Gebt Souveränität ab!

Von Ulrich Wilhelm

Statt der Illusion, Deutschland und andere Länder würden ohne Mitspracherechte für die Schulden Dritter einstehen, brauchen wir eine führungskräftige politische Union. Ohne Übertragung von Souveränität auf ein gemeinsames Europa kann keine nationale Demokratie eine so gewaltige Solidaritätsleistung dauerhaft stemmen, wie sie die Schuldenkrise Europa abverlangt.

Die Zukunft des Euro ist weltweit in vielen Hauptstädten eine der drängendsten Fragen. Was uns droht, wird in Regierungen und Unternehmen auf allen Erdteilen offen ausgesprochen: Europa als Integrationsmodell steht an einem Scheideweg. Die politisch Handelnden in der EU werden in den kommenden Monaten folgenschwere Entscheidungen treffen müssen. Die Diskussion führt - realistisch betrachtet - auf die Wahl zwischen drei Handlungsoptionen hin: schwerer Missbrauch der Europäischen Zentralbank (EZB), Scheitern der Währungsunion in ihrer heutigen Konstellation oder der Weg in die Politische Union.

Europa muss eine klare Antwort finden auf die Frage, die hinter den Zweifeln an der Überlebensfähigkeit des Euro steht. Ist Europa eine wirkliche Gemeinschaft? Erst wenn diese Frage beantwortet ist, werden die Wetten auf den Zerfall der Währungsunion scheitern. Der Versuch, sich durchzulavieren mit punktuellen Rettungsmaßnahmen, ist keine befriedigende Antwort. Viele Regierungen in Europa halten die Schaffung einer wirklichen Gemeinschaft bei ihren Bürgern für am wenigsten durchsetzbar und führen die Diskussion deshalb nicht.

Die Folgen unzureichender Vergemeinschaftung

Für die notwendige öffentliche Debatte, welcher Weg der richtige ist, gilt es, historische, politische, ökonomische und verfassungsrechtliche Aspekte gleichermaßen zu bedenken und sich vor Augen zu führen, warum wir überhaupt in diese Lage gekommen sind.

Vieles von dem, was heute passiert, haben Fachleute schon bei der Gründung der Wirtschafts- und Währungsunion vorhergesehen. Die Mitgliedstaaten haben bei Einführung des Euro ihre volle Souveränität bei der Aufstellung ihrer Haushalte und der sozialen Leistungen behalten. Statt der geforderten Vergemeinschaftung dieser Politik wurde lediglich ein Stabilitätspakt mit den sogenannten Maastricht-Kriterien geschlossen. Dieser erwies sich am Ende als zu schwach und wurde darüber hinaus noch Stück für Stück aufgeweicht.

Wechselkursrisiko trotz Währungsunion

Dennoch war das Zinsniveau in den ersten zehn Jahren für alle Euroländer nahezu gleich, obwohl ihre Wettbewerbsfähigkeit stark unterschiedlich blieb und die Solidität der Haushalte die anfängliche Konvergenz nicht fortsetzte. In der Folge der Lehman-Krise Ende 2008 veränderten die Finanzmärkte die bisherige Bewertung der Eurozone und stellten in ihren Analysen die Ungleichgewichte und die auseinanderklaffende Wettbewerbsfähigkeit immer mehr in den Vordergrund.

Letztlich kehrte das Wechselkursrisiko wieder zurück, als der Austritt einzelner Länder aus der Währungsunion für möglich gehalten wurde. Dies verstärkte die Spreizung der Zinssätze weiter und Länder wie Spanien und Italien müssen immer mehr für die Aufnahme neuer Gelder bezahlen, während der deutsche Finanzminister für seine neuen Schulden kaum noch etwas bezahlen muss.

Eine klare Antwort auf die Fragen der Investoren

Finanzwetten und Spekulation können ihre zerstörerische Kraft nur entfalten, wenn die alles entscheidende Frage unbeantwortet bleibt: Was ist die wahre Natur Europas und des Euroraums? Hält der je-weils nationale Diskurs in den Mitgliedstaaten an der Idee der Integration fest, auch wenn die Lasten für die Geberländer exorbitante Höhen erreichen und die Nehmerländer politisch schwer durchsetzbare Einsparungen erbringen müssen?

Auf diese Frage von Investoren weltweit müssen wir Europäer eine klare Antwort geben. Keine klare Antwort wäre etwa die Einführung einer Schuldenunion ohne Politische Union, Gemeinschaftshaftung ohne Kontrolle ist kein tragfähiges Modell. Das Misstrauen gegen den Euro könnte so nicht wirksam gestoppt werden. Im Gegenteil: In einem Währungsraum, der seine Verschuldungsanreize nicht im Griff hat, weil Länder die Folgen unsolider Finanzpolitik auf andere abwälzen können, wird niemand gern investieren.

Mit dieser Prämisse einer ideell tragfähigen, klaren Antwort gilt es, die in der EU diskutierten Handlungsoptionen auf ihre Konsequenzen abzuklopfen:

Erstens.

Nicht nur insgeheim, sondern zunehmend lautstark wünschen sich viele internationale Anleger und Finanzinstitutionen eine Lösung der Euro-Krise durch den ungebremsten Einsatz der Notenpresse der EZB. Sie soll, so diese Stimmen, nach dem Vorbild anderer Währungsräume unbegrenzt Staatsanleihen kaufen und selbst die Finanzierung der Staatshaushalte übernehmen. Sosehr sich die Finanzmärkte darüber freuen würden: Für den Rechtsstaat und die Demokratie wäre dieser Weg unerträglich. Die Finanzierung von Staatsdefiziten durch die Notenbank ist im EU-Recht ausdrücklich ausgeschlossen. In Artikel 123 der EU-Verträge heißt es: „Kreditfazilitäten bei der EZB für Regierungen sind ebenso verboten wie der Erwerb von Schuldtiteln von diesen durch die EZB.“

Für jeden Zeitzeugen ist klar erinnerlich, dass Bundestag und Bundesrat 1998 den Eurovertrag nicht ratifiziert hätten, wäre die EZB nicht nach dem Vorbild der Bundesbank errichtet worden. Eine Zustimmung zum planvollen Ankauf von Staatsanleihen durch die EZB hätte es im Vertrag mit der Bundesrepublik Deutschland und weiteren Euroländern niemals gegeben.

Europa ist auf die Idee von Rechtsstaat und Demokratie gegründet. Der Rechtsstaat europäischer Prägung, der für jedes hoheitliche Handeln eine rechtliche Grundlage fordert, ist wahrscheinlich die größte zivilisatorische Leistung der Menschheit. Ein Einsatz der EZB ohne vertragliche Grundlage, d.h. gegen die Entscheidung der Parlamente tritt den Rechtsstaat mit Füßen. Europa gibt sein wichtigstes Erbe auf, wenn die „Rettung“ des Euro auf einem systematischen Rechtsbruch gründet. Der Hinweis auf den Charakter eines Notstands für viele Eurostaaten, in dem auch besondere Maßnahmen erlaubt sein müssen, geht fehl. Das Bundesverfassungsgericht hat unmissverständlich deutlich gemacht, dass die Tragweite der damaligen Zustimmung von Bundestag und Bundesrat zum Euro-Vertragsgesetz nicht überdehnt werden darf. Bereits der bisherige Einsatz der EZB, mittelbar und unmittelbar, beim Ankauf von Staatsanleihen ist hochproblematisch.

Wenn die Geldpolitik in den Dienst der Fiskalpolitik gestellt wird, ist ihre Ausrichtung auf die Inflationsbekämpfung in Frage gestellt. Geldentwertung jedoch trifft vor allem die sozial Schwachen, die nicht in Sachwerte gehen können, und ist eine große Gefahr für die soziale Stabilität einer Gesellschaft.

Zweitens.

Eine Politik, die auf ein Auseinanderbrechen der Eurozone setzt oder dies zumindest in Kauf nimmt, müsste schwerwiegende Verwerfungen hervorrufen. Bei einem Ausscheiden von mehreren Mitgliedstaaten kämen auf Deutschland und die anderen verbleibenden noch leistungsfähigen Staaten gewaltige Unterstützungszahlungen zu. Hohe Ausfälle in den Bilanzen der EZB, der Bundesbank, der Banken und für den Bundeshaushalt wären unausweichlich.

Zudem würde ein enormes Potential von Enttäuschung und Aggression bei Millionen von Bürgern in der gesamten EU anwachsen: Im Süden des Kontinents hieße es, dass der Norden sie trotz vieler Opfer, gerade in den Mittelschichten, mit Rentenkürzungen, Gehaltskürzungen und hoher Arbeitslosigkeit fallengelassen habe. Im Norden dagegen gäbe es die weitverbreitete Haltung, viele hundert Milliarden gegeben zu haben und doch gescheitert zu sein. Es ist zu befürchten, dass dies die Stunde für Demagogen und klebrige Ressentiments wäre.

Ein Klima der aufgeheizten Stimmungen trifft unweigerlich den Binnenmarkt und das Zusammenleben in den Institutionen der EU schwer. Angesichts vieler offener Rechnungen wäre die Gefahr von Protektionismus, Verweigerung bei Kompromissen und damit einer Renationalisierung sehr groß. Wer eine solche Entwicklung in Kauf nähme, muss ernsthaft die Frage beantworten, ob ein Zurück zu mehr Nationalstaat die großen Fragen unseres Kontinents lösen kann.

Nicht nur in der EU, sondern überall in der Welt haben Nationalstaaten die Erfahrung gemacht, dass sie aus eigener Kraft Sicherheit, Wohlstand, den Schutz der Umwelt und den Frieden nicht mehr garantieren können. Gerade Deutschland in der Mitte Europas ist besonders angewiesen auf ein integriertes Europa. Ohne die Einbettung in die EU wäre die deutsche Einheit nicht gelungen, Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg nicht in dieser Weise zu einem hochrespektierten Mitglied der europäischen Familie gewor-den. Auch ein weiteres muss gerade Deutschland bedenken: Ohne die Einbettung in einen starken und dauerhaften Binnenmarkt stünden die sozialen Sicherungssysteme unseres besonders von Überalterung betroffenen Landes auf tönernen Füßen. Die junge Generation in Deutschland würde einen dramatisch hohen Preis bezahlen, wenn die Integrationskraft Europas nachlässt.

Eine Sondersituation mag im Fall Griechenland gelten: Anders als beispielsweise Spanien oder Portugal hat Griechenland leider deutlich weniger funktionsfähige staatliche Strukturen. Zudem hat Athen die Voraussetzungen für die Aufnahme in die Währungsunion zu keinem Zeitpunkt erfüllt. Deshalb belastet das Thema Griechenland die Glaubwürdigkeit des Euro in besonderer Weise.

Drittens.

Nachdem die Gründung einer Politischen Union aufgrund fehlenden Konsenses in der EU zum Start des Euro nicht gelang, blieb die Erwartung, der Euro werde die Politische Union bald erzwingen. Tatsächlich blieb die Bereitschaft zu einem dauerhaften Souveränitätsverzicht bei der Haushalts-, Steuer- oder Sozialpolitik in den meisten Ländern gleich null. Die zehn Jahre andauernde Angleichung der Zinsen auf niedrigem Niveau schuf für die leistungsschwächeren Staaten Südeuropas sogar einen Wohlstandsschub. Angesichts dieser Prosperität und eines stabilen Außenwerts des Euro sahen manche die These schon widerlegt, dass eine Währungsunion ohne Politische Union nicht funktionieren kann.

Leider rächen sich Lebenslügen immer, und die nächste Illusion steht vor der Tür. Die Illusion, dass Deutschland und andere leistungsstärkere Länder für die bestehenden und künftigen Schulden anderer eintreten und haften werden, ohne dass sie entscheidend Mitsprache erhalten. Ohne Souveränitätsübertragung auf ein gemeinsames Europa kann keine nationale Demokratie auf Dauer eine so gewaltige Solidaritätsleistung stemmen.

Das müssten eigentlich alle beteiligten Regierungen wissen. Weil sich die Parteiendemokratien europäischer Prägung stark ähneln, fällt es leichter, die Gefühlslage, die Stimmungen und die politische Belastbarkeit der Partnerländer realistisch einzuschätzen. Die Geber kennen die Grenzen des Sparens in den Nehmerländern. Wir wissen, welche Opfer und wie viel Verzicht auf Sozialleistungen eine gewählte Regierung verkraften kann. Ebenso wissen wir, dass Geber-Regierungen nicht Transferzahlungen über Tausende Millionen Euro durchsetzen können, ohne ihren Bürgern aufzuzeigen, dass dadurch mehr Solidität und Stabilitätskultur im Euroraum entsteht.

Eine Politische Union fordert zwingend die Abgabe von Souveränität an die europäischen Institutionen. Sie würde nicht einen Bundesstaat nach dem Muster der Bundesrepublik oder der Vereinigten Staaten bedeuten. Klar ist aber, dass das Europäische Parlament bei einer wirklich gemeinsamen Ausübung von Kompetenzen der Haushalts-, Steuer- oder Sozialpolitik anders aussehen müsste als heute. Um dem demokratischen Grundsatz Genüge zu tun und gleichzeitig eine angemessene Repräsentanz aller Mitgliedstaaten sicherzustellen, brauchte das Parlament zwei Kammern. Die erste Kammer würde die Bevölkerungsstärke proportional abbilden. Raum für eine überproportionale Berücksichtigung der kleinen Länder wäre in einer zweiten Kammer.

Ab welchem Punkt eine Politische Union aus verfassungsrechtlichen Gründen eine Volksabstimmung in Deutschland erfordert, ist vom Bundesverfassungsgericht zu klären. Allerdings muss die Politik die innere Bereitschaft haben, ein solches Referendum, falls nötig, zu bestehen. Eine Mehrheit in Deutschland kann überzeugt werden, auch wenn berechtigte Skepsis zu überwinden ist. Tatsächlich sind auch überzeugte Europäer durch die Ereignisse der zurückliegenden zwei Jahre erheblich ernüchtert.

Wenn Skeptiker das Fehlen einer europäischen Öffentlichkeit und europäischer Medien als großes Defizit der europäischen Willensbildung kritisieren, ist ihnen nicht zu widersprechen. Wer einen zu geringen Austausch zwischen den einzelnen europäischen Ländern feststellt, hat recht. Setzen wir in die anderen europäischen Länder dasselbe Vertrauen, das wir in uns setzen?

Vertrauen beispielsweise die deutschen Verfassungsrichter darauf, dass ihre Kollegen in Frankreich, Italien oder Spanien dieselben hohen Standards zum Schutz der Grundrechte und des Rechtsstaats anlegen? Vertraut die Bundesbank den Notenbanken in diesen Ländern ebenso wie ihrer eigenen Tradition? Vertrauen die Parteien innerhalb der europäischen Parteifamilien auf die Möglichkeit der Konsensfindung so wie bisher im nationalen Rahmen? Wer bei diesen Fragen schwerwiegende Zweifel hat, ist kein Exot. Und viele Erfahrungen des „real existierenden Europa“ wie etwa die Unfähigkeit, den Subsidiaritätsgedanken zu leben, bestärken alle Zweifler.

Zurück zur ursprünglichen Kraft der Europäischen Union

Richtig ist: Es gibt keine Garantie des Gelingens. Aber die europäische Integration ist eine der stärksten und kraftvollsten Veränderungen der Welt in Jahrzehnten. In einer Welt mit über acht Milliarden Einwohnern, mit einer entstehenden Weltöffentlichkeit, einer globalisierten Weltwirtschaft, großen Migrationsbewegungen, Rohstoffknappheit und weltumspannenden Technologien werden die Staaten Europas nur gemeinsam bestehen.

Von außen werden wir vielfach längst als Einheit wahrgenommen: Europa steht für ein einheitliches Sozialmodell, wonach eine Gesellschaft auf Konsens aufgebaut ist. Auf unserem Kontinent werden Aufstiegschancen durch Bildung ermöglicht. Unser Gesellschaftsmodell ist schichtenübergreifend durchlässig. Europa wird wahrgenommen als eine Gemeinschaft, die Verantwortung in der Welt übernimmt - für Freiheit und Menschenrechte und sich dabei nicht allein von wirtschaftlichen Interessen leiten lässt. Darauf können wir stolz sein.

Was die Europäische Union dringend braucht, ist eine Rückbesinnung auf die Kraft ihrer Anfänge: Die Idee von de Gaulle, Adenauer und de Gasperi, angesichts von Verwüstung und Krieg ein gemeinsames Europa aufzubauen und sich über den Gräbern von Millionen Kriegstoten die Hand zu reichen, schien vielen Zeitgenossen ebenso kühn und unlösbar wie vielen heute die Verwirklichung einer echten Politischen Union.

Die Regierungen in Europa haben die Chance, die Dynamik der Krise umzukehren und offensiv das Notwendige anzugehen: die Schaffung einer Politischen Union.