Wer seid ihr?

Von Nicole Bastian und Jens Münchrath

Am Anfang war nicht das Wort, sondern das Bild. Es zeigte uns afrikanische Menschenmengen, die auf winzigen Schlauchbooten versuchten, übers Mittelmeer nach Europa zu kommen. Große Verzweiflung in winzigen Nussschalen. Jeden Tag kamen mehr Fotos von mehr Flüchtlingen, von denen auch immer
mehr tragisch ums Leben kamen auf ihrer Odyssee. Aber noch waren diese Menschen weit weg. Und die Bilder blieben stumm, auch wenn sie in uns nicht nur Mitleid und Entsetzen auslösten, sondern auch eine diffuse Sorge, was da noch kommen mag.

Tatsächlich war die Flucht von Eritreern, Somaliern oder Nigerianern vor Armut, Hunger und Gewalt erst der Anfang. Es kamen Iraner, Afghanen und Syrer. Irgendwann machten sich auch Kosovaren auf den Weg, Albaner und Mazedonier, die keine Zukunft mehr sehen in ihrer Heimat, obwohl die nun schon in
Europa liegt. Und sie alle landeten plötzlich auch an deutschen Bahnhöfen, in Sporthallen und schnell errichteten Container-Camps in unserer Nachbarschaft.

Allein zwischen Anfang Januar und Ende Juni zählten die 28 Länder der Europäischen Union 398.890 neue Asylbewerber. Die Statistiker von Eurostat addieren das akribisch. Und mehr als ein Drittel der Flüchtlinge wählte Deutschland als Fluchtpunkt.

Da stehen wir heute. Und dabei wird es nicht bleiben. Wenn Vizekanzler Sigmar Gabriel recht behält, muss die Bundesrepublik bis Ende des Jahres mit insgesamt einer Million Flüchtlinge rechnen. Das kann die romantischste »Refugees Welcome«-Bewegung mit Willensbekundungen allein nicht mehr abfedern.
Was sich hier ankündigt, ist letztlich eine neue Weltordnung mit neuen, auch ökonomischen Chancen und Risiken: Helfen die Neuankömmlinge, den demografischen Wandel zu bewältigen? Beflügeln sie Arbeitsmarkt und Innovationskraft des alten Europas? Oder schaffen sie neue Probleme für Sozial- und Bildungssysteme?

Die globale Vernetzung ist an den Völkerwanderungen der Jetztzeit nicht ganz unschuldig. Zwar propagierten wir immer gern, dass das Internet aus der Welt ein Dorf mache. Aber letztlich hielten die Industriestaaten Kommunikation für eine Einbahnstraße: Wir sehen den Rest der Welt, aber der nicht uns.

Es kam anders: Auch die ärmsten Regionen der Welt haben sich mittlerweile ein Bild gemacht. Von uns. Es zeigt Wohlstand und Freiheit. Das wichtigste Utensil der Neuankömmlinge ist deshalb jenes, das auch unser Leben revolutioniert hat: das Smartphone. Es fungiert als Routenplaner in die neue Welt und wichtigste Verbindung in die alte, zu weit entfernten Familien und Freunden.

Die Herausforderung für uns Etablierte hat gerade erst begonnen. Umso erstaunlicher ist es, wie dünn der Firnis unserer Zivilisation und unserer Werte schon geworden ist: Da streiten sich europäische Regierungschefs um Quoten. Da werden Gesetze und Gewissheiten wie das Schengen-Abkommen einfach außer Kraft gesetzt und Grenzzäune hochgezogen, um Werte zu verteidigen, die
wir genau dadurch womöglich riskieren.

Und wieder kommen Bilder – diesmal von der ungarischen Kamerafrau, die einem Mann mit Kind in die Füße tritt zum Beispiel. Bilder provozieren immer Gefühle, gute wie bösartige. Das Foto des toten dreijährigen Aylan am Strand von Bodrum hat zwar nichts verändert, aber die westliche Gefällt-mir-Welt von Facebook, Twitter & Co. in eine kurze Schockstarre versetzt. Die Fotos des Lkws, in dem kurz davor 71 Menschen qualvoll erstickt waren, hatte man zu diesem Zeitpunkt schon wieder verdrängt. Zugleich gibt es auch die anderen Bilder, die von den Völkerwanderungen auf den Autobahnen gen Westen.

Bilder sind wichtig, aber sie diskutieren nicht, sondern schreien: »Empört euch! Freut euch! Trauert!« Bilder appellieren an Instinkte, wo angesichts der Herausforderungen nüchterner Verstand dringend gebraucht wird. Verstand wiederum braucht Sprache, um Probleme zu diskutieren und Lösungen zu finden. Das geht nur gemeinsam mit den Neuankömmlingen. Sie müssen uns verstehen und wir sie.
Deshalb haben wir uns entschlossen, den noch immer auffällig Stummen, die nun so vielsprachig sprachlos unter uns gestrandet sind, in dieser Ausgabe ihre Stimme zurückzugeben. Ein mehr als 30-köpfiges Handelsblatt-Team hat ihnen zugehört oder sie selbst schreiben lassen. Männer und Frauen, Künstler, Unternehmer, Ingenieure, Ärzte, die eines gemeinsam haben: ihre Flucht. Manche
haben noch immer Angst und wollen ihren vollen Namen nicht in einer Zeitung lesen.

Das Projekt will nichts verklären oder beschönigen, sondern »schreiben, was ist«, wie Spiegel-Gründer Rudolf Augstein das einst nannte. Deshalb geht es auf den folgenden Seiten auch um die ethnischen Konflikte, die das Flüchtlingsproblem nun nach Deutschland trägt. Um misslungene Integrationsversuche.

Amir Kassaei, Topwerber und einst selbst auf der Flucht vor dem ersten Golfkrieg, zeigt sogar Verständnis für Ängste von Pegida-Anhängern und mahnt die Neuankömmlinge, sich schnell anzupassen. Nur so könne Integration gelingen. Zugleich hofft er, dass wir Deutschen es ernst meinen mit unserer neuen Gastfreundschaft. Je früher wir den Dialog beginnen, umso besser. Erst wer miteinander spricht, kann sich wirklich ein Bild machen.


HANDELSBLATT
Nr. 185 vom 26. September 2015