben. Das geht uns alle an.

Wie lässt sich dieser Antisemitismus bekämpfen? Nicht so, sagt Demirel, wie es an deutschen Schulen üblich sei. „Viele glauben, wenn man die deutsche Geschichte bearbeitet, hat man die Schüler gewissermaßen geimpft. Es ist zwar immer gut, Synagogen und Gedenkstätten zu besuchen. Aber gegen Ideologien und Verschwörungstheorien hilft das wenig.“ Sondern? Lehrer müssten geschult, mit Jugendlichen geredet und muslimische Gemeinschaften einbezogen werden. „Es muss eine breite, öffentliche Ächtung von Antisemitismus geben“, sagt er. „Das geht uns alle an.“

In ihrer Wohnung in Charlottenburg holt Emma Budinsky einen dicken Ordner hervor, es ist die Korrespondenz mit Pauls Schule. Mails an Schulleitung, Lehrerinnen, Sozialarbeiterin. In den Mails bitten sie dringend um Hilfe und machen Vorschläge, wie die Schule gegen „den grassierenden Rassismus“ vorgehen könne. Selbst Pauls Großeltern stellten sich als Zeitzeugen zu Verfügung. Der Großvater hat den Holocaust in einem Versteck in Berlin überlebt. Seine Geschichte hat er auch Pauls Klasse erzählt, auch, wie er nach dem Krieg weiter litt, auf einem Berliner Jesuitengymnasium. Dort beschimpfte man ihn als Jude. Er hielt das Mobbing nicht mehr aus und versuchte, sich mit Tabletten das Leben zu nehmen. 14 Jahre war er damals, so alt wie Paul heute.

Emma Budinsky sagt, sie hätten all die Wochen „Hoffnung gehabt, dass das wieder aufhört“. Von der Schule hätten sie sich im Stich gelassen gefühlt. Es habe zwar Gespräche mit einer Lehrerin und ein Treffen mit einer Sozialarbeiterin gegeben. Aber eigentlich sei Paul als Opfer nicht ernst genommen worden. Emma Budinsky trinkt einen Schluck Tee, hält inne. „Das klingt jetzt hart“, sagt sie, „aber manchmal hat mich das an diese Vergewaltigungsprozesse erinnert, in denen nur dem Täter geglaubt wird.“

Sie kann sich noch gut an jenen Tag im März erinnern, als Paul verstört nach Hause kam. Paul will diese Geschichte nicht selbst erzählen, der Schock sitzt zu tief, noch immer. So spricht seine Mutter für ihn. Paul ist auf dem Weg zum Sport, als ihm ein Junge aus der 10. Klasse von einer Bushaltestelle aus zuruft, er solle mal herkommen. Paul denkt nichts Böses, geht hin. Der Junge nimmt ihn in den Schwitzkasten und würgt ihn, dann zieht er eine täuschend echt aussehende Spielzeugpistole hervor und tut so, als wolle er Paul erschießen. Von diesem Moment an, sagt Pauls Mutter, „wusste ich: Mein Sohn ist an dieser Schule nicht mehr sicher“.

Schuldirektor Runkel hat Strafanzeige erstattet gegen die Schüler von der Bushaltestelle, die Ermittlungen wegen Verdacht auf gefährliche Körperverletzung und wegen Antisemitismus dauern an. Ein Junge, der Paul geboxt hatte, nimmt wieder am Unterricht teil. Die Lehrer waren auf einer dreitägigen Antidiskriminierungsfortbildung, die Schüler hatten Workshops, bei denen sie sich über eigene Diskriminierungserfahrungen austauschen konnten. Pauls Eltern haben mit dem Justizsenator gesprochen und mit Mitgliedern des Bundestags. Berliner Imame haben sich in einem offenen Brief gegen Judenhass ausgesprochen. Das sei „immerhin ein Gutes“, sagt Emma Budinsky, dass über Antisemitismus geredet werde. Gut täten auch Briefe von Mitschülern und Lehrern, die Paul schreiben, sie vermissten ihn und würden sich freuen, wenn er zurückkehrte.

Doch Paul wird nicht zurückkehren. Er geht jetzt auf eine internationale Schule, in seiner Klasse sind sie vier Juden. Sein Körper ist drahtig, das Karatetraining schlägt an. Wie es ihm geht? Gut, sagt er. „Sicherer und selbstbewusster“ fühle er sich. Und er wisse, dass ihm „das“ nicht mehr passieren werde. Woher die Gewissheit kommt? „In Zukunft“, sagt er, „sage ich einfach nicht mehr so schnell, dass ich Jude bin.“