Der "runde Tisch" ist ein guter Anfang

Von Sigrun Albert | Als Gastbeitrag erschienen in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung"

Der Vorschlag von Tom Buhrow, die Grundlagen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks neu zu bestimmen, eröffnet die Chance für eine große Debatte: Welche Medienlandschaft braucht unsere Demokratie?

Sigrun Albert
BDZV/Brundert

Der ARD-Vorsitzende Tom Buhrow hat etwas fast Unerhörtes getan: Er hat, in der F.A.Z. dokumentiert, radikale Überlegungen zur Zukunft des öffentlich-rechtlichen Rundfunks angestellt. Das ist eine Sensation. Nicht so sehr wegen der konkreten Inhalte. Sondern wegen der Offenheit für einen wirklichen Neuanfang, die Tom Buhrow signalisiert.

Der WDR-Intendant ermuntert damit alle Interessierten und Betroffenen zu Reaktionen. Und gerade die überraschende Deutlichkeit seiner Thesen hat solche in den letzten Tagen zahlreich und oft erfrischend pointenreich provoziert. Diese Lust an der Debatte ist existenziell für uns Medienschaffende. Und so viel wertvoller als nur zu streiten.

Dass besonders die Zeitungen mit ihren digitalen und gedruckten Angeboten immer wieder in heftiger Reibung mit ARD und ZDF stehen, ist bekannt und wurde durch jüngste Schlichtungsgespräche und Gerichtsverfahren deutlich. Selbstverständlich müssen wir hier zu zufriedenstellenden Lösungen kommen und fordern mehr Fairness und ein größeres Verständnis für die Grundlagen unserer zunehmend digitalen Geschäftsmodelle aufseiten der Vertreter der öffentlich-rechtlichen Häuser. Aber das sind die Mühen des Alltags. Um die kann es nicht gehen, wenn die Debatte über den Moment hinaus zeigen soll.

Die Medienlandschaft in Deutschland ist eine der besten der Welt. Ja, andere sind womöglich weiter bei der Digitalisierung, visionärer, technikaffiner. Aber wir haben: Meinungsvielfalt durch zahlreiche kleine, mittlere, große Medienhäuser und eine Vielzahl an Sendern. Redaktionen, die ohne Repressalien durch ihren Arbeitgeber arbeiten können. Wir haben eine – bestimmt nicht immer perfekte – Selbstkontrolle der Medien. Wie sie längst nicht in allen Staaten der EU besteht.

Fast all dies existiert in Deutschland erst seit gut 70 Jahren. Wurde aufgebaut und weiterentwickelt mit dem Willen, aus der Vergangenheit zu lernen und (auch) mithilfe von unabhängigen Medien eine Basis für eine wehrhafte Demokratie zu schaffen. Wir müssen leider nicht weit schauen (selbst innerhalb der EU), um zu erkennen: Es gibt keine Garantie, dass es immer so gut weiter gehen wird. Deshalb denken wir: Ein runder Tisch, wie Tom Buhrow ihn vorschlägt, ist ein guter Anfang; wir brauchen aber mehr. Einen Thinktank, einen Open Space oder ein Lab für die Medienrevolution – egal, wie wir es nennen. Einen weitläufigen, offenen Ort eben, an dem sich Vertreter der deutschen Medienlandschaft, der Politik, der Gesellschaft zum Debattieren begegnen können. Einlassvoraussetzung: Jobtitel, Vorurteile und Partikularinteressen sind an der Garderobe abzugeben. Und über dem Eingang steht die eine, entscheidende Frage: Welche Medienlandschaft braucht unsere Demokratie in Zukunft?

Stellen wir uns vor, in unserem Medienrevolutions-Lab gäbe es einen Coach, der den Beteiligten die Grundregeln des „Design Thinking“ etwa so erklärt: Erst beschreiben wir das Pro­blem. Dann arbeiten wir gemeinsam, kreativ und vorurteilsfrei an Lösungen. Folgende Probleme würden wir nach einem ersten Brainstorming auf Post-its schreiben und an die Pinnwand hängen:

Ganz wenige Player besitzen so gut wie alles

Wir alle sehen die großartigen Errungenschaften durch die Globalisierung und Digitalisierung – Informationen sind jederzeit überall verfügbar, Wissen kann weltweit geteilt werden. Und gleichzeitig (und das sehen wir womöglich noch nicht so klar und so gern): In der digitalen Medienwelt hat sich eine Macht- und Meinungskonzentration herausgebildet, die wir in der analogen Welt vermutlich niemals so geduldet hätten. Gatekeeper bestimmen, wer wo wann welche Informationen sieht und welche nicht. Wir alle, ob öffentlich-rechtlich oder privat finanziert, sind in diesem Wettbewerb Winzlinge.

Der Medienwissenschaftler Martin Andree beschreibt und beziffert das Problem so: „Man kann sich das vorstellen wie eine Vermögensverteilung – auf einer Skala würde der Wert 0 eine Gleichverteilung darstellen (alle Menschen besitzen gleich viel), dagegen würde der Wert 100 die maximal denkbare Ungleichverteilung repräsentieren (eine Person besitzt alles, alle anderen nichts). Die Ungleichverteilung des deutschen Online-Traffics ist tatsächlich haarsträubend – der Wert beträgt unfassbare 98,8. Das Gros des Traffics wird von den Plattformen der Digitalkonzerne gebündelt. Plakativ gesprochen: Ganz wenige Player besitzen fast alles, der Rest so gut wie nichts.“

Welche Lösungen pinnen wir also an unsere Wand? Erste Ansätze wie der Digital Markets Act der EU gehören dazu. Ausreichen wird er nicht. Alle schlauen Köpfe sollten gemeinsam darüber nachdenken. Was wäre das wunderbar, wenn am Schluss dabei ein neues, besseres Internet herauskommt.

Den Wert journalistischer Arbeit beziffern

Medieninhalte werden vorwiegend virtuell genutzt – mit jedem Jahr mehr, in allen Altersgruppen, besonders natürlich von den Jüngeren. Bei erschütternd geringer Bereitschaft, gerade für virtuelle Medieninhalte etwas zu bezahlen.

Wie schaffen wir es, den Wert von Investigativteams, Text-, Audio- und Videospezialisten, von Korrespondentennetzen, Entwicklerinnen, Datenanalysten, Infografikerinnen und all den anderen engagierten Menschen und ihrer Arbeit in unseren Medienhäusern den Nutzerinnen und Nutzern zu vermitteln? Wie machen wir klar, dass zwar jede und jeder heute publizieren kann und darf, dass journalistisches Handwerk aber nicht darauf beschränkt ist, ein aufregendes Video zu drehen oder seine Meinung in einem sozialen Netzwerk zu veröffentlichen?

Konzentration auf die Kernkompetenzen

Wie kann eine wirtschaftlich tragfähige Koexistenz von öffentlich-rechtlichen und privatwirtschaftlichen Medien im Digitalen aussehen, wenn die einen ihre Inhalte kostenlos verteilen, die anderen direkt nebendran dafür Geld verlangen? Dauerhaft ist ein Nebeneinander nur realistisch, wenn das öffentlich-rechtliche System private Medienangebote nicht zurückdrängt, sondern eine freie und vielfältige Medienlandschaft unterstützt. Auf die Lösungsseite unserer Pinnwand hängen wir schon mal ein paar Wünsche wie: Kooperation, Kollaboration, Konzentration auf die jeweiligen Kernkompetenzen – beim TV wäre das zum Beispiel die auf Bewegtbild, beim Radio die auf Audio-Inhalte, statt bei beiden die auf geschriebene Texte.

Glaubwürdigkeit bestätigen

Wie gewinnen wir unsere Glaubwürdigkeit zurück, wo sie verloren ist, wie erhalten wir sie, wo sie noch besteht? Dass Medien nur Mainstream-Meinungen verbreiten, behaupten längst nicht mehr nur Populisten. Fast könnte man sagen: Es ist inzwischen Mainstream-Meinung geworden, den Medien dies zu unterstellen. Mit welchen Formaten, Inhalten, Arbeitsweisen können wir unsere potentiellen Kundinnen und Kunden überzeugen, dass in Redaktionen gewissenhaft gearbeitet wird, dass Zahlen, Daten und Fakten zugänglicher sind denn je und unsere Berichterstattung stärken und immer besser machen können?

Schutz vor Angriffen und Drohungen

Was können wir tun, um Journalismus, insbesondere Lokaljournalismus, zu schützen – wenn die gesellschaftliche Spaltung zunimmt, wenn der Schutz von Medienschaffenden nicht mehr überall gesellschaftlicher Konsens ist? Es ist nicht nur ein Gefühl, dass gerade lokale Berichterstatter auch in Deutschland mehr denn je körperlichen Angriffen ausgesetzt sind.

Die „Feindbildstudie“ des European Center For Press and Media Freedom (ECPMF) aus Leipzig hat genau das für 2021 empirisch bestätigt. Der BDZV vertieft die Zusammenarbeit mit dem ECMPF weiter, um eine noch breitere Faktenbasis zu erhalten für die Analyse der Situation. Und mit dem Ziel, mit Vertretern aus Politik und Gesellschaft an Lösungen zu arbeiten. Ein ernstes, wichtiges und gemeinsames Thema für unsere Pinnwand.

Der BDZV sitzt in Berlin in einem Gebäude mit dem schönen, anachronistischen Namen „Haus der Presse“, im sogenannten Zeitungsviertel der Hauptstadt in Kreuzberg. Wir schieben schon mal die Konferenztische zur Seite, besorgen Post-its und stellen die Pinnwände auf. Wir laden Sie ein! Erfinden wir sie gemeinsam: die Medienlandschaft, die unsere Demokratie stärkt.