Offenherzig, intellektuell, häufig vergnüglich, immer einzigartig

Von Bernd Mathieu

Nein: Zimperlich ist er gewiss nicht. Nicht mal gelegentlich. Alfred Grosser liebe die Provokation, formulieren manche Autoren in feierlichen Sonntagsaufsätzen und in der einen oder anderen freundlich gemeinten Laudatio über ihn. Solche Behauptungen, mögen sie noch so feinsinnig und wohlwollend konstruiert sein, sind eigentlich Unterstellungen. Alfred Grosser liebt die Wahrheit. Das reicht. Die Transparenz von Meinung ist seine typische und markante Basis erfreulich subjektiver Prägung. Er bekämpft Klischees und Vorurteile, wo und wann immer das möglich ist. Er kann das. Und wie! Kurzum: Er hält sich nicht am faden »Sowohl-als-auch-Abwägen« auf. Er sagt, was ist. Und er schreibt, was er denkt. Für falsche Kompromisse eignet er sich nicht.

Zahlreiche Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehsender haben sich in vielen Jahren und teilweise über Jahrzehnte diesen klaren Geist als – im wahrsten Sinne der ansonsten eher tarifrechtlich definierten Wortkombination – »freien Mitarbeiter « geleistet. Und das war und ist eine Leistung, die Alfred Grosser in der Brillanz der Analyse, der Eleganz der Sprache und der Dominanz völliger Unabhängigkeit immer wieder auszeichnet. Ihn zu lesen ist stets ein Gewinn für Erkenntnis und Debatte, sein Esprit wirkt ansteckend.

Sein grandios hohes Renommee gilt rechts- wie linksrheinisch, also in Deutschland wie in Frankreich gleichermaßen. Dabei wird er von den vermeintlich Mächtigen oder zumindest Tonangebenden in den politischen Kreisen beider Länder nicht unbedingt geliebt, sondern in  allem Ernst respektiert und als kritischer Geist gewürdigt, jedenfalls von den intelligenteren Protagonisten der politischen Klasse. Offenherzig, intellektuell, häufig vergnüglich, immer einzigartig: Das trifft für Alfred Grosser zu, weniger für die aktuelle Politik der Deutschen und der Franzosen, deshalb vertragen sich die Mentalitäten des Publizisten und der Politikeher nicht. Und das ist gut so.

Seine ständige, ziemlich rastlose Tour d’Horizon durch die politischen Debatten der letzten Jahrzehnte kann man in Stichworten knapp so skizzieren: beobachten, feststellen, vergleichen, analysieren, Anstöße geben, diskutieren. Alfred Grosser hat einen unabhängigen Kopf, dem jede Form von Mainstream egal ist. Und das trifft auf alles Dogmatische und Ideologische ebenso zu, beides ist ihm zuwider.

Für die deutsch-französische Aussöhnung hat der Publizist, Politikwissenschaftler, Soziologe und Journalist Enormes geleistet. Der 1925 in Frankfurt am Main geborene Grosser emigrierte 1933 mit seiner Familie nach Paris und besitzt seit den 30er Jahren die französische Staatsbürgerschaft. Er hat in Frankreich studiert, gelehrt, geschrieben, kommentiert, und er hat in Deutschland geschrieben und kommentiert, und vor allem hat er in beiden Ländern Vorträge gehalten, gerne nach seinem Prinzip, in Frankreich besonders kritisch den Franzosen den Spiegel vorzuhalten und in Deutschland den Deutschen. Das ist die besondere und extraordinäre Form von »Ausgewogenheit« à la Grosser. Man darf ihn gerade deshalb einen einflussreichen und bedeutenden Wegbereiter der deutsch-französischen Verständigung nennen.

Das impliziert sein intellektuelles, wissenschaftliches und publizistisches Credo für Europa. Da beschönigt er nichts, da nennt er ohne jede falsche Rücksicht Fehlentwicklungen beim und mit Namen, da verschweigt er nicht manche Bedenken und manchen Rückschlag. Das bezieht er nicht nur auf Politik und Wirtschaft, sondern auch auf die Akteure in den bürgerlichen Gesellschaften. Also auf uns alle. Seine Themen lauten aktuell deshalb auch: Sorge um Kultur, um Qualität, um Solidarität im fairen Umgang miteinander, um das soziale Gewissen der deutschen und französischen und europäischen Bevölkerung.

Alfred Grosser ist immer ein bisschen anders, überraschend, unberechenbar, unbestechlich in seinem so oft unbequemen Urteil. Seine Bewertungen sind eben relevant. Als Kolumnist für Le Monde lag ihm daran, diese Werte auch publizistisch zu vermitteln. Er schreibt weiterhin für Ouest-France, die größte französische Tageszeitung. Und vor allem hat er, bekannter Atheist, seit 1955 eine ständige Kolumne in der katholischen Tageszeitung La Croix – den Aufsichtsrat des L’Express verließ er aus Protest gegen unausgewogene Berichterstattung über den Nahost-Konflikt. Der regelmäßige Kolumnist der Aachener Zeitung ist ein wirklich Großer mit einem richtig großen deutschen, französischen undeuropäischen Lebenswerk, dessen beachtlicher journalistischer Teil nun mit dem Theodor-Wolff-Preis gewürdigt wird.