Fischers viertes Leben

Von Tina Hildebrandt

In Berlin sieht man ihn selten, und wenn, dann mäßig gelaunt im Schlepptau seiner glamourösen Frau. Joschka Fischer ist jetzt Berater. Ist es dem ehemaligen grünen Außenminister gelungen, sich noch einmal neu zu erfinden?

Das erste Wiedersehen endet gewissermaßen klassisch, also mit einer Beschimpfung. Hochgezogene Augenbrauen, Entrüstung. »Ich wusste es«, schnauft der frühere Außenminister, der Zeigefinger fährt anklagend nach vorn, »Sie sind auch so eine. So eine – Schnarchnase!« So eine Schnarchnase, die nicht begriffen hat, dass es nur zwei Möglichkeiten gibt: Krieg oder Europa.

Die den dramatischen historischen Moment nicht erfasst. In dem es nicht darum geht, wie man die Griechen dazu bringt, ein effizientes Sparprogramm aufzulegen oder die Regeln zu retten, die einmal für die EU gemacht wurden, sondern um alles oder nichts. Eine Schnarchnase, die auch noch lacht, wenn man ihr all das ins Gesicht sagt. Unglaublich. Was ist das bloß für eine Generation? Kopfschüttelnder Joschka Fischer.

14. April 2010: Vor zwei Tagen ist der Metzgerssohn Joseph Martin Fischer, genannt Joschka, ehemaliger Sponti, Schläger, Turnschuh- und Außenminister, Vizekanzler, fünffacher Ehemann, dreifacher Vater, Großvater, der wahrscheinlich interessanteste lebende deutsche Politiker, 62 Jahre alt geworden. Oder müsste man sagen: Expolitiker?

Es sollte eine Reportage über Joschka Fischers viertes Leben werden. Wie wird ein Revolutionär alt? Was macht so einer, wenn er aufhört? Wo geht die Energie hin bei jemandem, dessen Bühne die Republik und dessen Leben die Politik war? Fünf Jahre ist es jetzt her, dass Fischer sein drittes Leben beendet hat, das Leben als Berufspolitiker, die Tür zugemacht, den Schlüssel umgedreht und weggeworfen hat, wie er sagt.

Als drinnen im Auswärtigen Amt alle darauf warteten, den Chef zu verabschieden, hat er den Hinterausgang genommen, ist in den Polo seiner Frau gestiegen und weggefahren, nach Hause, Kaffee trinken. Ohne die »traute Zweisamkeit zu siebt«, wie er das Leben mit der Sicherheit sarkastisch genannt hat. Er hat ein Haus im Grunewald gekauft, ist als Gastdozent nach Princeton gegangen, hat dort die deutsche Wurst vermisst und gemerkt, dass Amerikaner anders, aber auch ganz anders sind als die Deutschen, und ist zurückgekommen.

Jetzt ist er Unternehmer. Die Firma heißt Joschka Fischer and Company. Fischers Partner ist der frühere Pressesprecher der Grünen-Fraktion, Dietmar Huber, außerdem hat Fischer seine langjährige Sekretärin Sylvia Tybussek mitgenommen, mit der er schon die Grünen und diverse Untersuchungsausschüsse durchgestanden hat (daran merke man übrigens, dass man echt raus sei, hat Fischer neulich zu seiner Frau gesagt: kein Untersuchungsausschuss mehr). Wer einmal zu Fischers Clan dazugestoßen ist, durchs Rüpelbad gegangen und gemerkt hat, dass der Mann mit den gelegentlich demonstrativ schlechten Manieren auch ganz anders kann, der bleibt meist aus echter Hingabe dabei.

Sein Unternehmen logiert am Gendarmenmarkt, ein großes Schild sucht man vergebens. Am Eingang weist, sehr amerikanisch, ein freundlicher Portier den Weg in die oberen Etagen. Schwarzes Leder, viel Chrom, leere Regale, wenige Bilder, alles riecht neu, sieht neu aus, nach Kulisse. Zeit seines Lebens war Joschka Fischer berühmt für seine schlechte Laune. Schon in der WG mit Daniel Cohn-Bendit in Frankfurt konnte er die schlechteste Laune der Welt haben. Man ließ ihn dann besser allein.

Später als Außenminister ließ er Spiegel- Reporter, die ihm in den Urlaub zum Sommerinterview nachreisten, stundenlang bei einer halben Birne und einer Flasche Wasser schmachten und nannte das Ganze dann sardische Vorspeise. Gesprächspartner, sofern sie von der Presse sind, nennt er gerne Nasenbären oder Fünf-Mark-Nutten. Sagenhaft auch Fischers Leibesumfang als solcher und als Metapher, über den er selbst ganze Bücher verfasste (Mein langer Lauf zu mir selbst). In letzter Zeit war zu hören, Fischer sei wieder ganz schön dick geworden.

Da sitzt er also im Designerfauteuil, kariertes Hemd, dunkler Anzug, schaut mäßig interessiert, mitteldick, mittelgut gelaunt. Nein, über sein viertes Leben will Fischer eigentlich nicht sprechen und auch nicht über sein Unternehmen. Mitnehmen will er schon gar keinen, nicht mal zu Vorträgen. Keine Reportage also, allenfalls ein Gespräch. Es werden dann drei.

Das ungeschriebene Gesetz jeder Fischer-Begegnung verlangt, dass erst mal die Fronten geklärt und die Kräfte gemessen werden. »Was ihr nie verstanden habt«, fährt Fischer also den Besucher an, »ich habe auch furchtbar gelitten.« An den Medien, an der Partei. Die Grünen, die immer aus Prinzip alles ganz anders machen wollten, Apfelsinenkisten statt Podium, keine professionellen Lautsprecher, weils so kreativer war, sodass er sich heiser brüllen musste. Dumme Journalisten, die noch dümmere Fragen stellen, immer dasselbe. Klar, er sei an der Politik auch gewachsen. Aber Außenminister, das sei der permanente »Alert-Status«. »Mit der Zeit wird auch der Stärkste nicht besser«, sagt Fischer. Das sei vom System so gewollt. Der Stärkste, versteht sich, das ist er.

Wenige glückliche Momente habe er in seinem dritten Leben erlebt, dafür viele historische. Den Kosovokrieg, natürlich, in den sie eintreten mussten, Schröder und er, noch bevor sie im Amt waren, weil sie sonst gar nicht erst ins Amt gekommen wären. Am meisten berührt, sagt Fischer, habe ihn die deutsche Einheit. Die Einheit, die er gefürchtet hat. Sein größter Irrtum. Deutschland, sagt Fischer heute, habe sich als sympathische Demokratie erwiesen, als liebenswürdiges Land.

Das dritte Leben, das als Politiker, begann 1985 mit dem Eintritt in die hessische rot-grüne Koalition unter Holger Börner. Ein bewusster Entschluss sei das gewesen. »Ich wusste, dass ich eine Lebensentscheidung treffe. Mir war sehr klar, dass ich nicht der bleiben kann, der ich bin«, sagt der Mann, der doch darauf beharrt, immer derselbe geblieben zu sein. Vielleicht meint er: nicht mehr sich allein zu gehören. Denn die Politik zu betreten bedeutet, die Öffentlichkeit zu betreten. Das heißt, zumindest zu großen Teilen ein sichtbares Leben zu führen. Es heißt, auf viele Facetten zu verzichten, die man auch in sich spürt, auf Optionen. Das, sagt Fischer, habe er auf Dauer nicht gewollt.

»Macht gegen Freiheit« tausche er nun, hat Fischer bei seinem Ausscheiden gesagt. Jetzt sitzt er da und bemüht sich, Gelassenheit zu verströmen. Aber muss er als Businessman nicht doch wieder den angeblich so verhassten dunklen Anzug tragen? »Glauben Sie bloß nicht, den habe ich Ihretwegen angezogen«, sagt Fischer, er habe noch einen wichtigen Termin. Was also ist jetzt seine Rolle?

»Da ist die Antwort ganz einfach: keine.« Kann man das, die Öffentlichkeit einfach so verlassen? »Es ist einfacher, aus der Politik rauszugehen als aus der Öffentlichkeit«, sagt Fischer. »Man kann die Öffentlichkeit nicht betreten, und man kann sie nicht verlassen.« Er plane seine Rollen nicht, habe er nie getan. Ist er einer, der immer wusste, was er will? Nicht direkt, antwortet Fischer. »Es fügt sich, wie es sich immer gefügt hat.«

In einer wunderschönen Augustnacht habe es sich gefügt, dass er »die Schnauze voll« gehabt und gleichzeitig »Erfahrung kumuliert« habe. So sei aus Außenpolitik, grüner Technologie und Nachhaltigkeit ein Geschäftsmodell entstanden. Und dann habe er mit seinem Partner Dietmar Huber eben »ein paar Dinge klargezogen«, und sie hätten sich »entschlossen, dass wir das Risiko eingehen und ins kalte Wasser springen«.

Sein Unternehmen, so viel ist bekannt, kooperiert mit dem der früheren US-Außenministerin Madeleine Albright. Als Fotos aufgetaucht waren, auf denen Fischer einen Polizisten schlägt und er als Außenminister fast zurücktreten musste, hatte Albright nur gesagt: »Ich wusste, dass du ein böser Junge warst – aber so böse?« Seither sind sie Freunde.

Zu Fischers Kunden gehören RWE, BMW und Siemens. Was genau macht Fischer? Da wird er schnell unwillig. »Was ist so mirakulös daran? Ich mache das, was ich als Außenminister gemacht habe.« Aha. Deutsche Interessen vertreten also, nur für Siemens? Verzweiflung über so viel journalistischen Unverstand. Unternehmen hätten keine außenpolitische Kompetenz, er schon. So einfach. So einfach?

Fischer hätte sich vorstellen können, für die UN zu arbeiten, er wäre auch gerne zur EU gegangen. Wenn die Regierung ein bisschen Arsch in der Hose gehabt hätte, findet Daniel Cohn-Bendit, hätte sie Fischer statt Oettinger den Posten als EU-Kommissar angeboten. Manche hätten ihn sich auch als Nahostvermittler statt Blair oder als EU-Außenminister vorstellen können. Fischer glaubt, das habe ihm letztlich Hartz IV versaut.

Gerhard Schröder legte, kaum aus dem Amt geschieden, seine Memoiren vor, schloss einen Vertrag als Aufsichtsratsvorsitzender der Nord Stream AG, einer Gesellschaft, die den Bau der sogenannten Ostseepipeline betreibt, die Gas von Russland nach Deutschland liefern soll und die Schröder noch als Bundeskanzler vorangetrieben hatte. Fischer genoss es, dass alle ihn dafür lobten, es so ganz anders als Schröder gemacht zu haben, so würdig. Jetzt arbeitet er, der Grüne, für einen Automobilkonzern, einen Hersteller von Atomstrom und einen Betreiber von Atomkraft und wirbt für Nabucco, eine Pipeline, die nichtrussisches Gas durch Ost- nach Westeuropa leiten soll.

Manch einer sieht darin ein Duell mit seinem alten Freund-Rivalen Schröder. In den Zeitungen tauchten manchmal Fotos auf, bei denen seine schöne junge Gattin in Designermode in die Kameras lächelt. Fischer ist der Herr daneben, der meistens eher missmutig schaut. Joschka habe seine Ideale verraten und seine Partei, sagen seine Gegner, bei den Grünen sind viele enttäuscht.

Er sei doch wie Schröder, großes Ego, opportunistischer Machtmensch. Der Herr Fischer sei beim Marsch durch die Institutionen eben jetzt wirklich angekommen, stellen süffisant die Konservativen fest. Bei einem Fest in Berlin zeigte RWE-Chef Jürgen Großmann zu vorgerückter Stunde einmal mit dem Finger auf Fischer und sagte weithin vernehmlich: »Den hab ich auch gekauft.« Vom Sponti zum Trophy-Man?

Er mache nichts für Unternehmen, sagt Fischer, er berate sie. Wo ist der Unterschied? »Die Entscheidungen«, sagt Fischer, träfen andere, Ratschläge könne man auch ablehnen. Überhaupt werde die Sache mit den Kontakten überschätzt. Es gehe weniger um Kommunikation bei seinem Geschäft, mehr um Analyse. Aber – »das ist Geschäft. Ich will nicht drüber reden.« Macht das Geschäft Spaß? »Sehr.« Was macht Spaß daran? »Die Arbeit.«

RWE berät er nur für Nabucco, da legt er Wert darauf. Siemens nicht im Atomsektor. Ist das nicht eine ziemlich, sagen wir, pharisäerhafte Argumentation, eine, die der junge Fischer, mit Verlaub, jedem Gegner krachend um die Ohren gehauen hätte? Sei ihm auch egal, brummt Fischer. Siemens im Übrigen sei bei der Entwicklung spritsparender Fahrzeuge und Elektroautos ein echter Motor des Fortschritts.

Typisch: Wo Fischer ist, ist die Spitze des Fortschritts. Ärgern ihn die Vorwürfe? Nein, ärgern ihn nicht. Er ärgere sich nur über Dinge, die zutreffen. Er sei sich »ziemlich treu geblieben«, sagt Fischer. Punkt. Was schuldet ein Vizekanzler der Republik? Nichts. Nada. Ein Kanzler aber schon, denn was Schröder gemacht hat, findet Fischer nicht ganz lupenrein.

Für ihn sei die politische Hygiene durch den zeitlichen Abstand gewahrt, den er zwischen Abschied aus dem Amt und Ankunft im Geschäftsleben eingehalten habe. Die Gesprächsatmosphäre nähert sich dem Tiefpunkt, da kommt übers Handy eine tolle Nachricht rein. Westerwelle hat der Bravo ein Interview gegeben. Über Hautprobleme und Aufklärung. Der Außenminister. Sein Nachnachfolger. Der Bravo. In der Euro-Krise. Kann man es fassen? Fischer mit einem Mal ganz aufgekratzt, er wirkt glücklich. Der kann es nicht. Konnte es nie. Wird es nie können. Ist und bleibt unreif. Auch so eine Schnarchnase. Diese Schnarchnasen! Werden alles ruinieren! Deutschland, Europa, die Welt! Es ist zum Verrücktwerden!

28. April, Hörsaal 3A der Heinrich-Heine-Uni Düsseldorf, an der Stirnwand fünf Schiebetafeln im Halbrund. Der Projektor wirft große Namen auf die Leinwand: Marcel-Reich-Ranicki, Helmut Schmidt, Avi Primor, Wolf Biermann, Siegfried Lenz. Auf den Rängen drängen sich die Studenten. »Ich hab mal den Papst beim Weltjugendtag gesehen«, sagt einer mit langen Rastalocken zu einem Kommilitonen. »Ach, der Papst, den kannste überall haben«, entgegnet der andere, »aber Fischer!«

Die Digitaluhr springt auf 16.02 Uhr, dann betritt Dr.h.c. Joschka Fischer den Saal, grinst freundlich ins Publikum, blickt missmutig auf die Fotografen und beginnt eine vergnüglich-sorgenvolle Suada. Mal gibt er den Nostradamus, dann den Spitzendiplomaten von Welt, dann wieder den alten Herrn, der eigentlich nur noch in Ruhe Tauben auf dem Gendarmenmarkt füttern will.

Er knöpft sich vor: die »Schnösel« von der Bild- Zeitung (»da krieg ich Wut«) und ihre Kampagne gegen Griechenland, die deutsche Regierung, die ihre Führungsrolle in Europa verweigert (»ich kriege einen dicken Hals, wie Sie merken«), und die europavergessene junge Generation (»ich frage mich: Erkennen wir unsere eigenen Interessen nicht?«). Höhepunkt der Veranstaltung: Joschka Fischer warnt die Jungen mit milder Ironie davor, Typen wie er selbst zu werden: »Bestimmten Beispielen solltet ihr überhaupt nicht folgen. Es gibt Teile meiner Biografie, reden wir nicht drumrum, da gab es die Verführung zur Gewalt.« Das aber sei überhaupt nicht nötig in Deutschland. »In diesem Land kannst du alles erreichen. Es gibt eine Polizei, die einen sogar unterstützt.« Begeistertes Gelächter im Saal.

Ist Fischer je ein Revolutionär gewesen? »Ich weiß nicht«, sagt er. Anfang Juli, er sitzt in einem Restaurant am Gendarmenmarkt. Eine Woche zuvor ist Bundespräsident Wulff im dritten Wahlgang gewählt worden. Wulff, der noch vor gar nicht so langer Zeit gegen Schröder Wahlkampf gemacht hat mit dem Hinweis, dass einem Mann mit so vielen Ehen nicht zu trauen sei, und der sich jetzt seiner Patchworkfamilie rühmt. »Schauen Sie, mit den 68ern ist das ein Kreuz«, sagt Fischer, »um uns zu bewerten, ist es zu früh.«

Aufgewachsen im Schatten des Krieges, des großen Verbrechens, denn darum ging es ja. »Ob man ein Revolutionär gewesen ist, wenn man dafür ein Gespür hatte und sich dagegen aufgelehnt hat und sich dabei auch vertan hat mit der Missachtung des Parlamentarismus, ich weiß nicht.« Die dritte Ringvorlesung an der Düsseldorfer Uni ist beendet, die Euro-Krise fürs Erste abgewendet, aber Fischer ist nicht zufrieden, es arbeitet in ihm. Seine Generation sei die letzte gewesen, die versucht habe, Politik auf die Geschichte zu beziehen, sagt Fischer, immer sei man in die Sinnfrage gestürzt worden. Die Konsequenz aus alldem: Europa. Das müsse doch irgendwie in die Gene übergegangen sein, sagt Fischer, er verstehe das einfach nicht, wieso das nicht so sei.

Draußen ist es heiß, WM-Zeit, Fähnchen-Zeit. Singt er, wenn die Hymne gespielt wird? Der große Europäer, plötzlich pampig: »Ich bin kein Hymnensinger.« Warum nicht? »Entschuldigung, ich kann nicht singen.«

Wie deutsch er ist, stellte Fischer in seiner Freak-Zeit fest. Damals sei er mit drei Freunden in die Camargue gefahren, um Skat zu spielen, es war das Jahr, in dem die Sommerzeit eingeführt wurde. Man trank, feierte, ließ die Bärte wachsen. Um zwei Uhr sah Fischer auf die Uhr und befahl: «Jungs, Uhren umstellen!« Die Kirchturmuhr im Ferienort ging natürlich noch drei Wochen später anders. Fischer würde nie deutsche Fähnchen aufhängen, aber er mag das Leichte, das Schwarz-Rot-Gold neuerdings hat, vor allem mag er, dass auch die Türken und Araber deutsche Fähnchen aufhängen.

Ein ganz anderes Land sei das Land seiner sogenannten revolutionären Dekade ja gewesen, sagt Fischer, damals habe er ganz anders gedacht, gelitten, gelebt. Das Land geändert zu haben, das sei die eigentliche Leistung der 45er gewesen, der Leute wie Habermas und Schmidt. Wie deren kleine Brüder seien die 68er gewesen, oder eben wie Söhne. Ausgerechnet Schmidt, die Schmidt-Abneigung hatte ja die Grünen erst möglich gemacht hat. Ist das also jetzt allen Ernstes die Quintessenz: Ich und Schmidt, und danach kamen nur noch Weicheier?

Nein, im Gegenteil, er empfinde es als großen Fortschritt, dass die Gräben zugeschüttet seien, sagt Fischer, dass politische Auseinandersetzungen nicht mehr im Modus des Bürgerkriegs geführt würden. Irgendwann gab es sogar so etwas wie ein Versöhnungsgespräch mit Alfred Dregger, dem alten Stahlhelmer der hessischen CDU. »Als ich Sie das erste Mal gesehen habe«, sagte Dregger zu Fischer, »da dachte ich, Sie sind die fünfte Kolonne Moskaus.« – »Und ich dachte, Sie sind die zivil gewandete Reaktion«, entgegnete Fischer. Was will er mit der Anekdote sagen? »Die Gräben sind zugeschüttet, das ist deutsche Geschichte.« Wann hat er eigentlich angefangen, das Land liebenswürdig zu finden? Wisse er nicht mehr, brummt Fischer.

Im deutschen Herbst jedenfalls sei das revolutionäre Jahrzehnt vorbei gewesen. Man verkaufte die Marx-Engels-Ausgaben. Die einen gingen zum Bhagwan und zogen sich in die neoromantische Innerlichkeit in fernöstlichem Gewand zurück, Fischer fuhr Taxi, das zweite Leben begann, eine der wenigen eher unpolitischen Phasen. Er hatte viel Zeit und wenig Geld. Er dachte viel über sich selbst nach. »Born to be free«, das sei immer sein Motto gewesen. »Und dann lande ich ausgerechnet in der Berufspolitik«, sagt Fischer, die nicht viel Freiheit verspricht und doch höchsten Lohn.

»Du begibst dich freiwillig auf die Galeere und lässt dich anschmieden, und das alles nur mit der vagen Hoffnung, dass du eines Tages die Meuterei anführen und andere in Ketten legen kannst. Dann allerdings«, Fischers Augen leuchten, »wenn du dein Rendezvous mit der Geschichte hast, dann kannst du Dinge bewirken!« Acht Menschen, rechnet Fischer an den Händen vor, hätten dieses unschätzbare Privileg in Deutschland seit dem Krieg gehabt. Er wiederholt die Zahl: acht Kanzler. So wenig. »Und deshalb verstehe ich nicht, weshalb Merkel nichts macht. Selbst den Text durch Tun in das Geschichtsbuch unserer Nation zu schreiben, das bedeutet für mich Kanzlerschaft.«

Keine Spur mehr von spöttischer Gelassenheit jetzt, das ist ihm ernst. Da spricht der Mann, der immer vor allem eins wollte: Autor der eigenen Geschichte bleiben. Der mit 17 Jahren sehr bewusst den Entschluss fasste, sich selbst zu erfinden. Über den es heißt, er habe sich seither unzählige Male neu erfunden, der das bestreitet und beharrt, er sei doch immer der Alte geblieben. Vermutlich kommt es beim Erfinden nicht auf das Wörtchen neu an, es kommt auf das Wort selbst an. Muss es so einen nicht wahnsinnig machen, dass er so nah dran war, seinen Satz ins Buch der Nation zu schreiben, und gleichzeitig so weit weg, weil er in der falschen Partei war, einer, mit der er nie selbst Kanzler werden konnte? Nein, behauptet Fischer. »Denn dann gehörst du endgültig der Öffentlichkeit, und diesen Preis wollte ich nie zahlen.«

Kann man sich vorstellen, dass einer, der politisch so glüht, zufrieden damit ist, mit anderen Geschäftsleuten Meetings abzuhalten, Telefonschaltkonferenzen zu absolvieren und zum Businesslunch zu gehen? »Natürlich bin ich ein politischer Mensch durch und durch, aus Leidenschaft, nicht aus Sucht«, betont Fischer, wenn auch beides nah beieinanderliege. Natürlich telefoniert er in diesen Tagen manchmal mit Gerhard Schröder. Natürlich fragen sie sich dann: Was würden wir machen? Natürlich sind sie der Meinung, dass sie es besser könnten.

»Aber ich will nicht mehr, begreifen Sie das doch!« Er gehe nicht Rosen züchten. Auch für höchste Amtsträger gebe es keine Staatssklaverei, davon stehe nichts im Grundgesetz. Fischer wird wieder ungehalten. Darf man ihn fotografieren, ihn, der so verschieden aussah in seinen verschiedenen Leben und der sein Aussehen zu früheren Zeiten selbst zum Thema gemacht hat? Nein. Warum nicht? Weil er nicht will. Ist vorbei. Er sei jetzt Privatmensch, sagt Fischer. Und schreibt doch ständig Beiträge über Europa, die Türkei, Israel, Iran. Gibt Interviews darüber, wie lasch der Bundestag und wie schwach seine Nachfolger seien. Hasst die Öffentlichkeit, verachtet die meisten Journalisten und liebt doch die eigene Wirkung auf beide.

Anruf bei Cohn-Bendit, der meistens einen Schritt weiter war als Fischer und doch formal nie so weit gekommen ist wie sein Freund. Der vor ihm Europäer war und vor ihm für eine militärische Intervention im ehemaligen Jugoslawien. Der da ist, wo das Schicksal ihn als Sohn der bürgerlichen Oberschicht vorgesehen hat, irgendwo oben, und der das darum nie um jeden Preis beweisen musste, während Fischer immer beweisen musste, dass er da angekommen ist, wo er, Metzgerssohn, Studienabbrecher ohne Abitur, nie hätte sein dürfen: ganz oben. »Nee, der Joschka war nie ein Revolutionär«, sagt Cohn-Bendit, der war ein Revoltierender, der wollte Macht haben, aber es war nicht klar, was da rauskommen sollte. Er wollte die Welt verändern und sich in der Welt.«

Cohn-Bendit hat eine Ahnung, wann Fischer angefangen hat, das Land zu lieben: als das Land angefangen hat, ihn zu lieben. Das ist nicht so süffisant gemeint, wie es klingt. Was Cohn-Bendit meint: Die Umkehr von Ablehnung zu Akzeptanz am eigenen Leib zu erfahren hat Fischer gezeigt, dass das Land nicht so war, wie er behauptet hatte.

Was ist Fischer jetzt? Jetzt, sagt Cohn-Bendit, gehört er zur gesellschaftlichen Elite und zu denen, die ihren gesellschaftlichen Einfluss paaren mit geschäftlichem Nutzen. »Jetzt ist er wirklich so ne Ich-AG. Er lässt sich vergolden, was er geschafft hat.« Cohn-Bendit würde das nicht machen, aber er meint das auch nicht vorwurfsvoll. Wenn Fischer es vertreten kann, kann er es auch. Er kenne so viele Leute bei den Grünen, die jeden Tag gegen ihre moralischen Grundsätze im Umgang mit Frau und Kindern verstießen, die sollten mal nicht so auf dem hohen Ross sitzen, findet Cohn-Bendit, früher Dany le Rouge genannt.

Politiker werden bei Wahlen gewogen, sie sind die Währung der Demokratie. Die Währung der Geschäftswelt ist Geld. Für Dostojewskij war Geld gemünzte Freiheit. Ist Geld also wichtig? Nein, sagt Fischer, nicht wirklich. Klar, jetzt sei er dabei, Geld zu verdienen. Andererseits: »Wenn ich Instinkte an der Börse hätte wie in der Politik, wäre ich steinreich.« Ärgert ihn so ein Satz wie der von Großmann, er habe ihn gekauft? Ehrlich wirkende Gelassenheit: Kein bisschen! Großmann habe nicht ihn gekauft, könne der gar nicht, sondern eine Dienstleistung, und auf die habe er einen Anspruch.

Kein klitzekleines bisschen Ärger? Höchstens über die Frage. Die zeigt in seinen Augen mal wieder, dass es in Deutschland ein ungesundes Verhältnis zum Geschäft gibt, als sei das per se etwas Unanständiges. Ist es also umgekehrt: Wenn er jetzt für Unternehmen dasselbe macht wie früher als Außenminister, ist das Unternehmen dann das, was früher seine Partei war, ein Vehikel der Einflussnahme? Auch nicht, sagt Fischer. Sein Unternehmen, das sei eine kühl-rationale Geschäftsbeziehung. Das sei es mit seiner Partei nie gewesen, das sei doch eher eine Art St.-Pauli-Syndrom gewesen: ein Scheißverein, den man trotzdem liebt.

Aufgeräumter Fischer, er sitzt beim Italiener in der Nähe seines Hauses, Ende Juli. Am Nebentisch arbeitet ein Vater daran, seinen Mut zusammenzunehmen, um den »Herrn Minister« beim Rausgehen um ein Foto mit seinem Sohn zu bitten, der an diesem Tag 35 werde. Da ist sie wieder, die Öffentlichkeit, die man nicht so leicht verlassen kann.

Aber wenn sie so nett daherkommt wie diese, dann lässt sich das sogar ein Joschka Fischer gefallen. Vierte Sozialisation, ja, kann sein, das gefällt ihm. Was hat ihn am meisten verändert im Leben? Das Alter, sagt Fischer, sei letztlich die Kraft, die einen am stärksten verändere. Alter, nicht als Verfall, nicht nur, sondern als unvermeidlicher Prozess. Älter werden, wachsen, lernen, sich irren, etwas Neues lernen, Kinder kriegen, Enkel kriegen, vor Kurzem ist er Großvater geworden. Evolution statt Revolution, das Schicksal jedes Revolutionärs, der überlebt.

Neulich ist ihm aufgefallen: Wenn sie bei den Wahlanalysen im Fernsehen von der Gruppe Ü60 sprechen, den über 60-Jährigen, dann meinen sie ihn – ist das zu fassen? Ü60, das waren für Fischer die Typen, die den Dackel ausführten und im Zweifel aus Versehen »Heil Hitler!« schrien. Und jetzt ist er einer von denen. Er schlägt die Hände vor die Augen, gespielte Verzweiflung, listige Augen, die sagen: Glauben Sie mir kein Wort!

Er schreibt den zweiten Band seiner Memoiren. Er hält Vorträge, um Geld zu verdienen, aber nicht nur. Er will immer noch Einfluss nehmen. Ihn treibt das Gefühl um, dass im Moment etwas passiert. Die Welt so instabil, Deutschland so stark wie nie, und so führungsschwach! Andererseits: Wie in einer Nacht alle Regeln über Bord geworfen wurden, um Europa zu retten, das hat ihm gefallen. Vielleicht haben die Schnarchnasen ja doch schon mehr Europa verinnerlicht, als er befürchtet hat.

Die Lernmaschine Fischer brummt wieder, und das macht ihm großes Vergnügen. »Ich habe das Gefühl, dass ich im Moment wieder unglaublich viel lerne, etwas, das ich gar nicht erwartet habe.« Er sei ziemlich fit derzeit in diesen ganzen Wirtschaftsfragen. Er könne arbeiten wie ein Journalist, aber mit viel besseren Zugängen. »Ich kann mit Leuten reden, die mit Ihnen nie reden würden. Ich lerne wieder – und das alles nur aus Ärger über die Regierung!«

Wer hätte gedacht, dass Joschka Fischer Angela Merkel noch mal würde dankbar sein müssen?

ZEITmagazin Nr. 35 vom 26. August 2010