Für die Freiheit und Wahrhaftigkeit

Zum Leben und Werk von Theodor Wolff

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung lobte ihn als »genauen Zeitbeobachter und -schilderer« (Johannes Gross). In der Wochenzeitung Die Zeit rühmte Wolf Schneider seine sprachliche Klarheit und Stilsicherheit. Zu seinem 60. Geburtstag hatte ihn bereits das Neue Wiener Journal den »vielseitigsten und dabei tiefsten und stilvollsten politischen Journalisten Deutschlands« genannt. 

Bis heute hält die Bewunderung für den Berliner Journalisten Theodor Wolff an. Womit beeindruckte er seine Zeitgenossen und worauf gründet sich seine anhaltende Wirkung?

Theodor Wolff gehörte der Generation der um 1870 Geborenen an. Er zählte damit zu den »Jungen« des Kaiserreichs, die in den 1871 gegründeten Nationalstaat mit nicht geringen Erwartungen und einer ausgeprägten Bereitschaft zum Handeln hineinwuchsen. Dazu sind Max Reinhardt (1873-1943), Karl Kraus (1874-1936), Thomas Mann (1875-1955), Max von Baden (1867-1922), Karl Helfferich (1872-1924) oder Walther Rathenau (1867-1922) ebenso zu zählen wie Richard Riemerschmid (1868-1957), Werner Sombart (1863-1941), Max Weber (1864-1920), Peter Behrens (1868-1940), Harry Graf Keßler (1868-1937) oder Max Halbe (1865-1944). Sie alle verbanden keineswegs die gleichen, aber doch weithin ähnliche Vorstellungen über eine Modernisierung, einige dachten sogar an eine Demokratisierung des Kaisertums und damit des Wilhelminischen Machtstaats. Sie dachten über die Sicherung einer wirtschaftlichen Prosperität nach, die zu einer Stärkung der sozialen Integration in der Industriegesellschaft führen könne. Sie sannen über alternative Lebensformen nach. Ihre »authentische« Kultur sollte in jenem »Zeitalter der Reizbarkeit« (Karl Lamprecht) zu einer neuen Identität führen. Ihr gemäßigter und unterschiedlich konsequent umgesetzter Ausbruch aus der »Welt der Väter« manifestierte sich in vielgestaltigen ästhetischen Protesten. Dabei schrieben sie der Bildung, der Literatur, der Kunst und besonders einer als politische und gesellschaftliche Kraft erstarkenden Öffentlichkeit die Schlüsselrolle zu. 

Theodor Wolff wurde am 2. August 1868 als Sohn des aus Grünberg (Schlesien) nach Berlin gezogenen jüdischen Textilkaufmanns Adolph Wolff und seiner Frau Recha, geb. Davidsohn (Tochter eines Arztes aus Danzig), in der jungen Hauptstadt des Norddeutschen Bundes geboren. »Die Firma, die mein Vater in Berlin gründete«, erinnerte er sich später, »verkaufte ›en gros‹ die geblümten Kattune, die damals bei den Berlinerinnen sehr beliebt waren.« Er hatte drei Geschwister. Nach einem kurzen, lediglich mit der Mittleren Reife abgeschlossenen Gymnasialbesuch – »ich hatte mit der deutschen Sprache bei den Magistern kein Glück« – begann er, der Journalist werden wollte, zuerst einmal eine kaufmännische Lehre am Berliner Tageblatt (B.T.), einem der größten Publikationsorgane seines Cousins, des angesehenen Verlegers Rudolf Mosse. Dabei blieb es nicht lange, denn mit Reisefeuilletons, Theater- und Literaturberichten erregte er in Berlin schnell Aufmerksamkeit. Sie weckte seinen literarischen Ehrgeiz erfolgreich, in wenigen Jahren wurde er mit mehreren Romanen, Feuilletonsammlungen und Schauspielen weit über die Stadtgrenzen und sogar über Deutschland hinaus beachtet. Theater in Berlin, München, Kopenhagen und Wien führten seine Stücke »Niemand weiß es« und »Die Königin« auf. Er gründete mit Otto Brahm, Samuel Fischer und Maximilian Harden den Theaterverein »Die Freie Bühne«, mit dessen Hilfe die damalige Moderne, der Naturalismus, ihren Siegeszug antrat. Theodor Wolff übersetzte aus dem Französischen und machte mit einem enthusiastisch eingeleiteten Reclam-Bändchen Jens Peter Jacobsen in Deutschland bekannt. Eine Karriere als Journalist schien zumindest nicht mehr nahe zu liegen; die literarischen »Ikarusflüge«, wie er im Alter selbstkritisch über seine Kunst spottete, gaben aber nicht zu großen Hoffnungen Anlaß.

»Mosses junger Mann«

Die Perspektiven änderten sich überraschend schnell, als sein Verleger ihn für einen renommierten Platz im Ausland vorschlug. 1894 übernahm »Mosses junger Mann«, wie der schnelle Aufsteiger in der Öffentlichkeit in einer Mischung von Spott und Bewunderung hieß, die Aufgaben des B.T.-Korrespondenten in Paris. Die Beziehungen zwischen den beiden Nachbarstaaten waren damals nicht die besten, und Wolff gab sich keinen Illusionen hin. Die inhaltliche Grundlage für seine pragmatisch angelegte Berichterstattung bildete die von ihm im Herbst 1895 formulierte Erkenntnis: »Ich habe die Stimmung in Frankreich niemals schlechter gesehen als zur Zeit unserer liebenswürdigsten Werbungen.«

Seine ausführlichen, atmosphärisch dichten und präzisen Telegramme über die Dreyfus-Zola-Prozesse, die Flut des Antisemitismus und Chauvinismus in der französischen Gesellschaft und das Interesse der deutschen Leser an den skandalträchtigen Vorgängen ließen die Zeitungsauflage und Theodor Wolffs Ansehen in kurzer Zeit steigen. Sein Kürzel »T.W.« stand für journalistische Qualität, geistige Unabhängigkeit und politische Seriosität. Als Zola sich vor Gericht zu verantworten hatte, berichtete Theodor Wolff seinen fernen Lesern in einem kleinen politischen Feuilleton: »Man führt an diesem Tisch einen ernsten Kampf, aber man führt ihn mit einem vergnügten Eifer. Im Grunde amüsirt man sich königlich. Man amüsirt sich über jede gelungene List, über die Resultate des eigenen Scharfsinns, über den Kampf als Kampf. Die ›Angeklagten‹ sind die Herren im Saale, die Ankläger werden gezwungen, sich zu verantworten. Man hat selten einen solchen Prozeß gesehen [...].

Zola spricht mit einer etwas rauhen und harten Stimme. Bald stößt er die Worte einzeln hervor, bald überstürzen sie sich. Er ist kein Redner. Und wenn es auch ein prachtvoller Hieb war – und voll brutaler Ironie – , als er sagte: ›Der General Pellieux hat seine Schlachten mit dem Schwerte gewonnen, ich die meinen mit der Feder – die Nachwelt wird zwischen dem General Pellieux und Emile Zola wählen – ‹, in diesem Saale, dessen ganzer Hintergrund mit einer wohldressierten Generalstabsclique besetzt ist, schaden dem ›Angeklagten‹ diese Äußerungen eines großen, schönen und berechtigten Selbstbewußtseins.« 

Der Aufenthalt in Frankreich formte Theodor Wolffs politisches Weltbild, ließen Parlamentarisierung und später auch Demokratisierung zu seinen Hauptzielen werden. In seinem großen Essay »Geistige und künstlerische Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich seit fünfundzwanzig Jahren« (1897) plädierte er für eine vorurteilslose Annäherung der leichteren Art zwischen den beiden Staaten. Kein Volk müsse dabei seine Identität und Originalität verlieren, denn gerade weil Franzosen und Deutsche so wenig einander glichen, ergänzten sie sich, könnten viel voneinander lernen. Er hoffte, daß die Diplomaten ihnen die Zeit gönnten, sich auszusprechen. »Wenn es auch schön sein möchte, Geschichte zu gestalten, dann sei es noch schöner, Kulturgeschichte zu machen.«

Theodor Wolff als Chefredakteur

1902 heiratete Theodor Wolff die Schauspielerin Marie Louise Anna Hickethier (1872-1956). Ihre drei Kinder wurden evangelisch getauft und von einem katholischen Hauslehrer in Berlin erzogen. Denn inzwischen, seit dem Herbst des Jahres 1906, war Theodor Wolff bereits wieder von Rudolf Mosse aus Paris in die Reichshauptstadt zurückgeholt worden. Er sollte die Chefredaktion der Zeitung übernehmen und ihr neue Impulse geben. Die Ablösung seines Vorgängers geschah allmählich und in moderater Form, der Wandel der Zeitung dagegen erfolgte in wenigen Jahren, kraftvoll, systematisch und entschieden. Theodor Wolff formte das B.T. zum fortschrittlich-liberalen Hauptblatt Deutschlands um. Nach kurzer Zeit wurde es auch vom Ausland hoch geschätzt und von den Diplomaten als repräsentative Stimme eines unabhängigen, den Nationalliberalen zwar im Grundsätzlichen, aber nicht in allen Fragen nahestehend, gewürdigt.

Für die Redaktion gewann Theodor Wolff die besten Köpfe seiner Zeit. Bei der Suche nach Talenten konnte er sich neben seinen Kenntnissen auf ein sicheres Gespür und eine glückliche Hand verlassen. In der Redaktion sorgte er für die ihrer Entfaltung förderlichen Plätze, indem er diesen Individualisten, diesen versponnenen Künstlernaturen und genialen Sprachartisten den nötigen Freiraum verschuf. Sein Vorgehen fand nicht immer sogleich den Beifall des Verlegers, doch der sich bald zeigende Erfolg des Blattes und die begeisterten Leserbriefe überzeugten Rudolf Mosse. Im Berliner Tageblatt schrieben u.a. Alfred Kerr, Rudolf Olden, Ernst Feder, Erich Dombrowski, Paul Scheffer, Fred Hildenbrandt, Victor Auburtin, Kurt Tucholsky, Joseph Roth und Alfred Einstein.

Als »Vaterlandsverräter« beschimpft

In der Wilhelminischen Gesellschaft existierte zwar ein latenter Antisemitismus, doch trafen seine punktuellen vulgär-radikalen Ausprägungen keineswegs auf eine allgemeine Zustimmung. Alle Juden, seien sie nun weitgehend assimilierte, getaufte oder überzeugte, nutzten die Freiräume, die ihnen die Rechtsstaatlichkeit sicherte. Die Öffentlichkeit, eine weitgehend freie Presse und die sich daraus entwickelnden machtbegrenzenden Wirkungen des »öffentlichen Druckes« erlaubten eine relativ freimütige politische Kritik und gestatteten die Suche nach neuen Orientierungen. Zu keiner Zeit war Theodor Wolff, der gebildete, selbstsichere und gewandte Jude, in seinen politischen, kulturellen und sozialen Kommentaren unumstritten. Den Künsten gegenüber aufgeschlossen, reich an Auslandserfahrung und parteipolitisch unabhängig, formulierte er seine Ansichten über eine selbstbewußter zu vertretende Politik viel zu entschieden, als daß er nicht im Tagesstreit ein bevorzugtes Feindbild abgegeben hätte. Den meisten Völkischen war er allein schon seines mosaischen Glaubens wegen ein hassenswerter »typischer Vertreter der jüdisch-börsianischen Journaille«. Ein paar Jahre später setzten die gefährlichen Epigonen dieser Antisemiten ihn bei ihren Strafaktionen und in ihren Straßenschlachten auf die Feme-Mord-Listen.

Die Alldeutschen schimpften ihn »Vaterlandsverräter«, weil er in seinen Leitartikeln ihre nationalistisch-imperialistischen Ziele nur allzu wirksam widerlegt hatte. Konservative Minister des Kaiserreichs verweigerten Theodor Wolff die erbetenen Interviews, obwohl der Reichskanzler ihn zur selben Zeit zu einem Exklusivgespräch eingeladen hatte. Im Ersten Weltkrieg setzten die Militärs gegen den Widerstand der Politiker einen monatelangen, weit über Deutschland hinaus registrierten und dem Deutschen Reich letztlich zum Schaden gereichenden Schreibverzicht Theodor Wolffs durch. Dagegen sah die erste Regierung der jungen Weimarer Republik Theodor Wolff als Botschafter für Paris vor, doch lehnte er das Angebot des Reichskanzlers Hermann Müller schließlich zugunsten der journalistischen Arbeit ab. Dessen politisch so unterschiedlichen Amtsnachfolger, die Reichskanzler Hans Luther, Gustav Stresemann und Kurt von Schleicher, nutzten Theodor Wolffs langjährige Kontakte zum Quai d' Orsay wiederholt für vertrauliche Missionen. 

Theodor Wolffs gesellschaftspolitisches Denken bestimmte seinen Schreibstil. Seine liberale Haltung und seine freiheitlichen Ansichten wirkten sich auf Argumentationsweise und Darstellungsform aus. Sie beeinflußten seine Wortwahl und Diktion, führten zu spezifischen Beispielen und historischen Analogien, prägten sogar Bilder und Metaphern. Den Zeitgenossen sind Theodor Wolffs Belesenheit und seine literatur- und kulturgeschichtliche Bildung am stärksten erinnerlich. In Memoiren, Tagebüchern, Autobiographien und Korrespondenzen stoßen wir auf seinen Namen oder auf Kommentare zu seinen Leitartikeln. Nahezu ausnahmslos beeindruckten der Kenntnisreichtum und die differenzierte Argumentation. Selbstverständlich schien es allen seinen Lesern, daß die ihnen mitgeteilten Fakten ausnahmslos stimmten. Die Exempla schienen nicht aus entfernten Schultagen herbeigezerrt zu sein oder aus oberflächlicher Schnellektüre zu stammen. Souverän ging Theodor Wolff mit Zitaten um. Seinen Gegnern hielt er am liebsten ihre sachlich überholten Ansichten und die von ihnen vergessenen oder verdrängten programmatischen Erklärungen vor. Im literarisch-journalistischen Gefecht freute es ihn, »auf glitschigem und abschüssigem Wege einen Halt bei einem berühmten Schriftsteller und einem guten Zitat zu finden«. Mitunter häufte er jedoch auch zu viel des Guten auf einer einzigen Titelseite an. Es ist nicht nur einmal der Stoßseufzer überliefert, daß seine Kommentare zum Zeitgeschehen mit historischen und literarischen Bildungsgütern so befrachtet gewesen seien, daß man sich bei der Lektüre der eigenen Halbbildung nur allzudeutlich bewußt werde.

Keine Scheu vor offenen Worten

Selbst literarische und kulturelle Themen behandelte Theodor Wolff in enger Beziehung zu den politischen Grundfragen, aus denen sie sich ursprünglich sachlich ergeben hatten. Im Vordergrund stand bei ihm, der nie eng parteipolitisch dachte und handelte, zumeist das Dreieck »Demokratie – Parlamentarismus –  Fortschritt«. Wenn wir heute –  nach den Erfahrungen aus der Endphase der Weimarer Republik und der nationalsozialistischen Diktatur – den damaligen Optimismus auch nicht mehr teilen können, so beeindrucken in unserer Zeit immer noch Theodor Wolffs journalistische Entschiedenheit und die Lauterkeit seines politischen Wollens. Da die Öffentlichkeit der Weimarer Republik von starken monarchistischen und ständischen Vorstellungen bestimmt war, und Theodor Wolff die deutliche Formulierung des eigentlichen Problems ebenso wie die journalistische Offensive liebte, setzte er in seinem für die Kandidatur Friedrich Eberts werbenden Porträt bei überholten feudalen Ansichten und den sich darauf gründenden aktuellen Diffamierungen an: 

»Es wäre vielleicht für Deutschland besser gewesen, hätte man einige solcher Sattlergesellen schon früher herangeholt. In keinem anderen Lande wagte man es noch, von einem Manne witzelnd zu sprechen, weil seine große Leistung nicht aus Familientradition und regelmäßig erledigter Amtsbüffelei entstand. Denjenigen fehlen Selbstbewußtsein und Kulturempfinden, die sich, neidischen und scheelsüchtigen Kasten nachplappernd, vor dem Verdienste eines, der zu ihnen gehört, nicht beugen wollen.

Das englische Parlament vom Jahre 1653 hieß ›Barabones Parlament‹, nach einem Manne, der ebenfalls ein Sattler war. Mit Stolz verzeichnen die englischen Geschichtsschreiber, daß es unter den ersten Mitgliedern des freien Parlaments und unter den besten Staatsdienern jener Aufstiegszeit Schuhflicker wie Hewson und Rolfe, Schneider wie Pemble, gewöhnliche Soldaten wie Skippon, Bedienstete wie Deane, Berners und Horton, Kesselflicker wie Fox, Krämerlehrlinge wie Salvay und Whalley gab. Allerdings, der Gerber Kleon in Athen hat in der Geschichte einen schlechten Ruf. Aber Kleon war ein nationalistischer Kriegshetzer, völkisch und athenisch-national. [...] Erst neulich hat mir ein Großindustrieller, den man nicht gerade zu den Demokraten rechnet und den seine Kreise besonders ehren, mit warmer Betonung gesagt: ›Dieser Ebert ist wundervoll!‹ Und ein Hochgestellter, der auch kein Demokrat ist, pflegte seine Meinung gern in die Worte zusammenzufassen: ›Er ist ein Herr!‹ In der Tat, Ebert, der ›Sattlergeselle‹ war ›ein Herr‹ – nicht ein Herr mit feudaler Volksverachtung, wohl aber ein Herr, der im Namen eines selbständigen Volkes auftritt und seine Autorität durchzusetzen weiß. Er hatte diese Autorität nicht in einer goldenen Wiege gefunden, er borgte sie nicht von vermoderten Ahnen, er sicherte sie sich nicht durch Theaterputz und Treffen, aber sie kam ihm aus dem unerschütterlichen Verantwortungsgefühl gegenüber dem Volke und der Republik.«

Gegen die Zensoren

Eine sprachlich und inhaltlich ungewöhnlich scharf ablehnende Position nahm Theodor Wolff im Sommer 1918 ein, als er Houston Stewart Chamberlains philosophischen Spekulationen über den »germanischen« und »semitischen« Geist und seine deutschen Nachschwätzer ironisierte. Ebensowenig wollte er Zweifel an seiner Einschätzung der geistig-kulturellen und damit auch der politischen Situation in der Weimarer Republik aufkommen lassen, als er das zeitweilige Aufführungsverbot des in den USA verfilmten Romans »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque angriff.

Die Oberzensurstelle hatte die Aufführung am 11. Dezember 1930 verboten. Vier Tage später erinnerte sich Theodor Wolff in der heftigen und politisch polarisierenden Debatte an die Zeit der Dreyfus-Auseinandersetzungen in Frankreich. Nur allzu deutlich standen ihm bei der Niederschrift seine historischen Erfahrungen vor Augen mit einem weithin gesellschaftsfähigen Antisemitismus und Rassismus, mit den Hetzkampagnen von Nationaldemagogen und mit einem, wie er meinte, schimpflichen Opportunismus liberaler Politiker. Deshalb appellierte er an die verantwortlichen Minister und Parteiführer Deutschlands, nicht mit dem Vertrauen des Volkes zu spielen. Es dürften demokratische Einstellungen und Haltungen nicht diffamiert, staatliche Institutionen nicht noch zusätzlich geschwächt und dadurch den wahren Feinden des freiheitlichen Rechtsstaates auch noch entgegen gearbeitet werden. Der historische und zitatengesättigte Rückgriff Theodor Wolffs geht dabei über Frankreich hinaus, sogar noch über das Nibelungenlied hinweg – der Film verzichte auf den hochpathetischen Recken-Ton von »Helden lobebäre« – und schließlich über die griechische Götterwelt bis hin zu Hannibal:

»Hannibal ist immer vor den Toren geblieben, weil der römische Senat die Energie zum Widerstand aufbrachte, und in Frankreich hat die Faust Waldeck-Rousseaus schließlich die nationalistischen Republikfeinde gebändigt – bei uns will man offenbar den Nationalsozialismus überwinden, indem man ihm zu der wundervollen Siegesreklame verhilft. [...] Das Verbot ist erfolgt, nachdem zwei Minister, deren Ämter, deren zuständige Mitarbeiter den Film für absolut einwandfrei erklärt hatten, zu der Einsicht gelangt sind, daß weiterer Widerstand gefährlich für ihre ministerielle Stellung sei. Selbstverständlich sagen sie, sie hätten den Film erst jetzt kennengelernt und hätten sich nun nachträglich, sehr opportun, von seiner Schädlichkeit und von der Blindheit ihrer Ressortbeamten überzeugt. Wir haben hier das Reichskabinett Brüning so weit unterstützt, wie das einer unabhängigen Zeitung möglich ist, und wir hätten den Wunsch, das auch weiterhin tun zu können. Erstens, weil die Persönlichkeit Brünings Anspruch auf Sympathie und Achtung hat, und zweitens weil in der Weiterexistenz dieses Kabinetts einstweilen die einzige Möglichkeit liegt, die radikale Flut wieder verebben zu lassen oder zurückzudämmen. [...] Die plötzliche und momentane Furcht, die ein achtzehnjähriger Krieger bei der ersten Begegnung mit dem Sperrfeuer empfindet, schädigt das Ansehen Deutschlands nicht. Aber das Ansehen Deutschlands und das Ansehen der Regierung werden sehr geschädigt, wenn die vollen Hosen Ministerhosen sind.«

»... So schwebt über jeder Wahrheit noch ein letztes Vielleicht«

Theodor Wolff bevorzugte in seiner Sprache das Florett, nicht den Säbel. Er bediente sich lieber der Ironie und des enthüllenden Zitats als der schwerfälligeren Darlegung von Argumentationsketten. Er wollte seine Leser zum Nachdenken anregen und lehnte es ab, sie mit Bewertungen und Urteilen zu bedrängen. Ein Grundton der Skepsis läßt sich in den Leitartikeln der späten Weimarer Jahre und in seinem literarischen Werk nicht überhören. Doch trat nicht einmal im Exil Resignation an die Stelle seiner letztlich doch optimistischen Grundhaltung. Diese Einstellung bestimmte eine Erfahrung, die Theodor Wolff in einem seiner historischen Berichte erläutert: »Man kann selbst die Menschen nicht mit der endgültigen Gewissheit erforschen, mit der ein wirklicher Historiker die Geschichte eines vor dreitausend Jahren beigesetzten Pharaonen verfasst. [...] So schwebt über jeder Wahrheit noch ein letztes Vielleicht.« Kann man auf der Suche nach »Wahrheit« weiter gelangen? Einer seiner Kritiker auf dem linken Flügel des politischen Spektrums, der Publizist Kurt Hiller, hat in seinem Nachruf auf Theodor Wolff dessen Streben nach Genauigkeit im Faktischen und nach Wahrhaftigkeit in Darstellung und Argumentation anerkennend hervorgehoben, indem er feststellte, er kenne keinen Journalisten, »der wahrheitsliebender« gewesen wäre. 

Theodor Wolff dürfte es nicht überrascht haben, daß der Titel eines seiner Bücher »Vollendete Tatsachen« wiederholt zur Kennzeichnung seiner Einstellung bemüht wurde. Seine »Sprache der Tatsachen« verdichtete sich leitmotivisch und konnte schließlich sogar sprichwörtlich werden. Die von ihm noch während des Krieges 1914/18 vorgelegte Sammlung seiner unter den Bedingungen von Zensur und Presselenkungen entstandenen Artikel stehen ebenfalls zu Recht unter diesem Signum »Vollendete Tatsachen«. Die Erfordernisse der Situation habe der Journalist zu erkennen und angemessen sachlich zu beschreiben, sein prüfender Blick müsse sich auf die Voraussetzungen, die bestimmenden Faktoren und verantwortlichen Personen richten. Für Wunschvorstellungen gebe es im politischen Journalismus so gut wie keinen Platz. Träume, Visionen und Harmonisierungen aller Art seien höchstens für das Feuilleton brauchbar, denn außerhalb dieses Ressorts gelte es, sich den »fertigen Tatsachen« zu stellen.

Auf diese Haltung gründe sich die Glaubwürdigkeit eines Journalisten. Ein Artikel wirke nur dann nachdrücklich, wenn er dem Leser den Eindruck vermittle, der Schreiber vermöge für das, was er spreche, mit voller Sicherheit einzustehen. Deshalb gehöre zur Überzeugungsmacht eines Zeitungsartikels nicht nur seine formale Korrektheit und ein gewisser Abwechslungsreichtum, sondern auch eine ehrlich-schlichte Schmucklosigkeit.

Eine Einheit aus Eigenwilligen und Eigenartigen bilden

Theodor Wolff hat sich nie gedrängt gefühlt, sein journalistisches Tun einmal systematisch und mit methodologischem Anspruch darzustellen oder sein Schreiben in der Öffentlichkeit zu reflektieren. Selbst als Willy Haas ihn aufforderte, für die »Literarische Welt« im Kreis von weiteren Chefredakteuren einmal über das »Zeitungsmachen« zu berichten, hat er sich nur widerwillig dazu bereit erklärt, einige allgemeine Gedanken niederzuschreiben. Sie handeln das eigentliche Thema kurz ab, um sich ausführlicher mit der »Organisation der Geister« auseinanderzusetzen, denn das Ideal bestehe darin, erklärte Theodor Wolff, verschiedene Individualitäten um sich zu versammeln, Nivellierung zu vermeiden, allen die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit in ihrer Redaktion zu ermöglichen und »aus all den Eigenwilligen und Eigenartigen eine Einheit zu bilden«. Dieser Haltung müsse jeglicher Versuch widerstreben, alle Mitarbeiter auf einen Stil und das Blatt damit auf einen Jargon zu trimmen. Theodor Wolff vermutete nicht zu Unrecht, daß solche qualvolle Manier lediglich geeignet sei, Gedankendürre zu verbergen. 

Andererseits kannte er die schwierige Aufgabe des Journalisten, im täglichen Kampf um Beachtung und Erfolg originell, farbig und eindrucksvoll sein zu müssen. Seichter sprachlicher Manierismus konnte für ihn jedoch ebensowenig eine Lösung des Problems sein, wie das Hineinwuchern der schreienden Rhetorik aus den Überschriften in die Texte. »Es empfiehlt sich«, mutmaßte er in der »Literarischen Welt«, »in einer Zeitung Schweres und Nüchternes gefällig vorzutragen, wenn man hurtig vorbeieilende, zerstreute Leser für eine Idee gewinnen will. Aber fürchterlich ist die wässrige, plätschernde Anmut gewisser Plauderkünstler, und an die Wand der Redaktionszimmer sollte man das Goethesche Wort schreiben, daß ›getretener Quark breit wird, nicht stark‹.«

Theodor Wolff fand seine Vorbilder für einen angemessenen journalistischen Stil zwar sowohl in der deutschen Klassik wie in der Gegenwartspublizistik, doch sah er sie in ungleich größerer Anzahl unter den Franzosen. Er nennt ausdrücklich Anatole France, Emile Zola, Georges Clemenceau und Stendal mit seinen »petits faits«, Goethe, Kleist, den Fürsten von Bülow, Gustav Freytag und Victor Auburtin. Anatole France bewunderte er außerordentlich, denn dieses Sprachgenie arbeite behutsam wie ein Diamantschleifer und überlasse beim Niederschreiben nichts dem Zufall. Theodor Wolffs Urteil über den Politiker Clemenceau schwankte erheblich, allein seine Bewunderung für den Journalisten und Redner blieb bestehen, denn Clemenceau besitze eine Reihe von Eigenschaften, die urfranzösisch seien: »den blendenden Witz, die schneidende Ironie, den verblüffenden Elan, die künstlerische und gesellschaftliche Verfeinerung, das kalte Feuer und die rastlose, sprudelnde Lebendigkeit«. Er sei einer der geistreichen und blendendsten Redner. In der parlamentarischen Debatte brilliere er als geschicktester und als fortreißendster unter seinen Kollegen. Der klare Fluß seiner Sprache, den amüsanten Wechsel seiner Einfälle, die »frische Verve« seiner Angriffe und nicht zuletzt die logische Schärfe seiner Beweisführung gestatteten es, ihn den größten polemischen Journalisten unserer Tage zu nennen. 

Im Weltkrieg 1914/18 hatte Theodor Wolff den annexionistischen Kurs der Reichsregierungen kritisiert. Die Schwert-Rhetorik Wilhelms II. und die Phrasen der zahlreichen literarischen »Schreibtisch-Helden« ließen ihn sogar einmal über den Sinn internationaler Journalistenschulen nachdenken. Doch letztlich hielt er von dergleichen Unternehmungen nicht viel. Er setzte auf die Kraft des Phantasiereichtums sowie auf die Unkonventionalität des Talents und dessen Willen zum Ausharren. Denn auch auf das Genie warte nicht die Sternstunde. Sie müsse vorbereitet werden. Wer die Zweifler besiegen und die Lauen gewinnen wolle, der benötige einen kräftigen und langen Atem. Eine Melodie müsse oftmals vorgetragen werden; variationsreich und so ausdauernd, bis sich das Ohr an den neuen Ton gewöhnt habe.

Gründung der »Deutschen Demokratischen Partei«

Selbst in der praktischen Politik schlug Theodor Wolff einen ähnlichen Weg ein. Doch zeigte er auf diesem ihm weniger vertrauten Parkett nicht eine vergleichbare Kraft und eine ähnliche Ausdauer. Er gründete in der politischen Euphorie des Novembers 1918 zusammen mit Alfred Weber und Otto Fischbeck die »Deutsche Demokratische Partei«, kritisierte in den folgenden Monaten die Räteherrschaft und die Annahme des Versailler Vertrags und griff später sogar noch mit zwei anspruchsvollen Büchern in die Debatte über die Kriegsschuldfrage ein. Doch bereits nach einem Jahr praktischer Erfahrung mit dem Parteileben »leidend unter Fraktionszwang, organisatorischen Schwerfälligkeiten und einem verblassenden konzeptionellen Profil« zog sich Theodor Wolff sukzessive auf seine redaktionelle Arbeit zurück. 1926 trat er schließlich wegen eines fundamentalen Dissenses mit seinen liberalen Parteifreunden in der Kulturpolitik (sog. Schmutz- und Schundgesetz) aus der Partei aus.

Diesen Schritt registrierte die Öffentlichkeit ebenso aufmerksam wie seine entschiedene publizistische Unterstützung der Politik des Außenministers Gustav Stresemann und seine zu Beginn der dreißiger Jahre wiederholten Aufforderungen an die Demokraten, sie sollten die Voraussetzungen für eine gemeinsame Front gegen KPD und NSDAP schaffen. Er hatte erkannt, daß die Gemäßigten, die Liberalen, traditionell die Kräfte des Ausgleichs und der Konfliktminimierung, langfristig keinen Rückhalt im parlamentarischen und öffentlichen Leben mehr fänden, wenn den Extremisten aus Schwäche ein zu großer Bewegungsraum zugebilligt würde. 

Antisemitismus und »Judenfrage« bildeten für Theodor Wolff keine bedeutenden Themen. Im November 1923 hatte bereits sein Name auf den Mordlisten der rechtsradikalen Verbände und der Nationalsozialisten gestanden. Keine geschliffene Phrase, keine dunstige Ideologie, schrieb er damals, könne darüber hinwegtäuschen, daß die Nationalsozialisten mit ihrem Geschrei nach umstürzender Gewalt, mit der Rassenverhetzung und der Roheit lediglich gemeine Pöbeltriebe aufreizten und zu Verbrechen trieben. »Würde man eine Untersuchung vornehmen können, so würde man unter den von alten Weibern verhätschelten und von ungebildeten Großindustriellen protegierten Wanderpropheten des Nationalismus nicht wenige pathologisch interessante Gehirne feststellen. [...] Die Benebelten, die mit Theorien nichts anzufangen wissen, greifen zum praktischen Revolver und schießen los.«

Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft

Erst im Exil und dabei vor allem in seinem Manuskript »Die Juden« hat Theodor Wolff sich gründlicher mit dem Judentum, dem Antijudaismus und mit dem Antisemitismus der Nationalsozialisten auseinandergesetzt. Er tat es im vollen Bewußtsein der quälenden Ungewißheit über sein eigenes späteres Schicksal in einer sich unaufhaltsam verschlechternden Exilsituation, in nur geringer Kenntnis der nationalsozialistischen Mordtaten – von einem systematisch betriebenen Massenmord an den Juden ahnte er nichts – und auch nur unvollständig informiert über die Mitwirkung der französischen Sicherheitskräfte an den Verfolgungen in seiner unmittelbaren Umgebung.

Alles, was er in Nizza über Kollaboration der französischen Exekutive mit der Gestapo erfuhr und erlebte, mußte ihn noch tiefer enttäuschen als das Verhalten der Italiener. In dem Vichy-Frankreich wollte er, nachdem seine Anfang der vierziger Jahre halbherzig erfolgten Ausreisepläne gescheitert waren, eine zwar schwache, doch prinzipiell nicht unzuverlässige Bastion der Freiheit sehen. Deshalb stößt man in seinen Ausführungen über »Die Juden« auf eine heute sprachlich-inhaltlich irritierend wirkende Zurückhaltung im Urteil über die Verfolger. Mit der breiten Masse der geflüchteten Juden verband den geachteten, gebildeten und zeitlebens um Assimilation bemühten Theodor Wolff wenig.

Über ostjüdische Emigranten vermochte er sich, wie zahlreiche andere deutsche Juden, keineswegs freundlich, ja in geradezu abschätziger Überheblichkeit zu äußern. Theodor Wolff hat so gut wie nie eine Synagoge besucht, erzählte sein Sohn Rudolf, dennoch habe er seinen Glauben nicht verleugnet. »Ich verstehe, daß Menschen, die immer herumgestoßen und aus ihrem Boden gerissen werden, eine Heimat brauchen, in der sie sich verwurzelt fühlen. [...] Wenn hinter den Fenstern einer benachbarten Wohnung ein frommes Ehepaar die Sabbathlichter anzündet, so sind das zwar nicht meine Kerzen, aber ihr Licht ist warm.«

Endphase der Weimarer Republik

In der Endphase der Weimarer Republik sah er die größte Gefahr für die Demokratie von den Nationalsozialisten ausgehen und empfahl deshalb zum Entsetzen seiner liberalen Parteifreunde öffentlich, in dieser Ausnahmesituation nicht die rechtsliberale Splitterpartei, die neu gegründete Deutsche Staatspartei, sondern die SPD zu wählen. Darin drückte sich kein politischer Kurswechsel aus, sondern lediglich politischer Pragmatismus. Die letzten Leitartikel beschworen wie zuvor nachdrücklich freiheitliche, politische Ideale und zeichneten ein düsteres Szenarium rechts- und linksradikaler Politik. Denn es sei schließlich ein geringer Unterschied, ob »statt des rechten Fußes der linke auf dem Nacken der Demokratie« stehe.

Theodor Wolff mußte nach dem Reichstagsbrand (27./28. Februar 1933) unter Lebensgefahr aus Berlin fliehen. Zwei Wochen später verbrannten die Nationalsozialisten seine Bücher. Ihr »Feuerspruch« lautete: »Gegen volksfremden Journalismus demokratisch-jüdischer Prägung, für verantwortungsbewußte Mitarbeit am Werk des nationalen Aufbaus! Ich übergebe der Flamme die Schriften von Theodor Wolff [...]«. Am 27. Oktober 1937 erkannte ihm das nationalsozialistische Regime offiziell die deutsche Staatsbürgerschaft ab. Im Frühjahr 1933 war er zuerst nach Österreich geflohen, dann in die Schweiz. Doch die eidgenössischen Behörden hatten ihm den erhofften Schutz verweigert und ihm lediglich ein Visum für einen Kurzaufenthalt ausgestellt. Schließlich fand Theodor Wolff in seinem geliebten Frankreich einen Exilort.

Im Exil in Nizza

In Nizza lebte er sich unter relativ günstigen Umständen schnell ein, verfaßte literarische und historische Werke, setzte sein Tagebuch fort und schrieb Teile seiner Erinnerungen nieder. »Anfangs kaufte er sich am Kiosk beim Casino de la Jetée [in Nizza]«, erzählte Egon Erwin Kisch in seinem mexikanischen Exil über Theodor Wolff, »gelegentlich das Berliner Tageblatt und schüttelte fassungslos den Kopf über den Tiefstand, der an der einst von ihm verwalteten Stelle Platz gegriffen. ›Nach dem 30. Juni 1934‹, so erzählte er dem Schreiber dieser Zeilen, ›kaufte ich mir das Blatt sogar aus Interesse‹; ich wollte sehen, was die Bürschchen über die Ermordung von Röhm sagten, dem sie immerfort ganz besonders Weihrauch gestreut, ihn, wenn auch in versteckter Form, über Hitler gestellt hatten. Da sah ich über die vier Spalten die ersten Seiten mit den größten Lettern die Überschrift: ›Durchgegriffen!‹ Seither habe ich das Berliner Tageblatt nie mehr in die Hand genommen.« 

Die autobiographischen Berichte über das Kaiserreich und die Weimarer Republik erschienen 1936 unter dem Titel »Der Marsch durch zwei Jahrzehnte« im Verlag Allert de Lange; im selben Jahr gab es eine englische und 1937 eine französische Übersetzung. An den publizistischen Fernkämpfen gegen den Nationalsozialismus beteiligte er sich prinzipiell nicht. Mit Erich Kästner teilte er die Meinung, ein Schneeball lasse sich aufhalten, nicht jedoch eine Lawine. In der Zeit der Demokratie und Freiheit hatte er seine politische und gesellschaftliche Aufgabe als politischer Mensch und Journalist gesehen. Ein autoritäres oder totalitäres Regime funktionierte nach Prinzipien, die sich auch auf die Presse verhängnisvoll auswirkten. In einer bislang unveröffentlichten Aufzeichnung aus dem Exil heißt es dazu:

»In keinem autoritär geleiteten Lande kann die Presse handelnde Person sein, immer ist sie nur der begleitende Chor. Und auch nicht der antike Chor, der Chor des Ödipus, der nach freiem Ermessen lobsingend oder beschwörend seine Stimme erhob. Das gehört zu den Lebensnotwendigkeiten des Systems, der autoritäre Staat könnte nicht anders bestehen. Aber eine Abweichung vom ursprünglichen Prinzip ist es, wenn unter dem bolschewistischen Regime innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft die Diskussionsfreiheit, das Recht auf Kritik abgeschafft worden ist. ,Diktatur des Proletariats' war ein ziemlich enger Begriff, aber es kann innerhalb dieser verengerten Welt, diese Welt der Masse, noch etwas wie eine öffentliche Meinung geben, gewissermaßen sogar einen für diese proletarische Masse reservierten Rest von Demokratie. Der ›Führergedanke‹, in einer persönlichen Diktatur verwirklicht, stand nicht im Testament Lenins. Es leuchtet ein, daß eine exakt dirigierte Presse die Regierungsarbeit erleichtert, oder doch zumindest nicht behindern kann. Die Politik kann sich wie auf einer eingezäunten einseitigen Autostraße bewegen, kein Huhn, keine Gans laufen im unpassenden Moment über den Weg. Aber neben den Vorteilen der scharfen Reglementierung stellen sich auch einige Nachteile ein. Das Ausland verzeichnet die Äußerungen einer solchen ›öffentlichen Meinung‹ mit Vorbehalt, es vermag aus ihnen eine wirkliche Volksstimmung nicht heraus zulesen, es sieht nur das Wunder der Disziplin. Sodann –  die Bremsvorrichtungen, die aus der Existenz der Parteien, aus der Verschiedenheit der Ansichten, aus der Möglichkeit der Kritik sich ergeben, sind fortgenommen. Wie die Beine der riesenhaften Massenarmee marschieren alle gedruckten Worte in der gleichen Richtung und zum gleichen Ziel. Es ist ein allgemeines Vorwärtsdrängen, und ein Zurück ist ein Manöver, das sich nur unter einem sehr geschickten Kommando glatt ausführen läßt. ›Dynamik‹ ist eines jener Modeworte, die irgendwo auftauchen und die dann sehr bald auf jeder literarischen Suppe schwimmen. Es ist mit einer übertriebenen, nicht vorsichtig gelenkten Dynamik wie mit der Tanzleidenschaft jenes Fräuleins, das nicht aufhören konnte, herumzuwirbeln, und tanzend in die Hölle geriet.«

In den Tod getrieben

Am Vormittag des 23. Mai 1943 verhafteten die nach Südfrankreich, in den Vichy-Staat vordringenden Italiener Theodor Wolff im Auftrag der Gestapo und lieferten ihn seinen Widersachern aus. In kurzer Zeit trieben jene den geschwächten alten Mann in Krankheit und Tod. Er starb am 23. September 1943 nach einer zu spät gestatteten Operation im Jüdischen Krankenhaus in Berlin. Sein Grab findet sich heute in der Ehrenreihe des dortigen Friedhofs. Der ehemalige Blumenmarkt in der Nähe des alten Berliner Zeitungsviertels trägt seit 1988 den Namen Theodor-Wolff-Park; eine Schautafel präsentiert dort ausgewählte Leitartikel im jährlichen Wechsel.